Eine Achse des Krieges

Jean Jacques Becker und Gerd Krumeich führen in „Der große Krieg“ Erkenntnisse zur Geschichte des Ersten Weltkrieges in Deutschland und Frankreich vergleichend zusammen

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein französischer Historiker, Jean-Jacques Becker, und ein deutscher Historiker, Gerd Krumeich, beide ausgewiesene Fachleute im Themenbereich Erster Weltkrieg, legen eine Darstellung des Ersten Weltkriegs vor, die, so vermeldet euphorisch der Klappentext, es „nun endlich“ erlaubt, den Ersten Weltkrieg „jenseits der oft üblichen nationalen Stereotype auf „transnationale“ Weise zu verstehen“. Deshalb erscheint ihr gemeinsames Buch „Der große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914-1918“ in beiden Ländern. Angesichts solcher etwas überladen anmutender Symbolik sind die Autoren zurückhaltender. Da ist im Vorwort ‚nur‘ von gegenseitigem Lernen und Verstehen die Rede und den LeserInnen wünscht man schlicht, sie mögen „durch diese Darstellung des Ersten Weltkrieges die Erkenntnisse gewinnen […], die sie sich erhofften, als sie dieses Buch aufgeschlagen haben.“

Angemessen, denn als deutsch-französisches Projekt muss sich eine Darstellung des Ersten Weltkrieges heute zum Glück nicht mehr preisen. Die ‚Erbfeindschaft‘ zwischen beiden Ländern ist Vergangenheit und eher muss man befürchten, dass ein deutsch-französisches Gemeinschaftsprojekt dieser Art am Ende doch wieder mit einem deutsch-französischen Klischee spielt, das die komplexen europäischen Zusammenhänge zum Verständnis des Krieges auf eine deutsch-französische Auseinandersetzung reduziert.

Zu diesen europäischen Zusammenhängen gehört natürlich auch die Rivalität der beiden Nachbarländer. Sie wurde in Deutschland vor allem von der Sorge vor einem französischen Revanchismus geprägt. Ein solcher kriegstreibender Revanchismus war aber, so führen die Autoren aus, tatsächlich in Frankreich nur eine Marginalie. Ein „Neo-Nationalismus“, in den ein aus der Niederlage von 1870/1871 und dem damit verbundenen Verlust von Elsass-Lothringen gespeister Revanchismus hätte eingebettet sein können, blieb in der französischen Politik eine „Minderheitenbewegung“. In „ihrer überwältigenden Mehrheit waren die Franzosen schlicht überzeugte Patrioten. Ihr Patriotismus war jedoch nicht aggressiv, keinesfalls revanchistisch geprägt“. In diesem patriotischen Sinne war freilich die Wiedererlangung Elsass-Lothringens ein Ziel französischer Politik – allerdings nicht unbedingt durch Krieg zu erreichen.

Dagegen machte man sich in Deutschland ein eigenes Bild vom angeblichen französischen Revanchismus. Die imaginierte Bedrohung wurde Begründung und Motiv für die eigene Politik: die Franzosen, so die Logik, können ja nur revanchistisch sein, angesichts dessen was sie durch uns erlitten haben und wollen also ‚unser‘ Elsass-Lothringen zurück. Nicht untypisch für die deutsche Politik der Vorkriegszeit, die weniger durch selbstbewusste professionelle Strategie als vielmehr von Minderwertigkeitskomplexen und dilettantischem Aktionismus geprägt war. Diese Haltung förderte zudem einen „fatalistischen Pessimismus“ in Deutschland – man sah sich umzingelt von feindlichen Kräften, die nur auf die günstige Gelegenheit warteten, um Deutschland anzugreifen.

Als schließlich der Krieg ausgebrochen war und die auf Schlieffens Plänen beruhende deutsche Strategie zum schnellen Sieg über Frankreich gescheitert war, wurde der Kriegszustand in beiden Ländern zu einer gesellschaftlich-politischen Herausforderung. In Frankreich, wo man sich als das „Opfer eine zutiefst ungerechtfertigten deutschen Aggression“ sah, wurde die „Union sacré“ zum Symbol der geeinten, sich dem Aggressor erwehrenden Nation. In Deutschland, wo der Kaiser eben noch in pathetischer Geste ausgerufen hatte, er kenne nunmehr keine Parteien mehr, wurde ein „Burgfrieden“ ausgerufen – ein Waffenstillstand zwischen den politischen Parteien innerhalb der von zahlreichen Feinden umzingelten Burg.

Dieser Burgfrieden freilich, so führen die Autoren aus, musste in Deutschland immer neu verhandelt werden. Ein Mittel zum Erhalt des Burgfriedens war die Kriegszielbestimmung. In immer neuen „Denkschriften“ wurden immer mehr ausufernde „annexionistische Wunschlisten“ erstellt, die vordringlich auch den Zweck hatten, die Öffentlichkeit bei der Stange halten und dem Krieg ‚Sinn‘ zu geben. Das „Septemberprogramm“, in dem der Reichskanzler Bethmann-Hollweg im September 1914 die Kriegsziele des Reiches benannt hatte, wurde in der Forschung als ein Schlüsseldokument der deutschen Kriegszielpolitik benannt. Diese Einschätzung relativieren die Autoren: in erster Linie habe dem Dokument „eine innenpolitische Notwendigkeit“ zu Grunde gelegen, „nämlich den Erhalt des Burgfriedens“ zu wahren. Es sei also weniger der Ausdruck eines fertigen strategischen Kriegszielplans gewesen.

Auf französischer Seite sah es einfacher aus: Oberstes Ziel war es, den Aggressor aus dem Land zu vertreiben und dabei Elsass-Lothringen wieder zu gewinnen. Kompromisse, wie etwa eine Neutralisierung des Gebietes, die als Verhandlungsoptionen hätten dienen können, wurden in Frankreich rigoros als „deutsche Falle“ abgelehnt. Warum? „Dieser Krieg“, so schreiben die Autoren, „trug […] für die Franzosen eine sehr viel größere Unversöhnlichkeit in sich als für die Deutschen, was eine Diskussion über Kompromisse in Frankreich unmöglich machte“.

Der Band führt weitere vergleichende Betrachtungen zur „Kriegskultur“ in Deutschland und Frankreich, zu den Lebensbedingungen der Bevölkerung an den „Heimatfronten“ und zu den Auswirkungen des Kriegs auf Wirtschaft und Industrie durch. Deutlich wird, dass in beiden Ländern eine hohe Bereitschaft bestand, diesen Krieg fortzuführen. Dabei halfen die jeweiligen Selbstbilder: in Frankreich sah man sich als Opfer einer ungerechtfertigten Aggression; in Deutschland sah man sich in gerechtfertigter Notwehr gegen einen umzingelnden Feind handelnd. Während dies freilich der Union sacré dauerhafte Stabilität verschaffte, bröckelte der Burgfrieden in Deutschland. Immer deutlicher wurde, dass die Oberste Heeresleitung ihren eigenen Krieg führte abseits der zivilen Instanzen der Politik.

Öfters bleibt der Text ein wenig unbestimmt in seinen Bewertungen, wenn er nach Zwar-Aber-Art argumentiert. So zum Beispiel bei der Bewertung der Juli-Krise 1914: zwar sei die deutsche diplomatische Strategie „ebenso komplex wie hochriskant“ gewesen, daraus könne aber „nicht zwingend geschlossen werden“, dass Deutschland den Krieg habe provozieren wollen. Solche  Stellen erwecken zuweilen den Wunsch, der Text möge dort eine neuerliche Überarbeitung erfahren.

Kein Bild

Jean-Jacques Becker / Gerd Krumeich: Der große Krieg. Deutschland und Frankreich 1914-1918.
Aus dem Französischen von Marcel Küsters und Peter Böttner mit Unterstützung von Yann Schnee.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2010.
354 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783837501711

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