Mal erhaben, mal Kneipe

Roger Willemsen beobachtet den Deutschen Bundestag

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Schluss kann er „dieses ganze Meinen, Bedeuten, Simulieren […] nicht mehr verfolgen, bald nicht mehr ertragen“, und der Leser, der Roger Willemsen bis hierher gefolgt ist, fühlt es ihm nach. Auch er ist froh, mit der Lektüre ans Ende zu kommen.

Willemsen hat sich das ganze Jahr 2013 hindurch der Übung unterzogen, von der Besuchertribüne des Bundestages aus dessen Plenarverhandlungen zu verfolgen, die in Sitzungswochen gewöhnlich von Mittwoch bis Freitag stattfinden. Auf rund 400 Seiten hat er das Gesehene und Gehörte festgehalten, reflektiert und kommentiert. Dabei herausgekommen ist, schreibt er in einer Nachbemerkung, nicht das Buch eines Journalisten, denn sein Interesse habe weniger dem Aktuellen gegolten als dem „Prinzipiellen“. Er fügt hinzu, sein Blick aus der „‚Bürger‘-Perspektive“ sei zwar nicht neutral, aber auch nicht parteigebunden, sondern geprägt von seiner persönlichen „politischen Biographie“. Das kann man als Leser bestätigen, und das werden vor allem Anhänger der damaligen Regierungskoalition aus CDU/CSU und Freien Demokraten bestätigen, die aus der Perspektive des „Bürgers“ Willemsen schlecht wegkommt – ihrer Argumente und ihres Benehmens wegen.

2013 war ein Wahljahr, im Herbst wurde der neue, der 18. Deutsche Bundestag gewählt. Das prägte den Debattenstil und die Vielzahl der disparaten Themen, die bilanzierend abgehandelt werden mussten, von Oppositions- wie Regierungsseite zumeist übertreibend und überspitzend in die eine oder die andere Richtung. Willemsen arbeitet sich aufmerksam, intelligent und gewandt durch den Wust der akustischen und visuellen Eindrücke: Mal engagiert zuhörend und kommentierend, mal enttäuscht und kopfschüttelnd ob der Unangemessenheit der Reaktionen im Auditorium, mal die zuhörenden Schulklassen und Senioren auf der Tribüne kontrastierend mit der Lebensferne und sprachlichen Abgehobenheit des Verhandelten, mal eben Gesagtes komisch verschaltend mit Gesten, Lachen etc. bei einzelnen Prominenten unten im Plenum. Zuweilen gelingen treffende Kurzporträts.

Was Willemsen regelmäßig verstimmt, ist unaufrichtiges, taktisches Argumentieren, im Wahljahr nicht eben selten. Solches stellt er bis auf wenige Ausnahmen vornehmlich bei Rednern der regierenden Koalition fest, während er bei Abgeordneten der Opposition (SPD, B90/DIE GRÜNEN, Die LINKE) doch mehr ehrliche Überzeugtheit und mehr aufrichtigen Einsatz für Frieden und Minderheiten wahrnimmt; das kommt seiner erklärten Lieblingstugend, der Empathiefähigkeit, entgegen. Dessen ungeachtet hört er bekümmert und allzu oft den „Grundakkord […] der wechselseitigen Missbilligung und rhetorischen Ehrabschneidung“ durchdringen.

Willemsen hängt einer parlamentarischen Idee an, nach der das Plenum „in großen Perspektiven denkt und entscheidet“. Eine solche Stunde schien zum Beispiel gekommen, als der Bundestag den Bericht der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ debattierte. Der Autor, ersichtlich bei einem Thema nach seinem Herzen, berichtet ausführlich. Beifällig hört er Beiträge, in denen er „das Bild eines vernunftbegabten Staates, der sich statt aus materiellem Zuwachs heraus aus sozialen Leistungen bestimmt“, aufscheinen sieht. Dann aber muss er wiederum Reden anhören, „in denen man sieht, wie systemfremd es ist, vom Parlament Impulse für die Selbsterneuerung der Gesellschaft zu erwarten“. Sein resignierendes Resümee: Der „gute Gedanke“, die Veränderungsabsicht, suche sich Felder „abseits des Parlaments“ und werde sich „im Zweifelsfall gegen dieses richten“.

Dem entsprechen die Zweifel des Autors am Fraktionszwang, der der Unabhängigkeit des Abgeordneten (Artikel 38 des Grundgesetzes) zuwiderlaufe, sowie am Prinzip der Repräsentation. Für beide Unzulänglichkeiten macht er „die Vormacht der Parteipolitik und ihrer Interessen“ verantwortlich und fragt, ob sie nicht beitrüge zur „Entpolitisierung einer Gesellschaft, die sich von den Themen, den Mehrheitsverhältnissen, dem Stil des Hohen Hauses nicht vertreten fühlt“.

Die rhetorische Frage ist auch inhaltlich ein Gemeinplatz; als solcher aber nicht ohne Brisanz, klingt doch darin auch ein Zweifel an der Legitimität der Wahlen an – im Namen des Volkes, das bei Willemsen auf der Tribüne sitzt und dem Treiben seiner Vertreter dort unten im Saal meist regungslos, manchmal amüsiert, stets aber stumm und diszipliniert zusieht.

Und der Autor selbst? Was immer es bedeuten mag, dass er sich in seiner Eigenschaft als „Bürger“ in Anführungszeichen setzt, er bekennt sich als Idealist und versteht sich als Intellektueller, der seines Amtes waltet, indem er Kritik übt – und wie man sieht, nicht zu knapp. Doch bei all seiner Kritik, der zufolge so manche Stunde im Parlament hinter der hohen Idee zurückbleibt – am Ende ist Willemsen nicht ohne Respekt für die Institution, die durchaus auch gehaltvolle Debatten bieten und Würde zeigen könne: das Hohe Haus. Ihm begegnet er darum mit „Ambiguität“ so wie es da ist, „manchmal erhaben […], manchmal bloß eine Kneipe“. Auch den Menschen darin, den Parlamentariern und Parlamentarierinnen, versagt er seine Achtung nicht. Was deren Themenradius, Arbeitsbelastung, Sachverstand anbelangt, habe er, „Vorurteile zu korrigieren gelernt“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Roger Willemsen: Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
400 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783100921093

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