Froschgeschwister im Schnipselgestrüpp

Anja Ballis und Mirjam Burkhard informieren über „Kinderliteratur im Medienzeitalter“

Von Ulrike PreußerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Preußer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann und sollte man Gregs Tagebuch im Literaturunterricht der Grundschule einsetzen? Und wenn man ein aktuelles Bilderbuch vorlesen und mit Kindern in der Schule besprechen möchte – wie macht man das und welche konkreten medialen, literarischen und lesedidaktischen Zielsetzungen können damit verbunden sein? – Mit der deutlich am Schulalltag und einer Vorbereitung auf ihn orientierten Einführung in die Kinderliteratur im Medienzeitalter fokussieren die Verfasserinnen Anja Ballis und Mirjam Burkhard zweierlei: In einem ersten Teil vermitteln sie angehenden und bereits berufstätigen Lehrern und Lehrerinnen Grundlagen zur – insbesondere neueren – Kinderliteratur. Der Blick ist dabei auf Texte für Fünf- bis Zwölfjährige gerichtet. Darüber hinaus bieten sie in einem etwas knapperen zweiten Teil Einblick in exemplarische Kinderbuchanalysen und zeigen Einsatzmöglichkeiten der Texte im Deutschunterricht der Grundschule auf. Der Einführungsband ist in beiden Teilen daran orientiert, heutige Lese- und literarische Sozialisation im Zusammenhang mit Mediensozialisation zu betrachten, da Medienverbundsysteme generell (etwa das Auftauchen einer bekannten literarischen Figur wie Harry Potter in Film, Computerspiel, Hörbuch oder als Motiv auf Kakaobechern und Bleistiften), aber auch Medienwechsel im Speziellen (wie die Verfilmung eines Harry-Potter-Romans) und Remediationen (zum Beispiel das Erscheinen der Harry Potter-Romane als E-Books) zum alltäglichen Umgang mit Literatur – nicht nur mit Kinderliteratur – gehören.

Das Grundlagen vermittelnde erste Kapitel zur Kinderliteratur gliedert sich in fünf Abschnitte, die sich nacheinander mit dem Begriff des Medienverbunds in Bezug auf Kinderliteratur (1.1), mit Lese-, literarischer und Mediensozialisation (1.2), mit medialen Erzählweisen und Erscheinungsformen, mit Genres und neueren Tendenzen in kinderliterarischen Texten (1.3 und 1.4) und abschließend mit einer Perspektivierung des Handlungsfelds Grundschule als institutionalisiertem Raum zur Förderung literarischer, Lese- und Medienkompetenzen (1.5) beschäftigen. Besonders positiv ist an diesem ersten Kapitel des Bandes hervorzuheben, dass die Fokussierung aktueller Kinderliteratur niemals die historische Einbettung aus dem Blick verliert. Durch kleine Einschübe und Verweise wird dem Leser und der Leserin stets im Bewusstsein gehalten, dass Kinderliteratur immer in Wechselwirkung mit der sie rezipierenden Gesellschaft und vor dem Hintergrund der Entwicklung einzelner Genres betrachtet werden muss – ohne dass diese Beziehungen ständig ausbuchstabiert würden.

Das zweite Kapitel, das Werkanalysen mit Unterrichtsvorschlägen kombiniert, greift exemplarisch drei kinderliterarische Werke und einen Motivzusammenhang heraus, um zu skizzieren, wie man literarische, mediale und sprachliche Lernmöglichkeiten in der Grundschule schaffen kann. Zunächst stellen die Verfasserinnen das Bilderbuch 999 Froschgeschwister ziehen um (2011) von Ken Kimura und Yasunari Murakami vor und geben anschließend Gestaltungsvorschläge für ein interaktiv orientiertes Vorlesegespräch, in dem die zuhörenden Kinder zur Identifikation und zur genauen Text-Bildwahrnehmung (etwa durch szenische Gestaltung) angeregt werden.

In einem zweiten Literaturbeispiel wird bebilderte Lyrik in mehreren Sprachen anhand von Heinz Janischs (et al.): Kommt ein Boot … Ein Gedicht in 11 Bildern und vielen Sprachen (2012) in den Blick genommen. Hier steht vor allem eine Perspektivierung der Rätselhaftigkeit und Mehrdeutigkeit lyrischer Texte im Fokus, aber auch die Sensibilisierung für Mehrsprachigkeit. Mit dem sehr bekannten Kinderroman Rico, Oskar und die Tieferschatten von Andreas Steinhöfel leiten die Verfasserinnen zu einer Beschäftigung mit einer Ganzschrift über, die von Kindern einen längeren Leseatem erfordert. Mittels leseanimierender Verfahren, die den Schülerinnen und Schülern den Spaß am Lesen und an nicht nur schulischer Lesekultur näherbringen sollen, wird der Roman in einer konstruktiven Verknüpfung von detektivischer Ermittlungsarbeit und Leseprozess rezipiert und schließlich in ein Brettspiel überführt, das in einer Lesenacht einem Praxistest unterzogen wird.

Der letzte Unterrichtsvorschlag orientiert sich an keinem einzelnen literarischen Test, sondern beleuchtet eine motivische Herangehensweise. Das Heldenmotiv soll für die Kinder einen Anreiz bieten, sich zunächst mit dem Begriff und seiner Spannweite zu beschäftigen, um daran anknüpfend Genderaspekte der erarbeiteten Begriffsdimensionen in den Blick nehmen zu können. Es soll dazu anregen, eigene Medienerfahrungen in Bezug auf das Heldenmotiv zu aktivieren und sie zu diskutieren, um abschließend selbst produktiv zu werden und eine Heldengeschichte als Stop-Motion-Film vorzubereiten und zu erzählen.

Ein kleiner Kritikpunkt bei der Gestaltung des Bandes richtet sich an die Auswahl der exemplarisch herausgegriffenen Texte: Das vorgestellte Bilderbuch bietet bei weitem nicht das Potential an literarischen, medialen und sprachlichen Lernmöglichkeiten wie andere aktuelle Publikationen. Erwähnt seien an dieser Stelle nur Julia Frieses und Christian Dudas Schnipselgestrüpp (2010) oder ihre Zusammenarbeit Schwein sein (2014), Martin Baltscheits und Christine Schwartz’ Das Gold des Hasen (2013) oder Oren Lavies Der Bär, der nicht da war (2014). Dass in punkto Roman die Wahl auf Andreas Steinhöfels Kinderkrimi Rico, Oskar und die Tieferschatten (2008) fällt, ist aufgrund des aktuell gegenwärtigen Medienverbunds sicherlich nachvollziehbar, doch hätte die Bevorzugung eines weniger bekannten Titels vielleicht dazu beitragen können, unbekanntere Kinderliteratur ins Blickfeld zu rücken, die noch nicht von so zahlreichen Unterrichtsmaterialien flankiert wird (vgl. unter anderem Ulrich Hub: Füchse lügen nicht [2014] oder – mit Blick auf die eher zwölfjährigen Leser und Leserinnen – Martin Baltscheits Die besseren Wälder [2013]).

Der Einführungsband ist übersichtlich strukturiert und liefert neben einer differenzierten Annäherung an aktuelle Kinderliteratur aus didaktischer Perspektive inspirierende Praxisbeispiele und Vertiefungsangebote in Bezug auf eine historische Verankerung. Insbesondere mit Blick auf das in NRW zu absolvierende Praxissemester ist dieses Buch ein guter Wegbegleiter für erste Schritte in der Schulpraxis und bietet Ableitungsmöglichkeiten für die Gestaltung kleinerer, an der Beobachtung der Mediensozialisation von Kindern ausgerichteter Forschungsprojekte.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Anja Ballis / Mirjam Burkard: Kinderliteratur im Medienzeitalter. Grundlagen und Perspektiven für den Unterricht in der Grundschule.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014.
200 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783503155392

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