Mehr oder minder kreisförmige Markierungen

Über Ludwig Wittgensteins Scheitern am Medium des Buchs

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ludwig Wittgenstein war ein Philosoph, der Rahmen und Regeln des Wissenschaftsbetriebs sprengte. Das betraf seine akademische (Lehr-)Tätigkeit ebenso wie seine Publikationen. An Büchern veröffentlichte er zu Lebzeiten nur ein einziges, den 1921 erschienenen Tractatus Logico-Philosophicus. Der noch von ihm konzipierte Band Philosophische Untersuchungen erschien 1953 posthum. Bleibt der Nachlass von über 20.000 Manuskript- und Typoskriptseiten, der in seinem beträchtlichen Umfang einen deutlichen Kontrast zum publizierten Werk bildet und der bis heute eine Herausforderung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Wittgenstein darstellt.

Die Aufzeichnungen aus dem Nachlass zeichnet eine Gliederung in einzelne, recht unterschiedlich lange Abschnitte aus. Nach nicht eindeutig nachvollziehbaren Kriterien und mit einem gleichfalls nicht eindeutig nachvollziehbaren Markierungssystem von Strichen, Kurven, Haken, Fähnchen, Sternchen, Buchstaben und anderen Symbolen versuchte Wittgenstein, die Absätze zu ordnen und zu bewerten, wenn er nicht gar die Seiten zerschnitt und anhand der losen Zettel die „Bemerkungen“, wie er seine aphoristisch-dialogischen Gedanken nannte, zu bündeln suchte. „Bemerkung“ ist das Stichwort, das eine mögliche Erklärung dafür liefert, weshalb Wittgenstein trotz all dieser Bemühungen am Medium des Buchs im Sinne der – in welcher Form auch immer – zusammenhängenden philosophischen Erörterung einer Fragestellung scheiterte. Die Entwicklung seiner Gedanken fand weitgehend im Gespräch oder im Vortrag statt, und die Erkenntnis, dass die Strukturen mündlicher Rede gänzlich andere als die des geschriebenen Wortes sind und erst recht der Darstellung im Medium des Buches, bedarf heute keiner Begründung mehr. Genau diese Differenz aber habe Wittgenstein verkannt und genau das sei ein wesentlicher Grund für seine Schwierigkeiten gewesen, ein Buch zu schreiben, so die Argumentation aus medientheoretischer Perspektive etwa von Kristóf Nyíri oder Herbert Hrachovec.

Damit sind wir an einem Punkt der Wittgensteinphilologie angelangt, den man sich am ehesten als eine Weggabelung vorzustellen hat. Denn das Scheitern Wittgensteins am Medium Buch öffnet für andere Wissenschaftler das Tor zur Veröffentlichung immer neuer „Bücher von Wittgenstein“ auf der Basis seiner Nachlassnotizen. Völlig zu Recht getroffene Aussagen wie „Wittgensteins Werk ist in eminenter Weise sein Nachlass“ (Josef Rothhaupt) spiegeln den Wunsch, das zu vollenden, was Wittgenstein als dem Verfasser der vielleicht gerade wegen ihrer disparaten, losen Versammlung so ungeheuer inspirierenden Bemerkungen – darf man sagen: glücklicherweise – nicht gelungen ist: sie in die Form eines Buchs zu bringen. Bei diesen posthum erschienenen „Büchern von Wittgenstein“ handelt es sich teils um geschlossene Manuskript- oder Typoskriptblöcke, teils um Kompilationen. Sie erscheinen unter Titeln wie Das Blaue Buch, Das Braune Buch, Das Gelbe Buch, Zettel oder Bemerkungen. Mit Wittgensteins KRINGEL-Buch steht jetzt wieder ein neues zur Diskussion, die Proto-Edition eines „bisher in der Forschung vollkommen übersehenen“ Buchs, das 2008 am Philosophie Department der Ludwig-Maximilians-Universität in München „entdeckt, rekonstruiert und transkribiert“ worden sei, so der Herausgeber Josef Rothhaupt. Um die Erwartung der Erschließung neuer Wittgenstein-Quellen gleich zu zerstören: Es handelt sich nicht um unbekannte Dokumente, die in irgendeinem Archiv der „Entdeckung“ geharrt hätten. Rothhaupt hat vielmehr, basierend auf der Wiener Ausgabe und der Bergen Electronic Edition von Wittgensteins Nachlass, seine Aufmerksamkeit auf die Bemerkungen Wittgensteins aus den 1930er-Jahren gerichtet, die der Philosoph mit einem „Kringel“ markiert hatte. Diese Kennzeichnung ist richtungsweisend für die Kompilation der entsprechenden Absätze, und die Proto-Edition erhielt so den wenig glücklichen Namen Wittgensteins KRINGEL-BUCH. Von zwei früheren, „wohlbekannten und oft sehr unkritisch rezipierten“ Nachlasspublikationen, in denen es Überschneidungen mit seiner Auswahl gibt – Bemerkungen über Frazers ‚Golden Bough‘, 1967 von Rush Rhees herausgegeben, sowie den 1977 von Georg Henrik von Wright veröffentlichten Band Vermischte Bemerkungen – grenzt sich Rothhaupt ab und erhebt den Anspruch, nur das KRINGEL-BUCH sei von Wittgenstein selbst erstellt worden, „ihm alleine kommt Authentizität zu.“

In Kulturen und Werte, dem von Josef Rothhaupt und Wilhelm Vossenkuhl herausgegebenen ersten Band der Reihe Über Wittgenstein, wird diese These erfrischend kontrovers diskutiert. Das zumindest im ersten Teil, in dem Stefan Majetschak detailliert seine Einwände gegen ein Editionskonzept darlegt, das als originäres Wittgenstein-Buch, ja gar als Initialtext, eine Kompilation begreift, die unter anderem auf der strittigen Grundlage von „mehr oder minder kreisförmigen Markierungen“ erstellt wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Zeichen, das Rothhaupt als Kombination von einem mit einem „Kringel“ überschriebenen langgestreckten „S“ liest und deshalb die so markierten Absätze in seine Edition aufnimmt, während Majetschak es als das mathematische Zeichen für das Kurvenintegral identifiziert, eine im Hinblick auf Wittgensteins Biografie höchst verführerische Deutung. Rothhaupt sieht das anders, die Lektüre als Kurvenintegralsymbol sei zwar „prinzipiell möglich und nicht verboten“, aber eher „abwegig“.

David Stern setzt sofort ein Fragezeichen in dem Titel seines Beitrags: „A New Book by Wittgenstein?“ Seine ernüchternde Antwort lautet: Nein, kein neues Buch von Wittgenstein. Die angekringelten Absätze verbinde eher der Tatbestand, dass Wittgenstein gerade keinen Gebrauch von ihnen habe machen wollen. Verglichen mit den Philosophischen Untersuchungen, an denen Wittgenstein im selben Zeitraum, Anfang der 1930er-Jahre, zu arbeiten begonnen habe, seien sie zu direkt, zu plakativ oder in ihrer dialogischen Qualität unzureichend: „too blunt, too striking, or insufficiently dialogical“.

Diese Bedenken scheinen im weiteren Verlauf des Bandes Kulturen und Werte außen vor zu bleiben, wenn Wittgensteins KRINGEL-BUCH als Fakt vorausgesetzt und über seine Gegenstände referiert wird. Da geht es um das bei Wittgenstein zentrale Thema Schmerz in Volker Munz’ Beitrag „Apropos KRINGEL-BUCH-Sektion Nr. 31“, um „Wittgenstein über Zahlen, Begriffe und ‚Gegenstände der Psychologie‘“ in „Namen, die ‚nicht vertreten‘“ von Hans Julius Schneider oder um Wittgenstein und die Literatur in Wolfgang Huemers Aufsatz „Wittgensteins kulturelle Heimat: Über Philosophie und Dichtung im KRINGEL-BUCH“. Schaut man aber genauer hin, spielt die Kompilation eine eher geringe Rolle. Schneider beispielsweise bezieht sich weitgehend auf die Philosophischen Untersuchungen. Marjorie Perloffs Beitrag ist zwar mit „Towards Conceptualism: The Aesthetic of Kringel-Buch # 52“ überschrieben, der betreffende Absatz, MS 109, 84-7, ist jedoch einer derjenigen, die bereits 1977 in Vermischte Bemerkungen veröffentlicht wurden, worauf wiederum die 1998 erschienene, von Alois Pichler überarbeitete Ausgabe Culture and Value basiert. Und auf diesen Band bezieht sich die Autorin in ihren mit der Sigle CV gekennzeichneten Zitaten. Auf frühere Nachlasseditionen nehmen unter der Rahmenthematik „Kulturen und Werte“ eine Reihe weiterer Beiträge Bezug, etwa Marco Brusotti in „‚Es ist schwer sich an kein Gleichnis zu verlieren.‘ Zu einem sprach- und kulturphilosophischen Thema Wittgensteins“ oder Ilse Somavilla in „‚Das Höchste, was ich erreichen möchte’: Wittgensteins Suche nach Ausdruck“.

In den Schlusskapiteln spiegelt der Band die Breite der Wittgenstein-Rezeption in Musik und Literatur – dem Credo Terry Eagletons folgend, Wittgenstein sei der Philosoph der Dichter und Komponisten. Dass Eagleton dabei auch die Wittgensteinphilologie im Blick gehabt haben könnte, ist eine Vermutung, die ob der Fülle und Erfindungskraft der posthum erschienenen Bücher von Wittgenstein nicht ganz von der Hand zu weisen ist.

Titelbild

Wilhelm Vossenkuhl / Josef G. F. Rothhaupt (Hg.): Kulturen und Werte. Wittgensteins KRINGEL-Buch als Initialtext.
Bd. 1 der Reihe Über Wittgenstein, herausgegeben im Auftrag der Internationalen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e.V. von James Conant u.a.
De Gruyter, Berlin, Boston 2013.
495 Seiten, 109,95 EUR.
ISBN-13: 9783110277494

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