Vom Anfang und Ende der Literaturkritik

Das literarische Feld zwischen Autonomie und Kommerz

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

„Gegenwärtig hat nur Wert, was materiell unmittelbar verwertbar ist,
und den Musen geben wir nur eine Chance, wenn sie wenigstens
irgendeine Form von Dienstbarkeit unter Beweis stellen können.
Die Töchter der Mnemosyne sind aber keine Sklavinnen.“

Konrad Paul Liessmann

„Seit wann gibt es Kritiker? Seit wann gibt es keine Kritiker mehr?“
Hans Magnus Enzensberger

Einführung

Die Klage über die Literaturkritik ist so alt wie die Literaturkritik selbst. Einer der prominenten Klagenden, Hans Magnus Enzensberger, hat 1988 (in Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen) die schon lange vorher und danach immer wieder zu hörende Behauptung aufgestellt, dass es eine Literaturkritik, wie sie im Zeitalter der Aufklärung geboren wurde, nicht mehr gibt. In der Regel waren und sind solche Thesen als Provokation gedacht, Enzensbergers Behauptung könnte beispielsweise noch als Spätwirkung der 68er-Bewegung eingeordnet werden. Im Zeitalter der Kundenbewertungen des Online-Händlers Amazon könnte Enzensbergers Konzept vom Literaturkritiker als ‚Zirkulationsagenten‘ aber wieder an unvorhergesehener Schärfe gewonnen haben. Freilich gilt, angesichts der Komplexität und Kontingenz der hier verhandelten Probleme, auch immer das folgende Diktum Enzensbergers, für die Literaturkritik wie für die Literaturwissenschaft: „Denn es war ja nie ganz einfach zu sagen, was die Kompetenz der Literatur ausmacht. Dabei kann man leicht auf die Nase fallen.“

Ich möchte zunächst einige wichtige Grundlagen der Formierung und Ausgestaltung der modernen Literatur und der sie begleitenden Literaturkritik vorstellen, ohne ins Detail gehen zu können; Hilfestellung werden mir die beiden Erklärungsmodelle von Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu leisten. Dann werde ich Enzensbergers Konzept kurz erläutern und auf das heutige – um einen Begriff Pierre Bourdieus zu adaptieren – Feld der Literaturkritik beziehen. Es folgt eine Auseinandersetzung mit der relativ neuen Textsorte der Kundenbewertung, um schließlich einige, angesichts fehlender empirischer Daten vorläufige, Überlegungen zum heutigen Stand der Literaturkritik anstellen zu können.

Entwicklung der Literaturkritik

Der Buchmarkt, die Literatur und die Literaturkritik, wie wir sie heute kennen, gehen auf entscheidende Weichenstellungen im 18. Jahrhundert zurück, hierzu gibt es bereits eingehende Untersuchungen. Als zentrale Voraussetzung wird die „Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit“ (Klaus L. Berghahn) gesehen. Die deutschsprachige Tradition der Literaturkritik-Geschichtsschreibung hat nach meiner Auffassung hier einen blinden Fleck, weil sie die ökonomischen Grundlagen der Entstehung dieser Öffentlichkeit zu wenig beachtet. Die Studie des englischen Literaturwissenschaftlers Gary Day betont genau dieses Abhängigkeitsverhältnis (Literary Criticism. A New History, von 2010). Dabei steht Days Arbeit in einer Tradition, die im deutschsprachigen Raum alles andere als unbekannt ist, da sie sich mit Namen wie Karl Marx, Walter Benjamin, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in Verbindung bringen lässt.

Den Rahmen der Entwicklung eines Systems oder Feldes der Literatur, als Teil eines Systems oder Feldes der Kunst, haben Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu skizziert. Luhmann hat festgestellt, dass die Kommunikation im Sozialsystem Kunst bzw. Literatur stark von der Alltagskommunikation abweicht, anders formuliert: Kunst und Literatur sind eine besondere Art der Kommunikation. Der besondere Code der Kunst und der Literatur besteht darin, an die Stelle einer Abfolge von Zeichen ein Kunstwerk oder einen literarischen Text als komplexes Zeichen zu setzen, das auf etwas anderes als das Gesagte oder Gezeigte hinweist, und genau hier beginnt die Interpretationsbedürftigkeit. Allerdings hat eine solche besondere Codierung auch besondere Voraussetzungen. So ist das wichtigste Kriterium zur Unterscheidung „Neuheit“ als „Abweichung“ zu dem, was vorher da war (so Niklas Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft von 1997).

Aus dem „Primat der Selbstreferenz“ (Luhmann) ergeben sich die Kriterien zur Bewertung und der Grad der Kanonisierung der fiktionalen, literarischen Texte oder Kunstwerke. Verwendet man Luhmanns Begriffe, dann könnte man auch formulieren: Für hochliterarische Texte ist Selbstreferenz entscheidend, während Fremdreferenz eher für triviale oder unterhaltungsliterarische Texte kennzeichnend ist.

Pierre Bourdieu kommt in Die Regeln der Kunst (von 1992, dt. 1999) interessanterweise zu einer vergleichbaren Auffassung von der Besonderheit künstlerischer und literarischer Kommunikation, auch wenn er sich anders ausdrückt. Allerdings betont Bourdieu, dass auch das Feld der Kunst und Literatur, trotz aller Besonderheiten, ein Teil der Gesellschaft ist, deren Basis die Ökonomie bildet.

Mit Beginn der Industrialisierung konnte sich ein besonderes Feld der Kunst nur konstituieren, indem es sich zunächst der die Ökonomisierung vorantreibenden Massenproduktion (und vice versa) verweigerte. Doch auch ein Künstler muss von etwas leben, seit es das Mäzenatentum in der alten Form nicht mehr gibt. Das langfristige Ziel ist daher, nach einer Phase der Gewöhnung an das Andere, Neuartige, das sich nur einem kleinen Kreis von Experten erschließt, das hier erworbene ‚symbolische Kapital‘ in ökonomisches umzuwandeln.

Pierre Bourdieu bezeichnet es als die Paradoxie des literarischen Feldes, gegen die Ökonomisierung zu optieren, um eine eigene Autonomie zu gewinnen, aber gerade diese Autonomie zu benötigen, um schließlich auch materiell erfolgreich zu sein. Daher kommt es zu einer Abfolge von Avantgarden, die zunächst auf das Andere, Neuartige setzen, um dann, mit Hilfe von Experten, ein breiteres Publikum dafür zu gewinnen und so auch ökonomisch Erfolg haben zu können.

Bourdieus Konzept legt nahe, dass sich ein weitgehend ausbalanciertes Feld herausgebildet hat, das sowohl seine Autonomie behaupten als auch einen gewissen ökonomischen Erfolg haben kann. Das Ziel ist demnach, in einer durch die Ökonomie bestimmten Gesellschaft überhaupt in relativer Autonomie existieren zu können. Dass die Verschränkung von Geld, Macht und Literatur im Grunde älter ist als die Moderne, also weit hinter die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit zurückgeht, wohl sogar bis zu den Ursprüngen der Literatur selbst, hat Gary Day herausgearbeitet. Die Verbindung von Ökonomie, Macht und Literatur „is nothing new“: „Commentators throughout the ages have sought to restrict access to secular and sacred writings in order to maintain their power or position.“ Ganz ähnlich wie Bourdieu betont Day die Rolle, die Literatur in der ökonomisierten Gesellschaft spielt: „Money is like language because both are forms of representation.“

Der Literaturkritiker als „Zirkulationsagent“

Im Umfeld der sogenannten Studentenrevolution von 1968 ist versucht worden, das Ende der bürgerlichen Literatur auszurufen und sich für eine klassenlose Literatur stark zu machen, die einerseits die Massen erreicht und begeistert, andererseits durch die Teilhabe an der Literatur breiter Bevölkerungsschichten den Prozess der Demokratisierung befördert. Die industrialisierte Massengesellschaft ist aber eine Klassengesellschaft und funktioniert über soziale Differenzierungen. Die skizzierte Codierung der Literatur, die Literatursprache von Alltagssprache fundamental unterscheidet, und auch die notwendige Neuheit und die Selbstreferenz der Texte, zu denen ihr intertextueller Anspielungsreichtum gehört, führt zunächst zu einem Ausschluss eines großen Teils des Lesepublikums. Die besondere Qualität für den Markt ist gerade die Abweichung von der Norm, das Anderssein der Texte und Kunstwerke, sofern sich mit Hilfe von Experten glaubhaft machen lässt, dass sich das Andersartige auch als besondere ästhetische Qualität sehen und beschreiben lässt.

Hans Magnus Enzensberger argumentiert in dem Essay Rezensenten-Dämmerung in seinem bereits erwähnten Band Mittelmaß und Wahn anders als seine Vorgänger und in erstaunlicher Übereinstimmung mit den späteren Positionsbestimmungen von Bourdieu. Seine Diagnose über den Literaturkritiker lautet:

Er ist von der gesellschaftlichen Bühne abgetreten, weil er nicht mehr gebraucht wird; weil die Literatur, von der er sprach, ihrerseits ihre übergreifende Bedeutung eingebüßt hat. Die Literatur ist frei, aber sie kann die Verfassung des Ganzen weder legitimieren noch in Frage stellen; sie darf alles, aber es kommt nicht mehr auf sie an. Unter diesen Umständen läuft die Militanz des klassischen Kritikers leer; seine langfristigen Strategien wirken anachronistisch; sein Einfluß verdunstet in der Indifferenz eines pluralistischen Marktes, dem der Unterschied zwischen Dante und Donald Duck Jacke wie Hose ist; seine Autorität wird nicht einmal mehr angefochten, sie erweist sich schlicht als überflüssig.

Literaturkritiker sind daher bestenfalls noch „Zirkulationsagenten“, der Literaturkritiker neuen Typs ist ökonomisch abhängig von der Marktgängigkeit seiner Meinung: „Auf sein Urteil kommt es weniger an als auf die Auflage, die Einschaltquote, die er erreicht.“ Und weiter:

Für den Kritiker seligen Angedenkens war die Literatur ein Nexus von Schriften, die er liebte oder haßte, bewunderte oder verwarf. Dagegen interessiert den Zirkulationsagenten nicht der Text, sondern der Trend, den er aus seinen Eingeweiden liest. Sieger ist, wer den Trend als erster ansagt, Verlierer, wer als letzter wiederholt, was angesagt ist.

Wenn Enzensberger die von ihm konstatierte neue Entwicklung nicht negativ, sondern positiv bewertet, kann man dies durchaus als Provokation sehen: „Die Literatur aber ist wieder zu dem geworden, was sie von Anfang an war: eine minoritäre Angelegenheit.“

Das Problem ist nur: Wenn Literatur „eine minoritäre Angelegenheit“ wäre, dann müsste es eine Differenz von literarischer Produktion und Rezeption geben. Stattdessen lässt sich für die Zeit der 1990er-Jahre bis heute wohl eher eine Anpassung der Produktion an die von Enzensberger identifizierte ‚Quote‘ konstatieren, anders gesagt: Es zirkuliert eine Literatur, die es den Zirkulationsagenten zunehmend leicht macht, oder es wird von den Zirkulationsagenten eine Literatur besonders hervorgehoben, die auch marktgängig ist oder zu sein verspricht.

Die Tendenz zur Kommerzialisierung ist durch die Entstehung der sogenannten Neuen Medien, vor allem des als demokratische Publikationsform geltenden Internet, beschleunigt worden. Es wäre näher zu untersuchen, inwiefern die Neuen Medien auch in ihrer scheinbaren Unabhängigkeit der Kommerzialisierung weiter Vorschub geleistet haben. Enda O’Dohertys Beobachtungen über das begonnene ‚letzte Kapitel‘ des Buch- und Literaturbetriebs, wie wir ihn kennen, deuten in diese Richtung: „Anyone who has been around for a few generations, or who has an interest in the experience of previous generations, will have noticed quite significant changes in how people consume culture and how they talk about it“ (http://www.eurozine.com/articles/2014-12-10-odoherty-en.html).

Wohl nicht zufällig nach dem Ende des sozialistischen Experiments in Osteuropa gab es in den 1990er-Jahren eine sich mehrende Zahl von Stimmen, dass deutschsprachige Literatur mehr am Leser orientiert und unterhaltsamer sein müsse. Dass diese Forderung von Lektoren belletristischer Verlage und Literaturkritikern vorgetragen wurde, die von dem ökonomischen Erfolg von Literatur existentiell abhängen, kann nicht überraschen. Ein bekanntes Beispiel ist Uwe Wittstocks Buch Leselust von 1995, in dem der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine Annäherung an populärere Schreibweisen empfohlen wird: „Der Seitenblick auf die leichteren Musen muß keineswegs, wie viele Kritiker hierzulande reflexhaft unterstellen, zu Lasten der Qualität gehen.“

Ein weiteres Beispiel ist die Einführung des breitenwirksamen Deutschen Buchpreises im Jahr 2005. Der Preis setzt symbolisches Kapital ein, um ökonomischen Erfolg zu erzielen, sogar auf dem internationalen Markt. Die Aufgabe der Juroren wird durch die Wirkungsintention vorbestimmt. Man könnte es auf die Formel bringen: Ein mit diesem Preis ausgezeichnetes Buch hat so viel Fremdreferenz wie möglich und so viel Selbstreferenz wie nötig, um noch zur Hochliteratur gezählt werden zu können.

Das Dilemma der Literaturkritik

Seit es einen Markt für Güter gibt, steht die Literatur und mit ihr die Literaturkritik im Spannungsfeld von Kunst und Ökonomie. Doch die Situation stellt sich heute anders dar, als es Bourdieu noch am Ende des letzten Jahrtausends gesehen hat. Es gibt neben den bereits genannten viele weitere Anzeichen, die dafür sprechen, dass die Kommerzialisierung der Kunst und der Literatur weit fortgeschritten ist und dass auch die Literaturkritik darauf reagiert hat und reagiert. Ein Beispiel hierfür wäre die Kontroverse um Volker Weidermanns 2006 veröffentlichtes Buch Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Als es im Literarischen Colloquium in Berlin präsentiert wurde, äußerte sich der Literaturkritiker Hubert Winkels kritisch, daraufhin wurde er von einem anderen Podiumsteilnehmer, dem Schriftsteller Maxim Biller, scharf zurechtgewiesen. Winkels hat diese Erfahrung in einem Artikel für die Wochenzeitung Die Zeit verarbeitet. Darin unterteilt er die Kritikerzunft in „Emphatiker und Gnostiker“ (http://www.zeit.de/2006/14/Debatte1_neu):

Die Emphatiker des Literaturbetriebs, die Leidenschaftssimulanten und Lebensbeschwörer ertragen es nicht länger, dass immer noch einige darauf bestehen, dass Literatur zuallererst das sprachliche Kunstwerk meint, ein klug gedachtes, bewusst gemachtes, ein formal hoch organisiertes Gebilde, dessen Wirkung, und sei sie rauschhaft, von sprachökonomischen und dramaturgischen Prinzipien abhängt. Und dass sich der Lustgewinn in spätmodern abgeklärten Zeiten der Erkenntnis dieser Prinzipien verdankt.

Winkels‘ Artikel steht für den Versuch, die Gegensätze noch einmal zu überbrücken und das Paradox zu retten, indem er beide Seiten kritisiert, so stellt er fest: „Gnostiker sind die, denen ohne Begreifen dessen, was sie ergreift, auch keine Lust kommt“. Die Emphatiker dürften sich, so Winkels, weniger von der „dynamisierten Warenwelt“ vereinnahmen lassen und die Gnostiker sollten aus dem „durchlöcherten Verhau“ eines elitären Kunstverständnisses herauskommen.

Die öffentlichen Reaktionen auf diesen Artikel und vor allem die anderer Literaturkritiker deuten auf eine Verschiebung zugunsten eines ‚emphatischen‘ Literaturverständnisses. Gerrit Bartels beispielsweise stellt fest: „Die alteingesessene Literaturkritik bezieht Stellung und führt einen Kampf gegen die nachrückende Generation und deren Literaturvermittlung“ (http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2006/03/31/a0170). Georg Diez wirft Winkels sogar vor, „Zäune“ bauen zu wollen, um die Literatur „einzusperren“ (http://www.zeit.de/2006/15/L-DebatteDiez). Beide stufen Winkels als Verteidiger einer ‚gnostischen’ Position ein und rechnen sich damit selbst den ‚Emphatikern‘ zu.

Chancen und Risiken bieten sich auch im Bereich der sogenannten Neuen Medien. Vor allem das Internet hat einerseits die weitere Ökonomisierung des Buchmarkts begünstigt und gilt doch andrerseits als demokratischer Frei-Raum, in dem jede und jeder ihre und seine Meinung sagen kann, ohne dass dies mit nennenswerten Kosten verbunden ist. Thomas Anz hat (in seinem Beitrag für den von Renate Giacomuzzi, Stefan Neuhaus u. Christiane Zintzen hg. Sammelband Digitale Literaturvermittlung. Praxis – Forschung – Archivierung. Innsbruck u.a. 2010) deshalb auch auf die positiven Entwicklungen hingewiesen, er hat sie in fünf Thesen wie folgt zusammengefasst:

1. Das Internet hat zu einer erhöhten Nachhaltigkeit der Literaturkritik geführt.
2. Literaturkritik findet durch das Internet sehr viel weitere Verbreitung als früher durch die Printmedien.
3. Das Internet hat der Literaturkritik viele neue Kritiker und neue Adressatengruppen zugeführt.
4. Die Literaturkritik hat durch das Internet ihre Gegenstandsbereiche erheblich ausgeweitet.
5. Literaturkritik hat ihre dialogischen und populären Traditionen im Internet neu aufgegriffen, intensiviert und erweitert.

Wieland Freund hat 2009, aus Anlass der Einstellung der Printausgabe der Washington Post, auf die weniger positive Veränderung der Literaturkritik durch die digitalen Medien hingewiesen:

Die digitale Literaturkritik also wird sich von der analogen unterscheiden – sie tut es bereits jetzt. So wie die Fan-Fiction einen neuen Typ Autor hervorbringt, bringen die Fan-Foren einen neuen Typ Kritiker zur Welt: einen Dilettanten im ursprünglich Sinn, der mit Emoticons operiert wie der gelernte Rezensent mit dem Sachwörterbuch der Literatur. Der Online-Literaturauftritt der „Post“ konkurriert mit Leser-Communities wie „Lovely Books“. Die Literatur-Seite der „Post“ tat das nicht (http://www.welt.de/welt_print/article3123232/Literaturkritik-im-Internet.html).

Thomas Anz hat den eigenen fünf positiven Thesen auch fünf „Bedenken“ gegenübergestellt, die vor allem die schwindenden ökonomischen Grundlagen für eine professionalisierte Kritik und den daraus resultierenden Verlust an „Glaubwürdigkeit und Qualität“ betonen.

Das Ende der Literaturkritik alten Stils

Wie bereits skizziert versucht der Literaturbetrieb, der wachsenden Bedeutungslosigkeit mit Kommerzialisierung zu begegnen. Auf das Problematische einer solchen Strategie ist immer wieder hingewiesen worden, etwa 2014, als Reaktion auf die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt (die mit dem Namen Ingeborg Bachmann verknüpft sind), von Felix Philipp Ingold:

Der heute im Kulturbetrieb wie in der Unterhaltungsindustrie vorrangigen Laienherrschaft wird in Klagenfurt wie anderswo Genüge getan (um nicht zu sagen: Reverenz erwiesen) durch die Vergabe eines sogenannten Publikumspreises, der ausschließlich vom Kriterium des mehrheitlichen Gefallens bestimmt ist. Eine Diskussion (oder auch bloß ein Meinungsaustausch) über die zu beurteilenden Texte findet nicht statt. Entscheidend ist einzig die Anzahl der spontan abgegebenen Stimmen beziehungsweise die Mehrheit der gereckten Daumen, die als „Likes“ hochgerechnet werden (http://www.lyriktext.de/ingold-essays/laienherrschaft-n-in-klagenfurt-und-anderswo).

Die Literaturkritik, wie sie hier zelebriert wird, hat offenbar eine Literatur, die sie verdient – und umgekehrt:

Wo der platte Realismus nicht zum Zug kommt, nennt man ihn in der Juryrunde vorzugsweise „magisch“ oder „phantastisch“ – realistisch sollen die Klagenfurter Beiträge allemal sein. Dies bestätigt neuerdings auch eine Untersuchung der Neugermanistin Karin Röhricht (vgl. dazu die Rezension von Gunther Nickel in VOLLTEXT 2/2014), die anhand der in Klagenfurt prämierten Texte zum Schluss kommt, dass sich die realistische Schreibhaltung und damit die Fokussierung auf außerliterarische Interessen über die Jahre hin permanent gefestigt und inzwischen klare Dominanz erreicht habe. Inhaltliches geht vor, der künstlerische Anspruch schwindet – mit der Folge, dass sich „eine sehr konventionelle Erzählweise“ durchgesetzt habe, die stilistische und kompositorische Innovationen erschwere. Die Literatur, die in Klagenfurt (wie auch anderweitig im Literaturbetrieb) bevorzugt wird, sei primär rekonstruktiv, da sie sich weitgehend auf „Remimetisierung und Refiktionalisierung“ realer Begebenheiten beschränke. Der gar nicht so neue Realismus arbeitet sich demnach belletristisch an der äußeren Wirklichkeit ab und erhebt zugleich den Anspruch, „authentisch“ oder gar „dokumentarisch“ zu sein.

Wie so oft, wenn problematische Entwicklungen erkannt werden, ist die Gefahr groß, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Ingold plädiert, ohne provokative Absicht wie Enzensberger, für eine Literatur, die „vielleicht schwer verständlich“ sei, „aber auch eine zweite, eine dritte Lektüre lohnend machen“ würde. „Das würde freilich das Ende sowohl des traditionellen Verlagswesens wie des Buchhandels bedeuten. Doch nur so wird sich, andererseits, die Literatur als Kunst halten können – nicht auf Besten- oder Bestsellerlisten, nicht auf Festivals und Wettbewerbsveranstaltungen, einzig im Elfenbeinturm kann sie, endlich wieder elitär und selbstwertig geworden, überdauern.“

Ingold ist für seine Äußerungen kritisiert worden, etwa von Paul-Henri Campbell in einer aus ausführlichen Replik (http://www.fixpoetry.com/feuilleton/notizen/2014-11-26/rezension-eines-ressentiments). Allerdings weiß Campbell nicht so gut mit der Sprache umzugehen wie sein im Literaturbetrieb durchaus bekannter Kollege: „In einer Polemik stellt Ingold die Jurys der Klagenfurter Tage der Literatur, sowie des Lyrikpreises Meran vor ein Standgericht, sein Standgericht […].“ Ein Komma vor „sowie“ ist ebenso überflüssig wie der überzogene Vergleich mit einem Standgericht. Campbells auf halsbrecherische Weise durch eine „Analogie“ mit barocker Architektur herbeigeführtem Verdikt „Es lohnt sich auch schlechte Gedichte zu lesen“ ließe sich, mit ähnlicher Logik, entgegnen: Es lohnt sich, auch einmal ein Zeichen zu setzen, in diesem Fall – und in vielen anderen Fällen im Text – ein Komma an der richtigen Stelle. Ich erspare mir, an dieser Stelle auf die zahlreichen Pseudoargumente des Texts einzugehen.

Der Artikel von Campbell ist nach meiner Auffassung bezeichnend für eine Tendenz, die in den skizzierten Rahmen passt. Blicken wir auf die neueren Orte, an denen literarische Texte mehr oder weniger öffentlich verhandelt werden, dann dürfte nicht von der Hand zu weisen sein, dass der Diskurs über Literatur in einer interessierten Öffentlichkeit zunehmend von LaienkritikerInnen geführt wird, oftmals sogar in ökonomischer Abhängigkeit, die von der Veröffentlichung von Pressetexten der Verlage in Zeitungen und Zeitschriften über zahlreiche, mehr oder weniger zur eigenen Beteiligung einladenden Angebote im Internet bis zu den sogenannten Kundenbewertungen auf den Seiten des Internet-Großhändlers Amazon reicht.

Affirmation und Emphase oder Unverständnis und Ablehnung: Die Textsorte Kundenbewertung

Die Kundenbewertungen bei Amazon, auf die ich beispielhaft etwas genauer eingehen möchte, sind nicht nur eine relativ neue Textsorte, sie dürften außerdem heute zumindest quantitativ eine der größten Sammlungen von literaturkritischen Texten im weitesten Sinn darstellen. Im Unterschied zu Rezensionen, der wichtigsten Textsorte der Literaturkritik, sind die Verfasser keine professionellen Leser, sondern Hobby-Leser. Die Veröffentlichung geschieht nicht in einem wirtschaftlich selbständigen Periodikum, sondern im Internet auf der Plattform eines gewerblichen Anbieters von Konsumgütern, der die Veröffentlichung dieser Texte fördert und erlaubt mit dem Zweck, den Verkauf der angebotenen Produkte zu stimulieren. Zur einfacheren Orientierung dient, dass bis zu fünf Sterne vergeben werden können. Kundenbewertungen gehören also keineswegs nur zum Feld der Literatur, sie haben auch eine deutliche, vom Anbieter her gedacht sogar dominierende Schmittmenge mit den Feldern Werbung und Public Relations. Es ist daher anzunehmen, dass die AutorInnen von Kundenbewertungen ein Produkt eher empfehlen oder davon abraten, statt Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Allerdings gibt es, besonders im Bereich von Konsumgütern, immer wieder auch sehr differenzierte Bewertungen, teilweise mit Listen, welche positiven oder negativen Eigenschaften das Produkt nach eigener Prüfung hat.

Eine weitere Besonderheit ist, dass die Kundenbewertungen zur Literatur sich nicht, wie etwa die literaturkritischen Texte in den Feuilletons, auf Neuerscheinungen oder Jubiläen konzentrieren. Jedes Buch, das über Amazon beworben, teilweise auch nur verzeichnet wird (für den Fall, dass es einmal wieder lieferbar sein wird, sei es auch nur antiquarisch über einen der angeschlossenen Subanbieter), kann bewertet werden. Sieht man sich einmal Kundenbewertungen von hochkanonischen fiktionalen Texten an, dann fällt auf, dass es gerade bei Texten, die als ‚schwierig‘ angesehen werden, wenige abwägende Bewertungen gibt. Sofern sie sich überhaupt auf den Inhalt beziehen und nicht die Fiktionalität ignorieren, sind die Texte in der Regel entweder affirmativ und emphatisch bejahend, oder sie äußern Unverständnis und Ablehnung. Zu Franz Kafkas Roman Der Proceß findet sich beispielsweise folgende Kundenbewertung mit fünf Sternen und der Überschrift „Wahnsinn“:

Der Ausdruck „Wahnsinn“ beschreibt im Falle dieses Buches nicht nur die Qualität sondern auch den Inhalt.
Kein anderes mir bekanntes Buch schafft es die Verlorenheit des Menschen in der Welt treffender darzustellen als Franz Kafkas „Der Prozess“.
Es gibt Werke der Literatur, die einen nach Beendigung der Lektüre, noch über Jahre hinaus verfolgen und beschäftigen, dies ist definitv eines davon.
Die von Kafka geschaffene Welt droht den Leser förmlich zu verschlucken und in seine kalten Abgrund zu ziehen.
Wer dies Buch liest wird danach nicht mehr der sein, der er vorher war!
(http://www.amazon.de/review/R7R67Z2Z6YMUR/)

Kahlan Amnell hingegen gibt nur einen Stern, wählt als Titel den Romantitel und schreibt:

Ich würde gerne eine Zeitmaschine bauen, in die Vergangenheit reisen, und Franz Kafka ermorden, bevor er jemals die Gelegenheit bekommen hat, ein Buch zu schreiben.
(http://www.amazon.de/review/R3VXFMAZ7ILLP5/)

Der erste Text fällt sein Urteil auf der Basis identifikatorischer Lektüre, aber er bemüht sich um argumentative Absicherung. Der entscheidende Punkt ist hier, dass der Roman eine identifikationsstiftende, sozialpsychologische oder vielleicht sogar sozialhygienische Funktion hat. Die Darstellung der „Verlorenheit des Menschen“ sorgt dafür, dass sich der Leser verstanden und als Teil einer Gemeinschaft fühlt. Die scheinbare Paraxodie aufzulösen und die Einsamkeit der Figur als exemplarisch für das Leben in der Gesellschaft seit Beginn der Moderne, damit aber auch in der Rezeptionssituation als tröstlich anzusehen und dies so artikulieren zu können, lässt den ersten Text vergleichsweise komplex erscheinen. Der zweite Text ist vergleichsweise sehr einfach gestaltet, da er gar nicht argumentiert, sondern polemisiert und sich wohl vor allem darum bemüht, witzig zu sein. Das überflüssige Komma vor der verbindenden Konjunktion und der fehlerhafte Gebrauch des Konjunktivs sind kleine Hinweise auf eigene sprachliche Schwächen. Ohne dies hier empirisch belegen zu können – nach der Durchsicht vieler solcher Kundenbewertungen scheint es für mich einen Zusammenhang von sicherem oder unsicherem Sprachgebrauch, komplexer oder einfacher Argumentation und Zustimmung oder Ablehnung bei sprachlich und inhaltlich komplexen Texten zu geben.

Die wichtigsten Kriterien, die in Kundenbewertungen – soweit ich das sehe – an fiktionale Texte generell angelegt werden, sind Spannung und Unterhaltung. Es geht also nicht, wie früher im Feld oder System der Literatur generell üblich, um ‚Selbstreferenz‘, sondern um ‚Fremdreferenz‘ (Luhmann). Ein typisches Beispiel ist der kurze Text von Heinz-Joachim mit dem Titel „Klassiker!“ und der Bewertung von vier Sternen: „Wie gut ein solcher Klassiker doch in unsere Zeit passt – fast unheimlich, brandaktuell und spannender als so mancher Krimi von Grisham und Co.“ (http://www.amazon.de/review/RRONI168LEOVX)

Die Kundenbewertungen selbst lassen sich von den Nutzern als „hilfreich“ einstufen und auch insgesamt nach diesem Kriterium sortieren. Bei hochkanonischen Texten wie Kafkas Proceß werden eher die komplexeren, bejahenden und den Bezug zur Realität der LeserInnen betonenden Kundenbewertungen bevorzugt. Beispielsweise stellt nice2829, an dritter Position der Liste, abschließend fest: „all das könnte sich genauso in unserer Zeit zutragen“ (http://www.amazon.de/review/R2A1II4NCVPGNN). An vierter Stelle findet sich der oben zitierte, mit „Wahnsinn“ betitelte Text.

John Grishams relativ neuer Roman Die Erbin von 2014 hat wie Kafkas Der Proceß insgesamt vier Sterne bei einer Zahl von Kundenbewertungen, die für eine relativ hohe Repräsentativität stehen kann. Die Bewertungen beziehen sich auf die einzelnen Ausgaben, die jeweils höchste Zahl liegt bei 182 für Kafka und 135 für Grisham. Liest man nun die Kundenbewertungen zu Grisham, dann fällt auf, dass sie überwiegend sprachlich vergleichsweise einfach gehalten sind und kaum argumentieren. Ein Beispiel ist der Eintrag von „ursual [sic] brinkmann“ mit einer Bewertung von fünf Sternen und folgendem Text:

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Ich habe es nicht mehr aus der Hand genommen und in einem Rutsch gelesen.
Was ich besonders schön fand, bekannte Personen kamen darin vor, die auch schon im Buch „Die Juri“ vorkamen.
Dieser Stoff kann auch sehr gut verfilmt werden.
(http://www.amazon.de/review/R1F28OL3CI7RO5)

Der Syntax- und der Rechtschreibfehler zeigen die mangelhafte sprachliche Kompetenz, das weitgehende Fehlen einer argumentativen Absicherung ist für viele Kundenbewertungen ebenfalls typisch. Obwohl es ein Argument gibt – es würden „bekannte Personen“ vorkommen, damit sind Figuren gemeint, die sich bereits in einem früheren Roman Grishams finden. Der Wert Bekanntheit ist für Unterhaltungsliteratur das, was der Wert Neuheit für Höhenkammliteratur ist.

Bahnhofskiosk oder Elfenbeinturm? Ein knappes Fazit

Die noch im alten Jahrtausend etwa von Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu festgestellten Besonderheiten literarischer Kommunikation und ihr vergleichsweise autonomer Status in der Gesellschaft haben offenbar massiv an Bedeutung verloren. Die Kommerzialisierung der Literatur lässt sich in den verschiedenen Teil-Feldern oder Teil-Systemen beispielhaft erkennen und sie wird selbst zum Thema der Reflexion in Literatur und Literaturkritik, eine Reflexion, die entweder provokativ, konstatierend, resignierend oder sogar triumphierend auf eine Marginalisierung der Hochliteratur in der Gegenwartsliteratur deutet.

Zugleich hat sich durch die Neuen Medien, vor allem durch das Internet, ein vorher ungekanntes, weites Feld der möglichen Teilhabe am literarischen Diskurs eröffnet, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem für das literarische Feld oder System konstitutiven Expertenkreis. Diese Veränderung wird je nach Standpunkt eher als Chance oder als Risiko, als Demokratisierung oder als Banalisierung des Gesprächs über Literatur bewertet.

Als symbolischer Ort des Experten ist der Elfenbeinturm bemüht worden. Man könnte ihm das auch, aber nicht nur Bücher und dann in der Regel Unterhaltungsliteratur anbietende Bahnhofskiosk als symbolischen Ort des Hobby-Lesers gegenüberstellen. Beide Orte sind topisch und eignen sich kaum zur Beschreibung eines Zustands, der ohnehin nur ein transitorischer ist.

Aktuell lässt sich eigentlich nur, aber immerhin doch feststellen, dass es teilweise stark konkurrierende Auffassungen darüber gibt, welche Literatur zur Hochliteratur zu zählen ist. Zwar gibt es weiterhin, wie am Beispiel von Kafkas Roman Der Proceß zu sehen war, eine konventionalisierte Wertschätzung bestimmter Autoren und Texte selbst in neuen Textsorten des Diskurses über Literatur, aber wohl in weit geringerem Maß als früher. Tradierte Kriterien der literarischen Wertung werden nicht notwendigerweise akzeptiert. Oft werden diese Kriterien gar nicht gekannt, da mit der Zugehörigkeit zum literarischen Feld oder System auch das entsprechende Expertenwissen fehlt.

An die Stelle tradierter Wertungen und Kanones tritt eine invidualisierte Bewertung, die allerdings, wenn man ihre sprachlichen und argumentativen Defizite betrachtet, bisher eher die Bedenken gegen einen Verzicht auf konventionalisierte Bewertungen zu bestätigen scheint.

Dass tradierte Bewertungsmuster immer mehr ausgedient haben, kann – je nach Perspektive – eine gute oder eine schlechte Nachricht sein. Literaturwissenschaft und Literaturkritik könnten diese Entwicklung jedenfalls, statt ihre Energien in Klagen oder Anklagen zu investieren, produktiv nutzen und zum Anlass nehmen, verstärkt über die positiven Funktionen von Literatur in der Gesellschaft – etwa ihre Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis – nachzudenken und Bewertungskriterien zu diskutieren, die auch außerhalb des Elfenbeinturms, also des eigenen Expertenkreises Gehör finden – von der Bildungspolitik über die Massenmedien bis zu den Neuen Medien.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf dem Manuskript eines Vortrags, den der Verfasser im Rahmen des XX. Mainzer Kolloquiums des Instituts für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität am 30.1. 2015 zum Thema „Das Ende der Literaturkritik?“ gehalten hat.