Die Widersprüche der Zeit

Regina Scheer erzählt in ihrem Romandebüt „Machandel“ von den Irrungen und Wirrungen des 20. Jahrhunderts

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit den beiden DDR-Romanen von Uwe Tellkamp und Eugen Ruge – „Der Turm“ (2008) und „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (2011) – sind 18 beziehungsweise 21 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung zwei alles in allem höchst unterschiedliche, poetische Großversuche unternommen worden, dem ‚Phänomen DDR‘ auf den Grund zu gehen. Beides sind auf den ersten Blick Familienromane. Sie unterscheiden sich allerdings in ihrer Herangehensweise an eine Wirklichkeit, die 1990 zu existieren aufgehört hat. Bringt Tellkamp alles, was für ihn DDR war, in einem Dresden unter, das teils real, teils fantastisch überhöht erscheint, entsteht bei Ruge das Gewesene historisch breiter angelegt durch die Polyphonie eines Chors verschiedener Erzählstimmen.

Beide Arten des poetischen Umgangs mit der deutschen Vergangenheit haben in jüngster Zeit Nachfolger gefunden. Der Roman „Kruso“ von Lutz Seiler, eben ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2014, erzählt von einer Utopie jenseits des realiter verkorksten Sozialismus im Osten Deutschlands. Ähnlich wie Tellkamp die Heimatstadt Dresden nutzt, um seine Archäologie des Unternehmens „Staatssozialismus“ geografisch zu verorten, wird die kleine Insel Hiddensee bei Seiler für ein paar Monate zu einer Art exterritorialem Freiheitsraum. Regina Scheers Roman „Machandel“ dagegen lässt – darin der Methode Ruges folgend – fünf Ich-Erzähler in 25 Kapiteln die Geschichte mehrerer Familien erzählen, deren Fixpunkt das fiktive mecklenburgische Dörfchen Machandel ist.

Zentralgestalt von Scheers Roman – allein 13 der 25 Kapitel werden von ihr als Erzählerin bestritten – ist Clara, die 1960 geborene Tochter von Hans und Johanna Langner. Indem sie Mitte der 1980er-Jahre das Dörfchen Machandel wiederentdeckt, in dem sich ihre Eltern 1945 kennenlernten, und mit ihrem Mann Michael und den beiden Töchtern dort ein verfallenes altes Gebäude zum Wochenend- und Feriendomizil ausbaut, beginnt sie sich auch für die Geschichte der Bewohner dieses kleinen Orts zu interessieren. Hans Langner war in den letzten Kriegswochen dem „Todesmarsch“ der Häftlinge des KZ Sachsenhausen gemeinsam mit zwei tschechischen Kameraden nach Machandel entkommen. Sterbenskrank, wird er hier von der Ostarbeiterin Natalja versteckt und trifft Johanna, die ein Flüchtlingstreck aus Königsberg in das Dörfchen geführt hat. Sie pflegt Hans gesund und wird seine Frau. 1946 kommt in Machandel Claras 14 Jahre älterer Bruder Jan zur Welt, der im Dorf bei seiner Großmutter und dem Geigenbogenbauer Arthur aufwächst, während die Eltern in Berlin in die politische Nomenklatura aufsteigen.

Rund um die Langners und deren oft steinigen Lebensweg gruppiert die Autorin Figuren, die es ihr erlauben, von bewegenden Einzelschicksalen ausgehend, tief in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einzudringen. Scheer erzählt von den großen Hoffnungen, mit denen Menschen, die sich ganz in den Dienst ihrer Partei stellten, nach 1945 antraten, um aus dem östlichen Deutschland einen Staat zu machen, der aus den Fehlern der Vergangenheit die richtigen Schlüsse zog. Und sie lässt ihre Figuren Geschichten ausgraben, die zeigen, wie schnell die Utopie von einem besseren Leben und einer gerechteren Gesellschaft, der man anfangs begeistert angehangen hatte, Risse bekam. Eine Gesellschaft, die an Überbürokratisierung litt und am Ende nur noch dogmatisch von jenen verwaltet wurde, die wirklichkeitsblind übersahen, dass das Volk, in dessen Namen sie zu sprechen und zu regieren vorgaben, sich längst auf einem ganz anderen Weg befand.

Als Doktorandin an der Humboldt-Universität beschäftigt sich Clara in den späten 1980er-Jahren mit dem niederdeutschen Märchen „Von dem Machandelboom“ aus der Sammlung der Brüder Grimm. Die Geschichte von Marleenken, die die Knochen ihres von seiner Stiefmutter getöteten Bruders sammelt und unter einem Machandelbaum vergräbt, worauf der Bruder als Vogel wiederkehrt und mit seinem Lied so lange die Wahrheit über seinen Tod verkündet, bis er gerächt wird und wieder menschliche Gestalt annehmen kann, wird ihr dabei zu einer Art Leitfaden für das eigene Leben unter dem Stichwort des Erinnerns, des Bewahrens des Gewesenen für kommende Geschlechter.

Und so gräbt sie in dem Ort, der ihr nicht zufällig den Namen jenes Baumes zu tragen scheint, der im Grimmschen Märchen zum Ort der zusammengetragenen Erinnerungen wird, immer mehr stumme Zeugen für die wechselnde Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts aus: „Als ich nach den Anweisungen des alten Wilhelm den kleinen Gemüsegarten anlegte, fand ich bei jedem Spatenstich Müllreste aus weit zurückliegenden Jahrzehnten, Stiefel ohne Sohle, zerlöcherte Kochtöpfe, zerbrochene Gurkengläser. Einer der Fußbodensteine war sogar ein Morgenstein, der erste Stein vom ersten Brand nach der Winterpause, der Morgenstein, bekam eine Verzierung. Dieser hier zeigte eine Sonne und den Abdruck einer Kinderhand.“

Ans Licht kommt dabei die tragische Geschichte des Mädchens Marlene Peters, die 1940, nach dem Tod der Mutter und weil der Vater als Wehrmachtssoldat fern der Heimat weilt, ihre sieben jüngeren Geschwister versorgen muss. Indem sie dem Stallarbeiter und Gefangenenlager-Aufseher Wilhelm Stüwe unbequem wird, zeigt dieser sie bei der Erbgesundheitsbehörde als psychisch krank an und sorgt dafür, dass sie in verschiedenen Nervenkliniken interniert und später Opfer des NS-Euthanasie-Programms wird.

Aus Mitleid wurden die Peters-Kinder immer wieder von der im nahen Machandeler Schloss als Hausangestellte arbeitenden Natalja unterstützt. Auch deren Geschichte, die in Smolensk beginnt, wo sie als Ostarbeiterin zwangsrekrutiert wird, flicht Regina Scheer in vier Kapiteln in den Roman ein. Nataljas Tochter Lena wird später, in den 1990er-Jahren, nach Berlin gehen und mit dem Historiker Herbert Ahrens zusammenleben, den der Leser als Freund von Jan Langner, Claras Bruder, in der Naumburger Kadettenschule kennenlernt, wo aus den beiden stramme Offiziere gemacht werden sollen.

Und so öffnen und schließen sich die Kreise in diesem Roman, lässt Scheer Personen aufeinandertreffen und sich verlieren, helfen und verraten, lieben und hassen. „Machandel“ besteht zu gleichen Teilen aus Erinnerungen und dem in der erzählerischen Gegenwart – den letzten 1980er-Jahren und der ersten Nachwendezeit – stattfindenden gesellschaftlichen Aufbruch in ein neues Leben. Nahezu alle Personen, die dem Leser in den der Vergangenheit gewidmeten Kapiteln begegnet sind, werden von der Autorin auch in ihrem Verhältnis zur neuen deutschen Realität unmittelbar vor, während und nach der Umbruchszeit 1989/90 beschrieben.

Es dominiert hierbei ein Ton – und er ist nicht neu in den Büchern von ostdeutschen Autoren, die sich thematisch mit der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzen –, der von anfänglicher Euphorie nach und nach in Enttäuschung umschlägt. Dass die Generation derjenigen, die nach 1945 für ein besseres Deutschland eintraten – eine Idee, der sie auch noch anhingen, als sie bereits weitgehend ruiniert war – für den nächsten Neuanfang keine Kraft mehr besitzt, zeigt Scheer, indem sie Hans Langner nach der Wende in immer tieferes Schweigen versinken lässt. Nach dem Tod seiner alkoholkranken zweiten Frau Johanna blenden seine Gedanken nach und nach die DDR-Zeit völlig aus und gehen zurück in die Tage des illegalen kommunistischen Widerstands der 1930er-Jahre, als er mit Ernst Thälmann bekannt war und seine erste Lebensgefährtin Else verlor.

Anders als ihre Eltern, die die Zeit nicht mehr verstehen und sich zurückziehen in ihre Erinnerungen, beteiligen sich die in den 1950er- und 1960er-Jahren Geborenen an den Umwälzungen, die mit der friedlichen Revolution auf den Straßen und Plätzen der DDR beginnen und anderthalb Jahre später in den Beitritt zur Bundesrepublik münden und damit Tatsachen schaffen, mit denen all jene, die sich lange für einen so genannten „dritten Weg“ stark gemacht hatten, dann nicht mehr ohne Weiteres zu sympathisieren vermögen. Der Roman lässt seine Leser diese Monate des Nicht-mehr und Noch-nicht noch einmal hautnah erleben. Er macht aber auch deutlich, dass die Zeitläufte nach dem Fall der Mauer im November 1989 schnell eine Richtung einschlugen, die die Illusionen all jener, die sich nicht ins andere Deutschland, sondern ein anderes Deutschland gewünscht hatten, schnell wirklichkeitsfremd erscheinen ließen.

Mit „Machandel“ hat Regina Scheer einen weit ausholenden Familienroman geschrieben. Sie erzählt darin von den Hoffnungen und Enttäuschungen, Träumen und Illusionen, Niederlagen und Neuanfängen dreier Generationen in einem Jahrhundert totalitärer Ideologien. Das grimmsche Märchen vom Machandelbaum liefert ihr dabei nicht nur eine Folie, auf die sich das Erinnern als Konstruktionsprinzip des Romans beziehen kann, sondern auch ein geheimes Thema für ihren Roman. Genauso wie dem Mädchen Marlene ist nämlich auch Clara der Bruder abhanden gekommen. Ihr erster Besuch in Machandel ist zugleich Jan Langners letzter gewesen – er zeigt der Familie der Schwester das Paradies seiner Kindheit, um sich gleichzeitig davon zu verabschieden. Sein Weg führt den unbestechlichen und den DDR-Machthabern schnell unbequem gewordenen Fotografen weg aus Europa – letzte Nachrichten erreichen die Familie aus Lateinamerika, wo er seine Kunst offensichtlich in den Dienst der Befreiungstheologie gestellt hat, ehe sich seine Spuren ganz verlieren.

„Alles, was geschehen kann, ist auch in Machandel geschehen“, heißt es an einer Stelle des Romans. Und tatsächlich gelingt es der Autorin auf beeindruckende Weise, in diesem kleinen mecklenburgischen Dorf die Widersprüche ihrer Zeit zu entdecken. Widersprüche, die immer wieder Menschen mobilisieren, von einer besseren Zukunft zu träumen. Selbst wenn die Vorgängergenerationen mit ihren Vorstellungen von einer anderen, gleicheren, freieren, gerechteren Gesellschaft gescheitert sind. Selbst dann oder gerade deswegen.

Titelbild

Regina Scheer: Machandel. Roman.
Knaus Verlag, München 2014.
480 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783813506402

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