Auf dem Weg zu einer Soziologie des Nationalsozialismus?

Von den Versäumnissen der deutschsprachigen Soziologie und einem Versuch, sie zu verarbeiten

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im September 1946 traf sich die altehrwürdige Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) anlässlich des Frankfurter Soziologentages zu ihrer ersten Mitgliederversammlung nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei überraschte der Philosoph, Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler Jürgen von Kempski, der wenige Jahre später bei Theodor W. Adorno mit einer Arbeit über Charles S. Pierce promovieren sollte, mit einer ungewöhnlichen, wenn nicht radikalen Forderung. Er verlangte, bei der anstehenden Wiedergründung der DGS allen Personen, die sich während der NS-Zeit antisemitisch geäußert hatten, die Aufnahme zu verweigern.

Zuvor hatte er Leopold von Wiese, dem designierten DGS-Vorsitzenden, eine antisemitische Schrift des Wiener Professors (Gustav) Adolf Günther zugesandt, damit er dessen Eintritt in die DGS verhinderte. In beiden Fällen stieß von Kempskis Initiative jedoch auf taube Ohren. Im maschinenschriftlichen Protokoll der DGS-Mitgliederversammlung wurde seine Forderung, die in der handschriftlichen Fassung noch enthalten gewesen war, kurzerhand weggelassen, und auch Günther trat bald der DGS bei. Wie hätte sich die deutsche Soziologie nach 1945 entwickelt, wäre von Kempski mit seinem Ansinnen durchgedrungen? Was hätte es für die anderen humanwissenschaftlichen Fächer bedeuten können, wenn die deutsche Soziologie von Beginn an zu den Mitläufern und Helfershelfern des NS-Regimes auf Distanz gegangen wäre?

Wie unrealistisch ein derartiges Szenario war, lässt sich den insgesamt 19 ausführlichen Beiträgen des hier zu besprechenden Sammelbandes entnehmen. Dessen Entstehungsgeschichte reicht bis zu einem Artikel von Mitherausgeberin Michaela Christ zurück, der Ende 2011 in der Zeitschrift „Soziologie“ erschien und in der These gipfelte, dass die Themen Nationalsozialismus und Holocaust in der deutschsprachigen Soziologie seit 1945 ein Schattendasein geführt hätten.

Daraus entstand eine kontroverse Debatte, die in der „Soziologie“ und auf dem Bochumer Kongress der DGS vom Oktober 2012 fortgeführt wurde. Diese Debatte drehte sich um drei Fragen: Welche Rolle spielte die deutschsprachige Soziologie in der Zeit des Nationalsozialismus, weshalb hat sie das „Dritte Reich“ und den Holocaust nach 1945 sogleich aus ihrem Gegenstandsfeld verdrängt und welchen Gewinn könnte eine intensive Befassung mit beiden Themen für das Fach erbringen?

In ihrer Einleitung konzentrieren sich die beiden Herausgeberinnen auf die zweite Frage, weil es ihnen im Wesentlichen um eine erste Bestandsaufnahme der bisherigen soziologischen Forschung zum Nationalsozialismus geht. Sie glauben ein Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlichem Schweigen und den dominierenden soziologischen Paradigmen der Nachkriegszeit als Ursache für die Umgehung des Themas in der deutschsprachigen Soziologie ausmachen zu können. Diese vier Paradigmen, nämlich die System-, Rollen-, Rational-Choice- und Modernisierungstheorie, seien „nicht unbedingt dazu geeignet [gewesen], den soziologischen Blick auf soziale Akteur/innen im Nationalsozialismus zu lenken“.

Den Autoren des vorliegenden Bandes gelingt es recht unterschiedlich, die Gründe für die weitgehende Zurückhaltung der deutschsprachigen Soziologie im Hinblick auf den Nationalsozialismus auszuloten und Einblicke in das trotzdem Geleistete zu geben. Die beiden ersten Beiträge von Erhard Stölting über die frühen soziologischen Arbeiten zum Nationalsozialismus bis 1933/34 und von Helmut Dahmer zur Faschismustheorie der „Frankfurter Schule“ sind wenig systematisch und vernachlässigen einschlägige Autoren wie Hans Speier, Rudolf Heberle, Karl Mannheim und Siegfried Kracauer sowie ihre genuin soziologischen Zugangsweisen zum Nationalsozialismus, zum Beispiel in der Untersuchung der Soziographie der NSDAP, der Rolle der Angestellten als Sozialformation, der „Rackettheorie“ und des „totalen Antisemitismus“. Beide Beiträge konzentrieren sich auf für das Thema des Bandes eher periphere Aspekte wie Erwin von Beckeraths Interpretation des italienischen Faschismus und das bekannte Projekt der „Frankfurter Schule“ zur „autoritären Persönlichkeit“, das nur wenig mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte. Weit informativer sind Gerhard Schäfers und Peter Imbuschs vergleichende Aufsätze über Helmut Schelsky und Ralf Dahrendorf auf der einen Seite beziehungsweise Norbert Elias und Zygmunt Bauman auf der anderen. Fragte Dahrendorf als Sohn eines Angehörigen des sozialdemokratischen Widerstands gegen das NS-Regime in seiner Soziologie von Beginn an „Wie war Auschwitz möglich?“, so transformierte Schelsky als ehemaliger Aktivist des NS-Regimes dessen Utopie der „Volksgemeinschaft“ nach 1945 in die These von der Bundesrepublik Deutschland als „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“. Bauman und Elias wiederum stellten die Gewalteskalation im NS-Staat ins Zentrum ihres Erkenntnisinteresses und entwickelten sich zu Antipoden, die den Holocaust diametral entgegengesetzt als Bestandteil der Moderne (Bauman) beziehungsweise als Rückfall in die Barbarei (Elias) deuteten.

Die folgenden drei Beiträge von Michael Becker, Christoph Reinprecht und Kobi Kabalek vermitteln ein gutes Bild von der Entwicklung der soziologischen NS-Forschung seit 1989/90 und der ebenfalls unterbliebenen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Soziologie Österreichs und der DDR. Es folgen sechs Aufsätze, die die Herausgeberinnen unter die Überschrift „Themen“ subsummiert haben, und zwar über Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg als Gegenstand der Militär- und Kriegssoziologie (Nina Leonhard), die soziologische Erinnerungsforschung zum NS-Regime (Christian Gudehus), den Stellenwert von Holocaust und Nationalsozialismus in der soziologischen Gewaltforschung (Michaela Christ), soziologische Perspektiven auf die NS-Konzentrationslager (Maja Suderland) und Migration und Nationalsozialismus (Ludger Pries). Alle Autoren interessieren sich hauptsächlich für Fragen von Gewalteskalation und Täterschaft und haben für Phänomene der Meso- und Makroebene (Organisation und Gesellschaft) kaum einen Blick. Lediglich in Leonhards Beitrag blitzt ein derartiges Interesse auf, geht aber in einem eher monolithischen rahmenanalytischen Modell von „Militär“ unter.

Die beiden fachgeschichtlichen Aufsätze von Henning Borggräfe und Sonja Schnitzler über die DGS (woraus das eingangs erwähnte Beispiel stammt) und von Carsten Klingemann über die Kontinuität der empirischen Soziologie vor und nach dem Ende des NS-Regimes sind zweifellos die stärksten Beiträge des vorliegenden Bandes. Sie geben Einblicke in die personellen Verflechtungen in der westdeutschen Nachkriegssoziologie und leuchten deren Schweigen über den Nationalsozialismus intensiv aus. Dieses resultierte offensichtlich zum großen Teil aus disziplinären Karrierehindernissen, die sich nach 1945 in der Soziologie herausgebildet haben und die bis in die späten 1980er Jahre reichten. Dabei spielten jene Soziologen, die sich in der NS-Zeit kompromittiert hatten, nach 1945 aber schnell wieder in dominante universitäre Positionen einrückten, also Schelsky, Hans Freyer, Arnold Gehlen, Karl Valentin Müller, Wilhelm Brepohl und Wilhelm Emil Mühlmann, und deren unzählige Schüler die entscheidende Rolle, weil sie lange Zeit die innerfachliche Diskurshegemonie besaßen. Nicht Paradigmen, sondern Personen waren verantwortlich für jene Versäumnisse, die die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung anprangern. In diesem Sinne wird man auch Karl-Siegbert Rehbergs mit Wertungen zurückhaltenden Beitrag über die „Ambivalenzen der Soziologie“ deuten können, der sich vor allem mit der Gehlen-Schule befasst. Elissa Mailänder schließlich lotet kenntnisreich aus, was die soziologische Theorie für die historische Konzentrationslagerforschung leisten kann. Ihr Beitrag hätte im Band weiter vorne stehen müssen.

So innovativ die Bestandsaufnahme des Verhältnisses zwischen Soziologie und Nationalsozialismus auch ist, so vage, ja nachgerade hilflos bleiben die meisten Autoren in der Frage der Perspektiven für die zukünftige Forschung. Noch am ehesten kann man vielen der Beiträge ein Plädoyer entnehmen, die Gewaltforschung zu intensivieren. Diese wird allerdings auf direkte körperliche Verletzung verengt, so dass jene Phänomene, die Pierre Bourdieu als „symbolische Gewalt“ betrachtet, dabei vollkommen aus dem Blick geraten. Die (immer noch drängende) Frage, wie soziale Ordnung im Nationalsozialismus überhaupt möglich war, wie sich die NS-Gesellschaft mithin stabilisierte und reproduzierte, gerät damit zusehends aus dem Blick. Die gesellschaftsgeschichtliche Perspektive scheint allerdings besonders vielversprechend zu sein, sucht man nach einem genuin soziologischen Beitrag zur NS-Forschung, der die geschichtswissenschaftlichen Blindstellen zu ergänzen vermag. Hierzu müssen aber die vielfältigen soziologischen Subdisziplinen stärker berücksichtigt und ihre jeweiligen Herangehensweisen fruchtbar gemacht werden. Denkbar wären eine Untersuchung des „Dritten Reiches“ als organisierte Gesellschaft aus der Perspektive der Organisationssoziologie, der NS-Massenmedien mittels mediensoziologischer Zugänge, der individuellen Persönlichkeitsentwicklung durch Sozialisationstheorien, der Anpassung als vorherrschender Verhaltensweise unter Zuhilfenahme von Rollen- und Rational-Choice-Theorien oder der „konkurrierenden Gläubigkeiten“ (Manfred Gailus) mit den Mitteln der Religionssoziologie.

Diese Liste möglicher Themen, in denen die Soziologie die geschichtswissenschaftliche NS-Forschung bereichern könnte, ließe sich fast beliebig verlängern. Hierzu müsste sie sich jedoch dazu aufraffen, ihr gesamtes Theoriearsenal in die Waagschale zu werfen und sich nicht allein, wie im vorliegenden Band auf eine zwar innovative, aber kleinteilige Gewaltforschung zu konzentrieren. Dabei sollten Soziologen meines Erachtens auf methodologische Aspekte wie Problemkonstruktion, Begriffsbildung, synchrone wie diachrone Vergleichsmöglichkeiten und gesamtgesellschaftliche Kontextualisierungen besonderen Wert legen, um nicht Gefahr zu laufen, die Ergebnisse geschichtswissenschaftlicher Monografien bloß zu wiederholen. Generell kann die Soziologie durch ihre Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus nur gewinnen. Zum einen kann sie ihre eigene Fachgeschichte kritisch aufarbeiten und ihrem Kanon an Klassikern vielleicht noch jene Fachvertreter hinzufügen, die aufgrund ihrer politischen Verfolgung in der NS-Zeit nach 1945 weithin vergessen sind. Zum anderen kann sie ihre dominierenden Paradigmen anhand des Nationalsozialismus überprüfen und sie gegebenenfalls modifizieren. Dieser Extremfall des Sozialen ist doch wie kein zweiter dazu geeignet, als eine Art Vetorecht im Rahmen der soziologischen Theoriebildung zu fungieren! Oder sollte die aktuelle Soziologie etwa kein Interesse mehr daran haben, ihre Theorien weiterzuentwickeln?

Titelbild

Michaela Christ (Hg.): Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
611 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518297292

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