Originalgetreu und innovativ

Eike Schönfelds Neuübersetzung von Charles Dickens’ „Christmas Carol“ hat das Zeug, die Leser des 21. Jahrhunderts zu erreichen

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Charles Dickens‘ „Christmas Carol“ ist der Weihnachtsklassiker schlechthin, und die bunte Rezeptionsgeschichte des Longsellers aus dem Jahre 1843 ist noch zu schreiben: Seit dem frühen 20. Jahrhundert entstehen immer wieder neue Verfilmungen, die von eher realistischen Versionen (Clive Donner, 1984), über die Muppet Show („The Muppet Christmas Carol“, 1992) bis zu einer postmodernen Animation (Robert Zemeckis, 2009) reichen. Hinzu kommen unzählige Hörspiel- und Bühnenfassungen sowie vielerlei Kürzungen und andere Adaptionen. Mit einer Neuübersetzung des „Christmas Carol“ fügt die Insel-Bücherei dem Mosaik ein neues Steinchen hinzu und zeigt damit, was herauskommt, wenn sich zwei preisgekrönte Autoren, der Übersetzer Eike Schönfeld und der Illustrator Flix, eines Klassikers annehmen.

Der natalophobe Ebenezer Scrooge, dessen Nachname, onomatopoetisch betrachtet, seinen Geiz indiziert, dessen Vorname jedoch bereits auf eine Umkehr hindeutet, wird am Heiligabend zunächst vom Wiedergänger seines verstorbenen Kompagnons Jacob Marley und danach sukzessive von drei Geistern heimgesucht. Nach der Klimax einer eindringlichen Memento-Mori-Szene mutiert Scrooge zum Weihnachtsliebhaber und beglückt alle, die zuvor unter seiner miesepetrigen Art gelitten haben. Inzwischen sind Scrooge und seit 1957 der ihm seelenverwandte Grinch von Dr. Seuss zu weltweit bekannten Typen des Weihnachtshassertums avanciert, geistern quasi als personifizierte Topoi durch populäre Weihnachtsliteratur.

Dickens‘ Original wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt, zuerst 1844 von Edward Aubrey Moriarty, danach unter anderem von Trude Geissler (1958), deren Fassung der Reclam-Verlag 2009 ohne Änderungen erneut aufgelegt hat. Da eine – vermutlich innovativere – Übertragung von Heiko Postma aus dem Jahre 2006 zurzeit vergriffen ist, dominieren die alten Versionen den Buchmarkt. Davon hebt sich Schönfelds erfrischend neue und sehr eng dem Original folgende Übersetzung wohltuend ab: „Marley was dead, to begin with – diesen berühmten ersten Satz transformiert Geissler zu „Marley war tot, damit wollen wir anfangen“. Es ist unschwer zu erkennen, dass mit diesem deutschen Incipit ein majestätischer Plural gesetzt wird, der im Original fehlt. Schönfeld überträgt daher sehr passend mit „Marley war tot; dies zu Beginn“. Nur über die Interpunktion könnte man hier streiten. „Humbug“ – so disqualifiziert Scrooge bekanntermaßen das Weihnachtsfest. Während früher mit „dummes Zeug“ oder „Quatsch“ übersetzt wurde, gerne ad libitum einmal so und einmal anders, bleibt Schönfeld bei „Humbug“. Scrooges Angestellter Bob Cratchit, dessen Name zwar auf das Kratzen der Feder auf dem Papier hindeutet, ist ein „clerk“, das heißt nicht nur ein „Schreiber“ (alte Übersetzungen), sondern  – so Schönfeld – ein „Kommis“. Die Geister, die Scrooge besuchen, heißen im Original „Ghost of Christmas Past“, „Ghost of Christmas Present“ und „Ghost of Christmas Yet to Come“. Sehr passend ist die Übertragung von „ghost“ mit „Gespenst“ und nicht mit „Geist“, so wie bei Geissler und anderen.

Während die „vergangenen Weihnachten“ keinen Anlass für Unstimmigkeiten geben, stehen sich bei den anderen Zeitstufen „der Geist der diesjährigen Weihnachtsnacht“ (Geissler) und „das Gespenst des gegenwärtigen Weihnachten“ (Schönfeld) sowie „Geist der Zukunft“ (Geissler) und „Gespenst des künftigen Weihnachten“ (Schönfeld) gegenüber. Auch hier punktet die Neuübersetzung, sieht man von dem Genus ab („das Weihnachten“ anstatt „die Weihnachten“), das jedoch inzwischen zur Standardsprache gehört. Viele weitere Beispiele, die hier zu weit führen würden, könnten das innovative Potenzial bei gleichzeitiger Originaltreue verdeutlichen. Nur ein kleiner Wermutstropfen bleibt: Obgleich Schönfeld niemals das „Weihnachtslied in Prosa“ erwähnt, bezeichnet er die Einzelkapitel als „Strophen“. Dies erscheint unpassend und inkonsequent.

Viele Textausgaben behalten die Federzeichnungen der Erstausgabe bei. Zu Schönfelds Übersetzung passen indessen die großflächig jeweils ein bis zwei Buchseiten umfassenden Illustrationen von Flix, Comiczeichner und Autor von Graphic Novels, besser. Obwohl Flix selbst auf seiner Website betont, dass „Der Weihnachtsabend“ nicht als „Comicadaption“, sondern „ganz klassisch“ gezeichnet sei, lässt sich die Comicprovenienz nicht verleugnen. Es liegen zwar weder sequenzielle Panels vor noch arbeitet der Künstler mit Sprechblasen, allerdings dynamisieren die Bilder den Text und bringen einen Touch von Intermedialität, also eine deutliche Parallele zum Film, in das Buch. Expressionistische Farbgebung und Linienführung (mit sparsamen Anklängen an Speedlines) unterstützen und intensivieren die Textaussage zusätzlich. So etwa erscheint Marleys Gespenst auf einem knallroten Untergrund, schwebt bedrohlich über Scrooge und ist umgeben von locker geschwungenen Ketten. Sieht man von dem Ausflug in die Vergangenheit ab, den der eher kindliche „Geist vergangener Weihnachten“ begleitet, so schaut Scrooge bis zu seiner Wandlung zum Guten immer vom Dunkeln ins Helle hinein. Gerade bei der Installation dieser Blicke zieht die Arbeit mit Proportionen und Perspektiven die Aufmerksamkeit an, überlagert den Text vielleicht auch einmal, ohne jedoch seine Grundaussagen zu modifizieren. Einige Bildmotive, so etwa die „Merkelraute“ des nachdenklichen Cratchit, tragen zur Faszination bei. Ein besonderes Highlight jedoch ist der mit einem langen Schnabel versehene Protagonist, der unweigerlich Reminiszenzen an Donald Duck, den Urvater aller Comic-Geizhälse, weckt. Und siehe da: eine einschlägige Web-Infoseite verrät, dass Dagobert Duck im Original Scrooge McDuck heißt.

Sieht man von dem düsteren Umschlag ab (reine Geschmackssache), dann kann die vorliegende Publikation rundum als gelungen bezeichnet werden. Eine hervorragende Neuübersetzung mit passenden innovativen und aktuellen Illustrationen bietet einen niederschwelligen Zugang für Leser des 21. Jahrhunderts. Idealerweise wird es Dickens, Schönfeld und Flix mit dieser Ausgabe gelingen, einige Lesemuffel zum Genießen eines Klassikers anzustiften, der inzwischen eher aus Nicht-Print-Medien bekannt sein dürfte.

Titelbild

Charles Dickens: Der Weihnachtsabend.
Mit Illustrationen von Flix.
Übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Insel Verlag, Berlin 2014.
144 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783458200109

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