Über Abschiede und verlorene Möglichkeiten

Christa Wolf erzählt in einem „Nachruf auf Lebende“ von der Flucht 1945

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nein, so ist es nicht gewesen.“ Der erste Satz stellt bereits klar: Hier will jemand ganz unverstellt erzählen. Aussprechen, wie es war. „Einfach losschreiben“. So lautete der Rat ihres Ehemannes Gerhard, als sich Christa Wolf mit dem Gedanken trug, ein Buch über ihre Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus zu schreiben. Und die 42-Jährige befolgte ihn: In nur vier Wochen, vom 9. Februar bis 9. März 1971, verfasste sie einen Text „in einem Schwung“, in dem sie die Zeit Anfang 1945 beschreibt, als sie mit ihrer Familie aus ihrem Heimatort fliehen musste. „Nachruf auf Lebende. Die Flucht“ ist der Titel der schmalen Erzählung, die nun aus Wolfs Nachlass veröffentlicht wurde.

Es ist der 30. Januar 1945, als es so weit ist. „Wir müssen weg.“ Von Flucht, von Weggehen, von Niederlage war bis dahin in der Landsberger Kaufmannsfamilie nie die Rede gewesen, auch nicht als Verwandte aus Ostpreußen das Kinderzimmer bezogen und die vorüberziehenden Flüchtlinge immer mehr wurden. Und hätte man die junge Erzählerin gefragt, so wäre ihre „wirkliche Meinung […] gewesen, daß man, trotz aller Angst, nach Osten, dem Kanonendonner entgegenziehen und mit allen Mitteln verhindern müsse, daß der Feind die Stadt besetze.“

Ein Satz, der heute Kopfschütteln auslöst – der dem jungen Mädchen aber bitterer Ernst war und der erwachsenen Autorin noch lange Probleme bereitete. Leser und Leserinnen von „Kindheitsmuster“ wissen um die schmerzhaften Versuche Christa Wolfs, dem führergläubigen Kind, das sie einmal gewesen war, schreibend wiederzubegegnen. Die Komplexität der Struktur des Romans hatte ihre Ursache gerade in der Schwierigkeit des Erinnerungsprozesses, in der Schwierigkeit, zu diesem Kind „ich“ sagen zu können.

Von dieser Distanz ist in „Nachruf auf Lebende“, das als eine Art Fingerübung für den späteren Roman betrachtet werden kann, nichts zu spüren. Konsequent in der ersten Person, aus der Sicht der damals 15-Jährigen, werden die ersten Stationen der Flucht, durchzogen von Erinnerungen an die Kindheit, erzählt. Nur hin und wieder blitzt auf, was Christa Wolfs Erzählungen und Romane seit „Nachdenken über Christa T.“ in unvergleichlicher Virtuosität auszeichnet: das vorsichtige Tasten, das prüfende Fragen, das Zögern, die Zweifel an der Erinnerung. Dafür bietet dieser Text einen „ungetrübten Blick auf Vergangenes“, wie Gerhard Wolf in seinem Nachwort hervorhebt. Dieser Blick richtet sich vor allem auf die Mutter, eine starke Frau, tatkräftig und dominant, die Haushalt, Laden und Familie managte, während ihr Mann in den Krieg ziehen musste. Eine Frau wie viele ihrer Generation, die zupackte und für alle sorgte. Aber auch eine Frau, die „nicht in Übereinstimmung (war) mit dem Leben, das sie führen mußte“, wie die heranwachsende Tochter im Lauf der Erzählung erkennt – und auch, dass die Mutter ihre Familie dies unbewusst spüren und sie mitleiden lässt.

„Die Geste, mit der die Mutter den Silberfuchs endgültig in den Schrank zurückwarf“, schmerzt die Tochter dann an diesem Tag im Januar wesentlich „mehr als der Gedanke an irgendeinen eigenen Verlust“, als die Familie schließlich hektisch ihre Sachen zusammensuchen muss. Die Worte „Es geht nicht. Ich kann nicht mit. Ich muß hierbleiben“, mit der Mutter Charlotte wenig später ihre beiden Kinder auf dem Wagen vorausschickt und selbst eine Flucht ablehnt, lassen die Tochter dann nicht verzweifeln, sondern machen sie nur stumpf. Nicht nur die sensible Annäherung der Autorin an die eigene Mutter, die Suche nach Antworten auf die Frage, warum die Mutter ihre Kinder allein fahren ließ, oder nach den verlorenen Möglichkeiten im Leben, denen Charlotte nachtrauerte, machen „Nachruf auf Lebende“ lesenswert. Auch die Themen des Erwachsenwerdens und des Abschieds von der Kindheit bieten einen selten klaren, unverstellten Einblick in Wolfs Biografie. „Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?“, ist die Leitfrage des großen Romanmosaiks „Kindheitsmuster“ von Christa Wolf. Der „Nachruf auf Lebende“, der leider unvermittelt abbricht und damit fragmentarischen Charakter hat, bietet hierzu einen weiteren Mosaikstein.

Titelbild

Christa Wolf: Nachruf auf Lebende. Die Flucht.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
106 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518465066

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