Kaltblütig am Unverstandenen vorbeigehen

Wilhelm Genazino wird immer besser, obwohl er mit „Bei Regen im Saal“ wieder den gleichen Roman wie alle vorherigen geschrieben hat

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man in einem Roman plötzlich auf einen Helden trifft, der sich ständig verliest, statt „Schulbus“ „Schuldbus“ und statt „Vollkorn-Toast“ „Vollkommener Trost“ entziffert – dann, ja dann ist man in einem Buch von Wilhelm Genazino angekommen. Man fühlt sich sofort wohl und heimisch auf den Seiten dieser Bücher. Auch wenn einem da so einiges bekannt vorkommen dürfte. Oder vielleicht gerade deswegen.

Denn Genazino schreibt, das wissen seine treuen Leser inzwischen, seit Langem an ein und derselben Geschichte. Darin erzählt er von jenen, die nicht als Helden um die Ecken ihres Lebens ziehen, schrulligen Existenzen ohne allzu feste Verwurzelung im Hier und Heute. Mal sind es Privatgelehrte („Die Liebesblödigkeit“, 2005), mal Finanzbeamte („Mittelmäßiges Heimweh“, 2007), dann wieder promovierte Wäscheausfahrer („Das Glück in glücksfernen Zeiten“, 2009) oder Angestellte in einem Architekturbüro („Wenn wir Tiere wären“, 2011). Und sie alle besitzen ihr Urbild in jenem Herrn Abschaffel, mit dem Wilhelm Genazino 1977 erstmals auf den literarischen Plan trat.

Im neuen Roman des Autors, „Bei Regen im Saal“, heißt der Held schlicht Reinhard. Dass man diesen (Vor-)Namen erst auf Seite 135, also knappe 20 Seiten vor dem Buchende, erfährt, deutet darauf hin, dass es Genazino wohl weniger auf das Individuelle dieser Figur ankommt. Viel wichtiger scheint ihm hingegen die Herausarbeitung des Typischen zu sein, der Charakterzüge eben, die Reinhard mit all seinen Vorgängern insgeheim verbinden.

Und so trifft der Leser wieder einmal auf einen philosophierenden Flaneur, den all seine Bildung und das ausgeprägte Vermögen, noch im Kleinsten, scheinbar Nebensächlichsten tragische Züge der menschlichen Existenz entdecken zu können, zu keinem herausgehobenen Platz in der Gesellschaft verholfen haben. Als Barkeeper scheint er, der vorzeiten eine Dissertation über Immanuel Kant verfasste, ohne dass die ihm einen Platz in der Universitätshierarchie eingebracht hätte, hoffnungslos überqualifiziert zu sein. Als Mensch aber schließt man den verschroben wirkenden Sonderling mit den feinen Antennen für die sich in seiner Umwelt verbergenden Irritationen sofort ins Herz.

Vor allem die Frauen tun das. Was auch nicht neu ist für einen Genazino-Helden. Der hat in der Regel nämlich eher das Problem, sich nicht entscheiden zu können zwischen den verschiedenen Lebensmöglichkeiten, die ihm das weibliche Geschlecht anbietet. Weshalb er manchmal am Ende ganz allein dasteht. Das ist bei Reinhard freilich nicht so. Der verliert zwar seine Sonja zwischenzeitlich an einen anderen. Doch am Ende ist sie wieder da, gezeichnet von der Langeweile eines normalen bürgerlichen Ehelebens und bereit, Reinhard in Zukunft sämtliche Schrullen zu verzeihen.

Denn es hat wohl mehr für als gegen sich, dieses Leben am Rande, ein Danebenstehen und Sich-Wundern, was im Hamsterrad der alltäglichen Zumutungen denen passiert, die sich freiwillig dort hineinbegeben. Es schärft die Sinne für die Idiotien des Alltags und wirkt anziehend, sogar erotisierend auf jene, die sich mit den die Welt inzwischen beherrschenden Spießern herzlich langweilen. Deren (Hyper-)Aktivität setzt Genazinos Protagonist seine „Theorie der Überwindung“ entgegen: „Meine Theorie lief dabei auf den Punkt zu, dass der Mensch nichts weiter tun sollte, als sich auf eine Bank zu setzen und auf die Dinge zu starren, die sich in seiner Umgebung befinden, also auf Bäume, Fahrräder, einen Fluss, auf Frauen mit Kinderwagen, einen vorbeilaufenden Hund, auf stumme Gärtner und ein Schülerliebespaar auf der Bank nebenan. Mit der Zeit würde sich das Gefühl einstellen, dass es die Dinge nicht mehr gab, sie hatten sich aufgelöst durch den Bann, der vom menschlichen Auge ausging.“

Gelassenheit bezeichnet wohl am besten jene Welthaltung, die Wilhelm Genazinos Protagonisten eignet. Sie hat zugleich etwas Altmodisches wie auch etwas Widerständiges. Da läuft einer neben dem Leben her, wie es heute die allermeisten leben, und wundert sich. Versucht, seine Zeit zu bestehen, ohne sie wirklich zu begreifen, wie es an einer Stelle des Romans heißt. Ein „Problemfall“ ist dieser Mann, was seine Verankerung in der realen Welt betrifft, ein „Modernitätsverweigerer“ aus Überzeugung – andererseits aber auch ausgerüstet mit einer träumerischen Wachheit, die, während die Dinge an ihm vorüberziehen, feinsinnig registriert, wie wichtig sie für den Moment zu sein vermögen und wie bedeutungslos aufs Ganze gesehen.

„Bei Regen im Saal“ ist ein Buch für all jene, die etwas langsamer unterwegs sind im Leben und dennoch nichts vermissen. „Um leben zu können, musst du kaltblütig am Unverstandenen vorbeigehen und dich nicht nach ihm umdrehen“, lautet einer jener Sätze, die Genazino denen ins Stammbuch geschrieben hat, die sich nicht ausschließlich Fortschritt und Wachstum als den unsere Gegenwart bestimmenden Größen verschrieben haben. Das mag man gern als etwas antiquiert, gar wirklichkeitsfremd empfinden. Für die Helden des Frankfurter Autors ist es freilich die Voraussetzung dafür, ihr Dasein annehmen und letztlich aushalten zu können.

Titelbild

Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446245969

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch