Wenn aus Hungernden Kannibalen werden

Rawi Hages Roman „Spinnen füttern“

Von Jacqueline ThörRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jacqueline Thör

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fly ist ein fliegender Taxifahrer: Im Unterschied zu den „Spinnen“, den anderen Taxifahrern, die an ihrem festen Platz darauf warten, dass ihnen jemand ins Netz geht, schwirrt er wie eine Fliege durch die Straßen und sammelt die zwielichtigen Gestalten der Nacht auf, um sie von A nach B zu bringen.

Für Fly ist die Welt ein Bestiarium. Den herzlosesten unter den Nachtgestalten, den Zuhältern und Drogendealern, gibt er besondere Spitznamen: Er charakterisiert sie als „Nager und Insekten“, als „Klapperschlangen“, „Würmer und Wegschnecken“ als „Äffchen“, „suhlende Schweine“ oder als „streunende Hunde“.

Insbesondere den Glauben der Menschen stellt er in Frage und spart dabei keine Glaubensrichtung aus. Zu häufig mache die Religion aus den Menschen kurzsichtige Dogmatiker und Fanatiker mit einem Hass auf all jene, die ‚anders’ sind – und am liebsten würden sie dem Clown das Lachen verbieten, den angeseilten Kletterer mit einer Schere von den Felsen holen, den Wanderer in Fußfesseln legen und dem Sehenden die Augen verbinden. Fly hingegen sieht mehr als andere, denn er durchschaut die Menschen; sie sind für ihn wie offene Bücher und er spielt mit ihrer Leichtgläubigkeit und ihren Vorurteilen.

Die Gesetze der Menschen – so Fly – dienen nur jenen, die sie machen. Deswegen ist Kriminalität für Fly eine zweiseitige Medaille. Er fühlt sich dazu berufen, ein Sprecher der Armen zu sein, ein Anwalt der Unterdrückten. Immer habe er seine eigenen Gesetze erfunden, wenn es darum ging, den Menschen Mut zuzusprechen, die sich befreien und ihre Ketten abwerfen wollten. Er beschützt und verteidigt Linda, eine befreundete Prostituierte, rettet Larry, einen gedemütigten Transvestiten, sorgt und kümmert sich um die belesene Stripperin Sally… Von Zeit zu Zeit wird sein Taxi zum „Rettungsboot“, manchmal zum „Rettungsflugzeug“, gelegentlich sogar zur „Arche“ – aber nicht für jeden: „Es gibt Tiere, dachte ich, die hätte man getrost ertrinken lassen können, statt sie vor der Sintflut zu retten.“ Die Mixtur aus originellen Metaphern und Vergleichen und einem umgangssprachlichen, oft provokanten und gesellschaftskritischen Ton macht die Lektüre zu einem Lesegenuss mit Denkanstoß.

Rawi Hage, der in seinen Anfangsjahren als Schriftsteller selbst als Taxifahrer arbeitete, greift in seinem Roman Spinnenfüttern auf den Stoff des Filmklassikers Taxi Driver (1976) zurück. Travis Bickle, der Protagonist aus Taxi Driver, und Fly, die Hauptfigur aus Spinnen füttern, sind Einzelgänger: Beide fahren Taxi, beide fahren nachts, beide in einer Großstadt, beide verabscheuen den „Abschaum“, den sie mitnehmen. Doch Rawi Hage gelingt es, Fly plastischer und komplexer zu gestalten. Der Roman ist durchsetzt von dessen Rückblicken auf seine Kindheit: „Wir sind schließlich alle Produkte und Opfer der Umstände, in denen wir aufgewachsen sind. So lange zumindest, bis wir beginnen, darüber nachzudenken, bis wir uns abwenden und zur Wehr setzen.“ Fly ist vorlauter, noch verschwiegener, noch ernster, alberner und vor allem noch widersprüchlicher als Travis Bickle. Rawi Hage spinnt den Faden weiter. Das Leben eines Taxifahrers scheint angesichts wachsender sozialer Kälte seit den 70er Jahren deutlich härter geworden zu sein. Verhalten sich die Menschen im alltäglichen „Überlebenskampf“ nicht mehr denn je wie Tiere im Großstadtdschungel?

Im Gegensatz zu Travis Bickle hat Fly jedoch einen Fluchtweg aus seinem einsamen Alltag gefunden, indem er sich tagsüber zwischen seinen Büchern verkriecht. Fly ist ein Don Quijote des 21. Jahrhunderts: Sobald er in seiner phantastischen Welt versunken ist, versucht er die Geschichte zum Guten zu wenden und das große Blutvergießen zu verhindern.

Doch gegen Ende des Romans kommt es zu einem abrupten Bruch in der Handlung: Fly überschreitet die schmale Grenze zwischen Licht und Dunkelheit. Darf er die Menschen dazu zwingen, die andere Seite zu sehen? Die Parasiten dazu nötigen, die Geschichte der Wirte wahrzunehmen? Gewalt mit Gewalt bekämpfen? Fly verliert seine Urteilskraft, er verfängt sich gleichsam in der Dämmerung – und wechselt von der Seite der Guten zur Seite der Bösen. Die Fliegen fressen die Spinnen. Und am Ende stellt sich die Frage: Ist Fly mehr als nur ein Gefangener seiner eigenen Wahrnehmung? Oder: Vermag er über den begrenzten Ausschnitt der Welt, wie er sich ihm durch die Windschutzscheibe seines Taxis präsentiert, hinauszublicken?

Hinweis: Der Beitrag ist erstmals erschienen in: fusznote (2015), H. 8.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Rawi Hage: Spinnen füttern. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Gregor Hens.
Piper Verlag, München 2013.
368 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783492053945

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