Paranoia und Melancholie

In Bleeding Edge erzählt Thomas Pynchon, wie unter dem New Yorker Pflaster ein Rhizom von Gerüchten und Gerede wuchert

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie die Zeit vergeht. Eben noch warteten wir „for reply“, und schon ist das kommerzielle Internet 25 Jahre alt. Auch seine erste Krise, die Dotcom-Blase, ist längst schon ein Fall für die Geschichte. Damals, im Frühjahr 2000, wurden die Computer-Nerds und Investment-Kapitalisten aus dem Silicon Valley jäh aus ihren Allmachtsträumen aufgeschreckt. In seinem Roman Bleeding Edge wirft Thomas Pynchon ein Licht auf diese Jahr zurück.

Auch die Nerds in der New Yorker Silicon Alley erleben 2000 ein böses Erwachen. Allerdings trifft es  nicht alle gleichermaßen. Wer findig genug ist, erkennt in der Konkursmasse neue Geschäftsfelder von unterschiedlicher Lauterkeit. Insbesondere geheime Dienste und Spekulanten mischen sich ins neue Spiel mit ein. Einem dieser zweifelhaften Geschäfte geht im Spätsommer 2001 die Betrugsermittlerin Maxine Tarnow nach. Weil ihr die staatliche Lizenz aberkannt worden ist, scheut sie sich nicht, auch Dienste und Informationen von Hackern oder Mafiosi in Anspruch zu nehmen. Sie interessiert sich speziell für die versteckten Buchungen einer kleinen IT-Firma namens hashslingrz.com. Die Einblicke in die digitalen Abgründe, zeigt sich bald, erweisen sich als komplex und nicht ganz ungefährlich. Maxine muss vor allem einen übel beleumdeten CIA-Agenten fürchten, von dem sie zugleich auf unerklärliche Weise fasziniert ist.

Das ist der eine Erzählstrang, dem Pynchons Roman folgt. Trotz des toughen Jobs kennt Maxine auch ein Privatleben, mit einem Ex-Mann, der nach und nach in den alten Haushalt zurückkehrt, mit zwei naseweisen Jungs sowie Freunden, die sie ins Lucky 18 in K-Town zum Karaokesingen begleitet.

Es ist alles in allem ein illustres Figurenensemble, das der mutmaßlich in New York lebende Thomas Pynchon um seine Heldin gruppiert. Mit dazu gehören die esoterische Alt-68erin March, der anrüchige Milliardär und IT-Unternehmer Gabriel Ice, Conkling mit dem absoluten Riecher, die Mafiosi Igor und Rocky (mal russisch, mal italienisch), Maxines Freundin Heidi oder Reg und Eric, die beiden hilfreichen Nerds. Pynchon trachtet nicht danach, aus ihnen umfassende Charaktere zu formen, sie repräsentieren vielmehr Typen in einem sprühenden, sprunghaften, witzigen und anspielungsreichen „Verschwörungscartoon“ wie Martin Jörg Schäfer seine Pynchon-Besprechung überschrieben hat.

Es geht demnach, wie schon in früheren Büchern des Autors, weniger um eine stringente Story als um ein phantastisches Panoptikum von Lebensgeschichten, das von Paranoia, Gerüchten und Verschwörungstheorien unterwandert wird und mit Anspielungen aus der Welt des Films und der TV-Serien garniert ist. Bleeding Edge taucht ein ins urbane Gewimmel New Yorks und stößt dabei, eher beiläufig, die Tore zu „DeepArcher“ auf, zum Deep Web (oder Dark Web), wo die oberflächlichen Suchmaschinen keinen Zugriff mehr haben. Wer weiß, in diesem finstern Reich könnten womöglich auch die Anschläge auf die New Yorker Twin Towers am 9/11 vorbereitet worden sein.

Den Titel Bleeding Edge hat Pynchon aus der IT-Sphäre entliehen. Er steht für eine riskante Technologie, die (noch) ohne konkreten Nutzen ist, weshalb sich hier „nur Freaks, die immer das neueste haben müssen, wohlfühlen“. Thomas Pynchon betritt damit ein für ihn neues Feld. Seine Beschäftigung mit dem Web erinnert unweigerlich an die Bücher des anderen literarischen Diagnostikers William Gibson. Beginnend mit seiner futuristischen Neuromancer-Trilogie aus den 1980er-Jahren hat Gibson unsere Vorstellungen, was die digitale Technik vermag und welche Ängste oder Illusionen sich damit verbinden, nachhaltig geprägt. Das Wort „Cyberspace“ taucht erstmals in einer seiner frühen Erzählungen auf, bevor es zur globalen Chiffre für das Reich des Digitalen wurde. In Gibsons Büchern steckt stets ein Rest an Fremdartigkeit und Beunruhigung, die von ihm entworfenen Szenarien bergen die Spannung auf ein ahnungsvoll erwartetes technologisches Un-Heil. Im Vergleich damit ruft Pynchons Deep Web weder Gefühle der Beklemmung noch der Befreiung hervor. Bleeding Edge betritt nur scheinbar jenes Terrain, auf dem sich Gibson so zielsicher bewegt. Klingen dessen Fiktionen futuristisch, selbst wenn er von der Gegenwart erzählt, zieht Thomas Pynchon demgegenüber die historische Perspektive vor, die in Bleeding Edge im September 2001 kulminiert.

Mit Folgen: Zum Zeitpunkt unserer heutigen Roman-Lektüre ist sein „DeepArcher“ längst zu einer harmlosen Anekdote geworden: eine Wohlfühloase à la Second Life, ein Tummelfeld für Selbstdarsteller und Konsumanbieter, mit offen zur schau gestelltem Narzissmus und ein paar versteckten Links – doch fernab vom beklemmenden Sammelwahn der NSA oder dem beängstigenden Hacker-Angriff auf die Filmsparte von Sony. Das Internet erscheint darin als historisches Phänomen.

Diese Schwäche macht handkehrum aufmerksam für Pynchons Stärke. William Gibson entwirft in seinen Büchern einen globalisierten Lifestyle, der am ehesten in Tokyo oder London manifest würde, wie er einmal schrieb. Der Lifestyle in Bleeding Edge dagegen ist eindeutig mit New York konnotiert. Es geht Pynchon nicht um (düstere) Aussichten in die Zukunft der Welt unter dem Diktat von Nerds, Hackern und Raider-Kapitalisten, sein Roman handelt (trotz des technischen Titels) vielmehr von einer Stadt, die zusehends ihre Reize und ihr Charisma  zu verspielen droht. Steht Gibson für den narrativen Diagnostiker, ist Pynchon ein literarischer Melancholiker. Gemeinsam ist ihnen aus unterschiedlicher Optik jedoch das (un)heimliche Strömen und Rauschen, das die erlebte Realität kaum merklich begleitet. Und bedroht?

So gesehen interessiert sich Pynchon weniger für die digitale Matrix als für die seit je her schwellende Unterströmung des Gemunkels und Geredes, der Paranoia und Verschwörungstheorien, die sich speziell im Kontext von 9/11 entfalten konnten; und für die das bunte, unergründliche New York eine verlässliche Topographie bildet. Pynchon hält sie in Bleeding Edge exakt im Moment der global sichtbaren Katastrophe fest, deren Katharsis nicht in die Wiederherstellung des Vertrauten mündet, sondern in dessen Verlust. Im Zuge des Aufräumens wird Manhattan bereinigt und umgepflügt. Bekannte Lokale, kleine Geschäfte und vertraute Ecken – Pynchon zählt sie alle auf – gehen unter in den Verwerfungen der kapitalistischen Gentrifizierung unter ihrem Schutzengel „Scheiß-Giuliani“. Nicht das Internet zerstört New York, auch nicht die Terroristen von 9/11, sondern eine Herde aus „Schleimbeuteln von Vermietern und Stadtentwicklern“.

Bleeding Edge ist Komödie, Thriller, Zeitgemälde und Familienroman – von allem etwas: vor allem aber ist der Roman ein melancholisches Epos über die Metropole New York, oder genauer über deren Herz Manhattan, die sich aus dem tumultuösen Melting pot von einst zu einem blutleeren Geschäftszentrum zu entwickeln droht. Das New York, wie es einmal war, wird dabei zusehends unkenntlich. Es beginnt jenem Surface Web zu gleichen, „wo man lauter Zeug kriegt, nach dem laut Beschluss des Managements alle süchtig werden sollen: Shoppen, Daddeln, Abspritzen, endloses Streamen von Müll“. An dieser Kante der kommerzialisierten Utopie schneidet sich der urbane Legendenerzähler Pynchon in Bleeding Edge sein Herz blutig.

Titelbild

Thomas Pynchon: Bleeding Edge. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014.
605 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783498053154

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch