Die Stärke der Sinti

Aus den Berichten eines Überlebenden: Erinnerung an Hugo Höllenreiner

Von Wilhelm SolmsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wilhelm Solms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Gedenken an den Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Truppen der Sowjetunion sei an die Berichte von Hugo Höllenreiner erinnert, die Anja Tuckermann in ihre Nacherzählung seines Lebensberichts „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner (Hanser Verlag 2005, dtv 2008) eingefügt hat.

Höllenreiner zieht hier selbstbewusst das Resümee: „Ich weiß vorher wenig und nachher wenig. Aber vom KZ weiß ich alles.“ Er hat bis auf den Tod sämtliche Martyrien, auch die medizinischen Experimente von Mengele, am eigenen Leib erfahren; er hat schon damals, als Junge von zehn bis zwölf Jahren, und seither immer wieder darüber nachgedacht, warum dies alles geschehen ist, warum die SS-Männer die Sinti scheinbar sinnlos gequält und gedemütigt haben und warum die erwachsenen Sinti sich nicht dagegen gewehrt haben. Und er hat Antworten gefunden, die überzeugen:

Die SS wussten, dass sich die Sinti furchtbar schämen. Eine Demütigung ist das. […]

Die SS waren meistens junge Männer. Die haben nur probiert, Leute umzubringen. Egal wie, nur schikanieren bis zum Tode. […]

Kinder, die sind grausam ermordet worden. Und warum? Was haben sie getan? Nur wegen ihrem Dasein.

Diese jungen Männer suchten die Sinti umzubringen, nur weil sie auf die Welt gekommen waren. Und sie suchten ihre Opfer noch vor dem Tod auf jede erdenkliche Art zu demütigen und ihr Schamgefühl zu verletzen, damit diese vor einander und vor sich selbst die Achtung verlieren, und damit sie, die Angehörigen der SS, die Hemmung verlieren, sie zu misshandeln und schließlich zu ermorden. Sie haben die Vernichtungspolitik des NS-Regimes nicht aus blindem Gehorsam, sondern aus freiem Willen, in eigener Verantwortung und völlig gewissenlos, zugleich aber sehr gewissenhaft praktiziert.

Wie lässt sich verstehen, dass dieses Kind und seine Familie ein solches Übermaß an Leiden überleben konnten? Auch dafür hat Höllenreiner eine Erklärung gefunden.

Aber die Kinder. Die Kinder und die Frauen. Das war denen (der SS) ihre Stärke. […]

Ich habe mir immer gedacht, Vater, was ist mit dir los? Du lässt dir alles so bieten. […] Dann später, wenn du Familie hast, kommst du drauf. […]

Wenn du weißt, wenn ich weg bin, stirbt dein Sohn, dann lässt du alles, alles über dich ergehen. Das war die Stärke von der SS.

Das war aber auch die Stärke der Sinti.

Ich glaube, wenn man allein ist, stirbt man leichter. […]

Aber hast du die Mama, die voll für dich da ist, die Geschwister, die an dir hängen und du hängst an ihnen, denkst du, wenn du stirbst, was macht dann meine Familie?

Der Gedanke an ihre Familie hat den Sinti die Kraft gegeben, Folterungen zu ertragen, aber auch im entscheidenden Moment, am 16. Mai 1944, als die SS-Männer sie zum Krematorium bringen wollten, Widerstand zu leisten, eine Tat, der die Sinti, die Auschwitz überlebt haben, und ihre Nachkommen ihr Leben verdanken, und der wir verdanken, dass wir sie kennen und schätzen gelernt haben.

Höllenreiners Aussagen sind auch ein Zeugnis dafür, dass das, was die Menschen in den Vernichtungslagern ertragen mussten, ein Leben lang nachgewirkt hat. Sieht und hört er bestimmte Bilder und Geräusche, selbst wenn seine Kinder etwas laut sind, steht alles wieder vor ihm. Und immer wieder überfallen ihn Alpträume, von denen er sich erst nach vielen Wochen erholt.

Deshalb fragt man sich, warum im Jahr 2006 nicht Hugo Höllenreiner, der dies alles erlebt und berichtet hat, sondern seine Nacherzählerin den Deutschen Jugendliteraturpreis, Sparte Sachbuch, erhalten hat.

Hinweis der Redaktion: Am 26.1.2015 ist in der taz Gabriele Goettles Aufzeichnung eines Gesprächs  mit Wilhelm Solms, dem Mitgründer und Vorsitzenden der Gesellschaft für Antiziganismusforschung, erschienen. Es fand in Berlin vor seinem Besuch der Ausstellung über das Schicksal der ermordeten Sinti und Roma in der Gedenkstätte Sachsenhausen statt.

Titelbild

Anja Tuckermann: „Denk nicht, wir bleiben hier!“. Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
301 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3446206485
ISBN-13: 9783446206489

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Titelbild

Anja Tuckermann: 'Denk nicht, wir bleiben hier!'. Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner.
dtv Verlag, München 2008.
299 S. , 7,00 EUR.
ISBN-13: 9783423623360

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