Tödliches Spiel

Ian Mortimer unternimmt eine unterhaltsame Zeitreise durch das Mittelalter

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei mittelalterlichen Fußballspielen waren Tode unter den Spielern keine Seltenheit. Kein Wunder, gab es doch keinerlei feste Regeln – keine roten oder gelben Karten, keine Abseitsregel. Fußball hatte damals mehr mit einem Handgemenge gemein als mit einem geordneten Spiel. Hunderte von Menschen konnten auf dem Platz stehen, wobei die Tore gut und gerne mehrere Kilometer voneinander entfernt sein konnten: „Wenn sich im Mittelalter Männer bei einem Fußballspiel auf dem Boden wälzen, können Sie sicher sein, dass sie ihre Verletzung nicht nur vortäuschen, um womöglich einen Elfmeter herauszuholen“, schreibt Ian Mortimer in seinem „Handbuch für Zeitreisende“. Aber nicht nur, weil es zu Verletzungen unter den Spielern kam, sondern weil beim Fußballspiel ganze Felder verwüstet und Eigentum beschädigt werden konnten, war es lange Zeit in England verboten. König Edward III., der von 1327 bis 1377 regierte, sah es deshalb lieber, wenn man sich dem Bogenschießen widmete − das war weit weniger gefährlich.

Präsentieren heutzutage begüterte arabische Scheichs mit Stolz ihre Autosammlungen, so prunkten mittelalterliche Herrscher mit ihren Falkenzuchten, die zuweilen ganze Vermögen verschlangen. Der bereits erwähnte Edward III. beschäftigte beispielsweise 40 Falkner, die sich um seine 50 bis 60 Vögel kümmerten. Und dies alles, um mit diesem kostbaren Federvieh einige wenige Male im Jahr auf Jagd zu gehen. Doch nicht nur Adelige hatten das Privileg, sondern auch Freibauern oder sogar Geistliche brachen frohgemut zur Jagd auf – allerdings nicht mit Steinadler oder Falke, sondern mit Habicht und Sperber, der Golf-Klasse unter den Jägern.

Mortimer, der zurückgezogen in einer abgelegenen Ortschaft in der südwestenglichen Grafschaft Devon lebt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Geschichte auf unterhaltsame Art und Weise zu vermitteln. Allzu ermüdend schienen ihm die Abhandlungen einiger Historiker-Kollegen zu sein. Deshalb griff er kurzerhand selbst zur Feder. Und er hat mit seinem eingängigen und zum Teil auch spannenden Schreibstil Erfolg: In Großbritannien avancierte sein Handbuch für Zeitreisende innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller. Mittlerweile wird es sogar jungen Geschichtsstudenten zur Basislektüre empfohlen. Das verwundert dann doch. Denn auch wenn sich Mortimer in seinem Buch auf das mittelalterliche England des 14. Jahrhunderts beschränkt, so schreibt er keine Geschichte im herkömmlichen Sinne – Historische Ereignisse kommen höchstens am Rande vor. Vielmehr konzentriert sich der Autor auf einzelne Aspekte des mittelalterlichen Alltagslebens. Er erzählt nicht Geschichte, sondern Geschichten – und bedient sich dabei erzählerischer Mittel.

So erfährt man nichts über den im 14. und 15. Jahrhundert zwischen England und Frankreich wütenden Krieg, aber beispielsweise, dass die meisten Mönche pro Jahr etwa 400 Fleischgerichte zu sich nahmen, Klöster „ein wirklich gutes Ale“ brauten – woher auch immer Mortimer das wissen mag –, man sich vor jeder Mahlzeit die Hände wusch und sich Kluniazensermönche zwei Vollbäder im Jahr gönnten. Neben etlichem Skurrilen spart Mortimer auch die grausamen und ekelerregenden Seiten im Mittelalter nicht aus: Außerhalb der Städte sammelten sich „Tierknochen, Eingeweide, menschliche Exkremente und verwesendes Fleisch“ an Ufern von Bächen und Flüssen, in denen man sich problemlos von jeglichem Unrat schnell und kostengünstig befreien konnte. Und in den Städten war es nichts Ungewöhnliches, die ausgedörrten Überreste von Dieben oder Verrätern zu Gesicht zu bekommen: „Wenn Sie York, die größte Stadt des Nordens, betreten, sehen Sie die schwarz angelaufenen Köpfe von Verbrechern auf Pfählen über den Stadttoren aufgespießt – Vögel haben ihnen die Augen ausgepickt, Beine und Arme hängen an Seilen, jeder Körperteil das Überbleibsel einer verräterischen Intrige, das jetzt mit Maden übersät oder von Fliegen bedeckt ist.“

Mortimer erzählt zwar anschaulich von wissenswerten und interessanten Dingen aus dem 14. Jahrhundert, die einen oft staunend, zuweilen auch nachdenklich zurücklassen, doch gelingt es ihm nicht, ein kohärentes Bild von der Vorstellungswelt der im Mittelalter Lebenden zu vermitteln. Vielmehr gleicht das Buch einem Flickenteppich, dessen Teile zwar schön anzusehen sind, die aber deshalb noch lange keinen Eindruck vom großen Ganzen geben. Zu selten sind die Momente, in denen der Autor explizit auf die ideengeschichtlichen Voraussetzungen des mittelalterlichen Menschen eingeht – beispielsweise wenn er beschreibt, warum auf den Bildern, die Kirchen und Kapellen überall im Land schmücken, die dargestellten Menschen so aussehen, „als stammten sie direkt aus dem mittelalterlichen England. Die Römer tragen mittelalterliche Gewänder. Auch Christus und die Jünger wirken mittelalterlich, genau wie die dargestellten Boote oder Soldaten“.

Dies hat seinen einfachen Grund darin, dass es „kein Wissen um eine kulturelle Entwicklung im mittelalterlichen England [gab], keine Vorstellung davon, dass Menschen in unterschiedlichen Zeitaltern anders aussehen und handeln, und kein Gefühl dafür, dass das alte Rom oder das römische Palästina kulturell etwas anderes sein könnte.“ Solche Stellen, an denen Mortimer Faktenwissen mit Ideengeschichte verknüpft, gibt es im Buch jedoch viel zu wenige. Insgesamt bleibt deshalb ein zwiespältiger Eindruck zurück: Während der Autor große Stoffmassen erzählerisch zu bändigen weiß, fehlt zuweilen der Blick in die Tiefe. Vor allem wo es um Zusammenhänge geht, den mittelalterlichen Menschen besser zu verstehen, bleibt Mortimer erstaunlich oberflächlich.

Titelbild

Ian Mortimer: Im Mittelalter. Handbuch für Zeitreisende.
Piper Verlag, München 2014.
429 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056052

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