Radikalverweigerung als poetologisches Programm

Maruan Paschen hat mit „Kai“ einen enttäuschenden Anti-Internatsroman geschrieben

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Junge kommt aufs Internat, muss sich zurechtfinden, erlebt sexuelle wie menschliche Konflikte, knüpft Freundschaften wie Feindschaften, ist konfrontiert mit neuen Regeln und Normen und reift dabei zu einem souveränen Subjekt heran. Soweit der prototypische Handlungsablauf dessen, was man gemeinhin als Internatsroman bezeichnet, der besonders unter männlichen Schriftstellern ein beliebtes Genre ist, das von Zeit zu Zeit aktualisiert wird. Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß, James Joyce mit seinem Porträt des Künstlers als junger Mann oder Guido Bachmanns wenig bekannter Roman Gilgamesch haben das ihrige zum Genre beigetragen.

Nun hat Maruan Paschen, Absolvent des Deutschen Literaturinstituts Leipzig und selbst ehemaliger Internatsschüler, mit seinem Buch Kai zwar keinen Internatsroman aber doch, wie die eigenwillige Textbezeichnung lautet, eine Internatsgeschichte vorgelegt, die sich auf recht unkonventionelle Art und Weise dem Genre nähert und sich daran abarbeitet, nämlich indem sie sich einer ganzen Reihe von erwartbaren Motiven und Themen einfach verweigert. Schon die Frage nach der Textsorte ist ein erstes Moment der Verweigerung, denn eine Geschichte ist nun einmal kein Roman, sie setzt andere Schwerpunkte. Sie muss nicht den großen epischen Bogen spannen, sondern kann sich ganz auf die kleinen Dinge konzentrieren, was sich auch in der formalen Anlage zeigt, die dem Leser das Geschehen in vielen kleinen Miniaturen, Notizen, Beobachtungen und Reflexionen vorführt und in denen sich eine der Wirklichkeit gegenüber leicht verschobene Wahrnehmung des namenlosen Ich-Erzählers offenbart.

Die kleinen Dinge abseits der (möglichen) großen Erzählungen sind es dann auch, die die Aufmerksamkeit des Erzählers erregen. So berichtet er etwa über die riesige Sandwichmaschine eines Mitschülers, über die Schwierigkeiten beim Aufziehen einer E-Saite auf die Gitarre, der Leser erfährt auch von den Schrittabständen zwischen verschiedenen Räumen und Objekten, oder wie die Gabe von und der Umgang mit Medikamenten sprachlich codiert ist. Neben diesen im Internat alltäglichen Vorgängen nimmt der Erzähler eine Haltung zur Welt und sich selbst ein, die man getrost und etwas euphemistisch als distanziert beschreiben kann. Nüchtern und lakonisch kommen die Beschreibungen daher, sogar dort, wo es um seelische Probleme geht.

Die Geschichte beginnt mir der Ankunft der Erzählers auf einem Schloss. Mit seiner Mutter fährt er durch eine eintönige Schneelandschaft. Bereits hier wird die Distanz und Lakonie in der Wahrnehmung sehr deutlich. Obwohl schon etwa dreizehn Jahre alt (so genau erfährt man das nicht), muss der Erzähler immer noch hinten im Auto sitzen, obwohl er sich selbst schon nicht mehr als Kind betrachtet, sondern, so jedenfalls füllt der Leser diese erste der vielen Leerstellen des Textes, als Heranwachsender. Diese Position des Dazwischen-seins, nicht mehr Kind und noch nicht Erwachsener, wird zum zentralen Moment der Geschichte. Denn auch die Regeln des Internats gewähren den Schülern kaum Entfaltungsspielräume, stattdessen gibt es Normen für die Bekleidung zu bestimmten Anlässen, eine Sitzordnung im Speisesaal und dazu noch die inoffiziellen Spielregeln zwischen den Internatsschülern: „Es gibt ein Spiel im Schloss, das ‘Sklave und Herrscher’ heißt. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.“ All das wird meist nur angerissen, nicht erzählerisch ausgeformt und so als zu füllende Leerstelle an den Leser dirigiert, der sich selbst ausmalen muss, was sich hinter den belanglos erscheinenden Beobachtungen des Erzählers verbirgt.

Halt und Zuflucht findet der Erzähler allenfalls bei Kai, mit dem er sich anfreundet, und der ihm hilft, aus dem eintönigen Alltag des Internatslebens auszubrechen. Jedoch auf seltsame Art und Weise, denn Kai wird immer wieder mit dem Erzähler in den Wald gehen, um dort an einem Loch zu graben, dessen Sinn und Zweck nie geklärt werden wird. Aber darin liegt die vielleicht einzige Bedeutung des Lochs – dass es zu nichts nutze ist. Dennoch ist das Loch nicht unwichtig, es ist – im wahrsten Sinne des Wortes – die große Leerstelle des Textes. Man kann es als das leere Zentrum der Geschichte lesen, oder als ein Symbol ohne Gehalt, oder als Parodie auf die sinnlose Sinnsuche in literarischen Texten. Kai wird im Verlauf des Textes so plötzlich und unvermutet verschwinden, wie die Freundschaft zwischen ihm und dem Erzähler entstanden war. Er wird ein Loch im Erzähler zurücklassen und man kann nur vermuten, was Kai wirklich für ihn bedeutet hat. Denn leider wird nie ganz klar, was die Freundschaft der beiden Jungen ausmacht und was das Besondere an ihr gewesen ist.

Kai ist aber auch der Junge, den man wie alle anderen Figuren der Geschichte nicht zu fassen bekommt. Und darin liegt die Ursache des Unmuts begründet, den der Text hinterlässt. Das Erzählen der kleinen Dinge und der unscheinbaren Ereignisse bedarf des Lesers, der die entstehenden Leerstellen auszufüllen vermag. Das aber gelingt bei Paschens Buch nur schwierig – und wenn, dann in Abgrenzung vom einschlägig bekannten Genre des Internatsromans, von dem sich Kai ja eben durch seine Verweigerungshaltung jedweder Bestimmbarkeit und Feststellbarkeit gegenüber abheben will. So wenig man sich mit den Figuren anfreunden kann, so wenig bleibt von der Geschichte hängen. Ob nun die verschobene Wahrnehmung des Erzählers oder die dann doch in ihrer Anlage erwartbar stereotype Zeichnung anderer Figuren oder auch die zu häufig verwendete indirekte Rede erwecken den Anschein, allzu beflissentlich der Monokultur gegenwärtiger Prosa etwas entgegenzuhalten – und sei es eben nur ein Statement eben zu jenen Konventionen in Form der Verweigerung. Das Buch ist in seiner Anlage zwar eine gelungene Verweigerung dem Internatsroman und einer bestimmten Schule des gegenwärtigen Schreibens gegenüber, aber leider auch viel zu unambitioniert und kaum fähig zu begeistern. Und das sollte ein literarischer Text immerhin leisten.

Titelbild

Maruan Paschen: Kai. Eine Internatsgeschichte.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
104 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783957571113

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