Die Stimme aus Luftglas

Zum 50. Todestag Jean-Pierre Schluneggers ist die Gedichtauswahl „Bewegtes Leuchten“ in einer verkorksten Übersetzung erschienen

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Heinrich von Kleist hat Emil M. Cioran gesagt, der Selbstmord lasse sich aus jeder seiner Zeilen herauslesen. Eine ähnliche biographische Deutung bestimmt auch die Rezeption des Schweizer Lyrikers Jean-Pierre Schlunegger. Am 23. Januar 1965 stürzte er sich, gerade einmal 39-jährig, von einer Brücke. Sein Vater hatte im gleichen Alter den Freitod gewählt; zeit seines Lebens fürchtete sich Schlunegger, das Gleiche tun zu müssen. Seither wird die Rezeption des Werks vom Suizid des Autors überschattet, wie Barbara Traber in ihrem Nachwort zur bilingualen Ausgabe feststellt. Doch es lässt sich zum Glück nicht auf biographische Eigenheiten reduzieren.

Ein wiederkehrendes Motiv seiner Gedichte ist das der Welle: „Die Nacht ist rein wie eine Woge“. Die Texte eröffnen, indem sie innerlich bis zum Zerreißen gespannt sind, ein starkes Spannungspotenzial: Das lyrische Ich findet keinen Trost, indem es sich zum Himmel wendet; dennoch verspürt es die Sehnsucht danach. Sie ist es, die den Motor für Schluneggers Schreiben liefert, wobei sie sich gleichzeitig dem Bewusstsein über ihr eigenes Scheitern ausliefert: „Man kann nicht, so sagst du, wie ein Stern immerzu wachen / Über dieser dunklen, zerrütteten Welt“. Die Texte wurzeln in der Romantik, doch sie entwickeln ihr eigenes Konzept der Verklärung, das sich in der Moderne verortet. Daraus können sie eine überraschende Kraft schöpfen – und das, obwohl Schlunegger die Vergänglichkeit des dichterischen Wortes akzeptiert: „Mein Lied, das der Tiefe entspringt, ist der Regen mit blassen Zöpfen, / Mein Lied ist ein wortloses Murmeln, / Und mitunter, so möchte man sagen, der endlose Satz / Des übers Land sich verstreuenden Windes“. Sein poröses dichterisches Sprechen erlaubt es ihm demnach, einer transzendentalen Spur zu folgen – und damit den Worten, die „wahrhafter sind“. Die Stimme dieser Gedichte erinnert an die Struktur von Glas: zum einen suggeriert sie Durchsichtigkeit, zum anderen fungiert sie als trennende Instanz zwischen zwei Seiten der Welt – der dies- und der jenseitigen.

Damit bedeutet Poesie für Schlunegger zugleich Weh und Heil. Sie öffnet ihm neue Wege, versperrt aber gleichzeitig den Zugang zu ihrem Rätsel, das zugleich das Weltenmysterium ist, dem das lyrische Ich gegenübersteht. Geheimnis und Offenbarung sind die Komponenten, aus denen er seine Gedichte konstruiert, doch beide Teile weisen einander ab. Schluneggers zweigeteiltes Ideal provoziert also sein Scheitern, das aber als Grundlage der lyrischen Reflexion fungiert. Denn die durchdringende Schlichtheit der Bilder zeigt sich nur kurz, ehe sie wieder von ihrer Schwere abgelöst wird:

Ich sage: Licht, und ich sehe das zitternde Laub.
Ich sage: See, und im Einklang tanzen die Wogen.
Ich sage: Blatt, und ich spür auf den Lippen den Kuss.
Ich sage: Flamme, und schon kommst du als lohender Busch.

Die Zerrissenheit des lyrischen Ichs äußert sich in seiner Introspektion und einer simultanen Außenschau. Beide Herangehensweisen an die Welt gründen in dem Wunsch, nicht mehr „von einem absurden Geheimnis belastet zu werden“. Ein visueller Kontakt mit der Umgebung beinhaltet gleichzeitig ihre Mystifizierung, weil der Blick des Subjekts niemals objektiv sein kann. Schlunegger ist trotz seiner Beeinflussung durch die Romantik ein phänomenologischer Dichter, dem es auf seine Art gelingt, zu den Dingen selbst zurückzukehren: indem er sie sowohl verklärt als auch entzaubert.

Es ist schwer, diese poetologische Doppelbewegung im Deutschen nachzuverfolgen. Christoph Ferbers Übersetzungen sind daran grundlegend gescheitert. Sie decken das ganze Spektrum von ,falsch‘ bis ,unfreiwillig komisch‘ ab: „Der brennende, feine Regen setzt dir die Krone auf“ heißt es beispielweise dort, wo es ein simples „krönen“ auch getan hätte. Die Poetizität einzelner Bilder verschwindet unter einer dicken Schicht Sachlichkeit: „La forêt coule vers les cailloux des grèves.“ Bei Ferber steht Folgendes: „Zu Uferkieseln führt hinab der Wald.“ Das ist falsch, da „couler“ besser mit „rinnen“ wiederzugeben wäre; Schlunegger beschreibt hier keinen Weg, sondern den feinen Übergang zwischen Wald- und Flusslandschaft. Außerdem missachtet Ferber die französische Metrik im Allgemeinen und die Musikalität der Verse im Besonderen. Doch auch darin ist er inkonsequent, denn mittendrin findet sich trotzdem manches stringent durchgereimte Gedicht („Quartine“). Zudem laufen bei ihm die Enjambements durcheinander, sodass die Übersetzung mehr Zeilen zählt als die Originalversion („Halt“); das ist aber keine Ausnahme, sondern ein Dauerzustand. Ganz zu schweigen von schlicht falsch wiedergegebenen Vokabeln: Teilweise verselbständigen sich solche Fehlgriffe, wenn etwa ein schlichter „arbre“ zu einem „Baumstrunk“ degeneriert oder eine ganze Strophe sich im Deutschen unter einer Schleimschicht ausgekochten Unsinns verstecken muss: „Wald, immer zarter zu Oktoberbeginn, / Bild, mir so lieb zwischen Grün, / Fastgrün, rebfarben, / Und violett.“ Der erste Vers ist ganz passabel geraten; der zweite heißt im Original: „Douce image qui tournes“ und beinhaltet im Verb eine direkte Ansprache an das „Bild“. Das „tournes“ leitet direkt in den dritten und vierten Vers über und beschreibt einen Farbwechsel von blattgrün und fellfarben zur violetten Farbe einer Bischofsrobe: „Du vert à peine vert au pelage de chevreuil / Au violet d’évêque“. Derartige Abstufungen und Übergänge vermag Ferbers Adjektivakkumulation nicht zu transportieren.

Verzerrungen werden Schluneggers Rezeption in Deutschland nicht zu ihrem Durchbruch verhelfen. So bleibt zu hoffen, dass irgendwann eine annehmbare Übersetzung erscheinen wird. In ihrer jetzigen Form bestätigt sie nur den alten Kalauer von traduttore, traditore: Übersetzer, Verräter. So sehen sich Leser hierzulande mit dem traurigen Paradox konfrontiert, dass sie Französisch können müssen, um diesen Texten etwas abgewinnen zu können. Christoph Ferber schafft das Kunststück, Schluneggers poetologische Doppelbewegung als Drama vor leeren Publikumsreihen uraufzuführen: Die Spannung zwischen Original und Übersetzung ruiniert die Lust am Text.

Titelbild

Jean-Pierre Schlunegger: Bewegtes Leuchten. Lueur mobile.
Limmat Verlag, Zürich 2014.
183 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783857917554

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