Rasche Szenenwechsel

Antonio Fians zweiter Roman „Das Polykrates-Syndrom“ irritiert

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal gibt ja ein Buchcover schon recht viel vom Inhalt des unter ihm verpackten Textes preis. Im Fall von Antonio Fans zweitem Roman, der im Feuilleton bereits als sein „opus magnum“ gepriesen wurde, sehen wir das starr uns anblickende Gesicht einer Frau, die erschrocken-nachdenklich eine Hand vor ihren Mund hält. Gesicht und Hand sind verschmiert. Schwarz und Rot sind die Farben, nur der Titel „Das Polykrates-Syndrom“ gaukelt in einem zarten Grün Leichtigkeit vor.

Es geht um eine Dreiecksgeschichte, die im Wien der 1990er-Jahre des letzten Jahrhunderts spielt. Ein kinderloses Ehepaar, die Frau ist Lehrerin an einem Gymnasium, die den Posten der Direktorin anstrebt; der Mann ausgebildeter Historiker, der halbtags in einem Copy-Shop jobt, Nachhilfestunden gibt und Sketche schreibt, für die sich niemand außer einem deutschen TV-Sender interessiert zeigt.

Rita und Artur sind ein Paar: „Seit acht Jahren. Keine Scheidung in Sicht.“ Da wird Artur, der als Ich-Erzähler dieser Geschichte, die es auf die Longlist des deutschen Buchpreises 2014 geschafft hat, im Copy-Shop von einer jungen Frau angelächelt und reagiert: „Nun ja, ich lächelte zurück, was hätte ich sonst tun sollen”. So tritt Alice in den Roman und bringt alles durcheinander. Es wird turbulent, bürgerlicher Alltag und was die US-Amerikaner White Trash nennen, Sehnsucht nach Leben und kriminelle Energie vermischen sich immer mehr, bis alles wie in einem Splatter Movie endet.

Antonio Fian schreibt seit mehr als 25 Jahren regelmäßig Dramolette, kurze Minidramen, die er in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ aber auch in Buchform publiziert. In einem Interview mit Christine Dobretsberger nennt er „Nestroy, Kraus, auch Qualtinger und Bernhard“, die man nicht ignorieren könne, „wenn man in Österreich Satire schreibt“. Fian äußert in diesem Gespräch auch seinen Wunsch, dass seine Dramolette nach seinem Tod unter dem Titel „Bilder des Friedens” erscheinen. Wie Karl Kraus in seinem Panorama „Die letzten Tagen der Menschheit” die menschliche Abgründe in Zeiten des Krieges zeigt, wird diesen Abgründen von Fian in Zeiten des Friedens nachgegangen. Sie werden in „Das Polykrates-Syndrom“ so deutlich sichtbar, dass es manchem Leser bereits als zu plakativ erscheinen könnte.

Artur, der Ich-Erzähler, schreibt also wie Antonio Fian Sketche. Dementsprechend ist der Roman durch eine durchwegs dramatische Schreibweise gekennzeichnet. Flotte Dialoge, rasche Szenenwechsel, klar gezeichnete Schauplätze bedingen ein Lesevergnügen, das nur dann getrübt ist, wenn Leserin oder Leser mit Romanen wie „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“ von Horace McCoy oder den Filmen Quentin Tarantinos oder Hershell Gordon Lewis gar nichts anfangen kann.

In Fians Gedichtband „Das fertige Leben“ steht das Gedicht „Die guten Eltern“: „Es geht uns allen / viel zu gut. / Die Kinder sollen‘s / einmal besser haben.“ Der Vierzeiler enthält jene Drohung, mit der der am Polykrates-Syndrom Leidende ständig rechnet. Polykrates hat man „so grausam umgebracht, dass selbst Herodot das nicht näher beschreiben wollte. Als Polykrates-Kranker hat man dieses Schicksal immer im Kopf, man befürchtet zuviel Glück zu haben und irgendwann dafür bestraft zu werden“. Wer im Roman bestraft wird, sei nicht verraten, doch bedingt der Rückschluss, dass es sich dabei um die Person gehandelt haben muss, die das meiste Glück gehabt hat, doch einen gewissen Überraschungseffekt.

Antonio Fian ist wie jeder Satiriker im Herzen ein Moralist. Sein Urteil trifft eine Stadt und ihre Menschen. Dass es sich dabei um Wien handelt, hat weniger mit der besonderen Verwerflichkeit Wiens und seiner Einwohner zu tun, als vielmehr damit, dass der Autor diese Stadt und ihre Mentalität souverän handzuhaben versteht. Es wäre bei diesem Buch ein Kurzschluss, es als ein weiteres Wienbuch zu lesen, wie es ein solcher ist, Bernhards Österreich-Beschimpfungen als lokale Merkwürdigkeiten wahrzunehmen.

Im Übrigen gibt es neben der Dreiecksgeschichte zwischen Rita, Artur und Alice eine weitere. Die Geschichte des „Muttermasochisten” Artur mit seiner im Altersheim lebenden Mutter, einer ehemaligen Lehrerin. Das Schulmilieu eignet sich offenbar besonders gut, die dunklen Seiten des Menschlichen auf ironisch-witzige Weise ans Licht zu bringen. Jedenfalls erscheint dieser Strang der Erzählung – freilich ebenso eine Kriminalgeschichte – vermutlich den meisten etwas lebensnäher als die noch groteskere Dreiecksgeschichte.

Der Roman ist schräg und irritierend. Aber Fian gelingt es intelligent und witzig das zu entlarven, was es vielleicht nie gegeben hat – das schöne Leben. Es handelt sich dabei um eine Erzählung, die eine großartige Vorlage für einen Film abgäbe, der Antonio Fians vordergründig banale Verse wunderbar illustrieren würde: „Nach manchen Träumen sind wir froh zu leben. / Aus andern wärn wir gern nicht aufgewacht.“

Titelbild

Antonio Fian: Das Polykrates-Syndrom. Roman.
Literaturverlag Droschl, Graz 2014.
240 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783854209508

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