Zwischen ,Abteilung Attacke‘ und zahmem Zaudern

Sebastian Domschs Aufriss der englischen Literaturkritik im 17. und 18. Jahrhundert

Von Jürgen MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welchen Reiz bietet es, sich vom 21. Jahrhundert aus zurückzuwenden und die englische Literaturkritik des 18. Jahrhunderts zu betrachten? Was kann man noch erwarten, wenn sich mittlerweile selbst die Philologen von den eigentlichen Gegenständen (der ,schönen‘ Literatur) entfernen und stattdessen nur mehr das viel beschworene Beiwerk (Vorworte, Nachworte, Fußnoten) und die Kontexte (hier: kritische Reaktionen einer zeitgenössischen Leserschaft) in den Vordergrund ihrer Analysen rücken: Wenn also statt Aphra Behns Oronooko und Fanny Burneys Evelina nur mehr zeitgenössische anonyme Rezensionen zu diesen Texten gelesen werden? Was sollten uns derartige Dokumente heute noch sagen können? Ist das vielleicht der nächste Intervallschritt von der Sekundär- zur Tertiärliteratur, der den Abgesang der Literaturwissenschaft im Orchestergraben der Kulturwissenschaften begleitet?

Keineswegs. Denn, wie Sebastian Domsch in seinem Buch es formuliert, “perhaps the criticism of the period is less interesting for what it has to say about literature, than for what it has to say about criticism.” Und diese Aussage wiederum zeigt, wie trefflich sich nicht nur heute, sondern auch in früheren Epochen über literarischen Geschmack streiten ließ. Um es also gleich vorwegzunehmen: Diese Studie liefert einen wichtigen Beitrag zu einer großen und keineswegs auf die englischsprachigen Literaturen begrenzten Forschungslücke, die eine aktualisierte Erfassung der Entstehungsbedingungen und Entwicklungsverläufe der Literaturkritik in Europa im Lichte der Forschungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts zum Ziel hätte. Die maßgeblich vom „New Criticism“ beeinflussten Zugänge z.B. eines René Wellek (A History of Modern Criticism, 4 Bde., 1955-92) verdienten eine neue Betrachtung, und ein allzu generalistischer Ansatz wie Gary Days Literary Criticism: A History (Edinburgh 2007) könnte so vertieft werden.

Domschs dreiteilige Studie („A = The Age of Criticism“; „B = The Authority of Criticism“; „C = Conclusion“) bietet einen wichtigen Ansatz im Feld eines nicht-linearen und oft auch phasenverschobenen literaturgeschichtlichen Phänomens, insofern darin ein bislang weitgehend ungehobener Schatz an anonymer wie autorisierter Rezensions-Literatur aus der Presselandschaft des langen 18. Jahrhunderts in England freigelegt wird. Dabei rücken naturgemäß bestens erforschte Persönlichkeiten wie Joseph Addison, John Dryden, Samuel Johnson oder Alexander Pope in den Vordergrund, aber auch – und hier liegt die Stärke der Arbeit – eine Vielzahl von bislang vernachlässigten und daher kaum in handelsüblichen Ausgaben zugänglichen Kritikern wie Sir Fleetwood Sheppard und Charles Gildon. Auf diese Weise entsteht ein erhellender Dialog von oft nicht erst postum etablierten Autoritäten und solchen, die dies einmal waren (wie John Dennis, Thomas Rymer, Oliver Goldsmith, Tobias Smollett) beziehungsweise die dazu werden wollten: so wie der aus Amerika eingewanderte James Ralph, der den Fehler beging, sich aus sozial prekärer wie intellektuell unterlegener Position mit einem Kritikerpapst wie Pope anzulegen. Es werden in dieser umfangreichen und ausgesprochen materialreichen Studie verschiedenste kritische Haltungen und Existenzformen sichtbar, die einen genauen und unverstellten Blick auf den von uns Spätmodernen oft als monolithischen Block wahrgenommenen „Neoklassizismus“ erlauben sollen, und die sich demzufolge in petit récits von Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem auflösen. Dazu gehört auch das Abrücken von alten Denkgewohnheiten: „the stereotype of neoclassicisms unadorned Aristotle-worship is an anachronism at any given time one cares to look at, if only one looks close enough”. Domsch gelingt es mit Hilfe eines breiten Spektrums an bekannten und unbekannten Quellentexten zu zeigen, dass in der Tat kaum zwei Kritiker sich auf eine gemeinsame Position in ihren Einstellungen zur Literatur festlegen ließen, so dass die Gleichung „Neoklassizismus = Aristotelismus“ keineswegs restlos aufgeht.

In Domschs Material finden sich eine Menge unterhaltsamer Preziosen, und in den Analysen des Verfassers ist eine Vielzahl von wertvollen Einsichten enthalten, die deutlich machen, wie wichtig weitergehende Untersuchungen zur Literaturkritik diesseits und jenseits des Englischen Kanals sind. Besonders plastisch gerät ihm das Nachzeichnen des Kampfes nicht allein um die Deutungshoheit von Texten, wie ihn Autoren und Kritiker oder auch Kritiker untereinander ausfochten, sondern auch um die Gestaltungshoheit dieser Texte im Falle von Herausgeberschaften, bis hin zu der (nach wie vor in der Editionskritik verbreiteten) Ansicht, dass letztlich die Philologen besser als die Autoren selbst in der Lage seien, deren eigentliche Intentionen zu erschließen und ihren Wortlaut dementsprechend zu korrigieren („emendieren“). Immer wieder aber zeigt Domsch auch auf, wie einzelne Kritiker ihren eigenen ästhetischen, poetischen, oder editorischen Ansprüchen nicht gerecht werden konnten – und wie folglich ganze Werk-Ausgaben, seien es solche von Shakespeare oder von Milton, von begabten aber übereifrigen Herausgebern wie William Warburton oder Richard Bentley textlich entstellt wurden.

Manche der Kritiker waren aber auch, wie Domsch es ausdrückt, schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort – so wie John Dennis, dem er zusammen mit Samuel Johnson viel Raum gibt, um beide als gegensätzlich vermarktete „Kritiker-Institution“ zu charakterisieren. Dennis war dabei deutlich im Nachteil, hatte er doch nicht, anders als Johnson, Oliver Goldsmith oder zuvor auch Joseph Addison und Richard Steele, die Macht (s)einer Zeitschrift und ein verzweigtes literarisches Netzwerk als Stütze. Daher konnte er rasch zur solitären Projektionsfläche seiner Gegner beziehungsweise zum bloßen Reizwort ,John Dennis‘ stilisiert und attackiert werden. Auch Johnson fand sich durchaus negativ als „Baal, Caliban, Colossus“, als Walfisch, Götze oder Fels karikiert, aber in seinem Fall überwog doch die Popularität, zu der er maßgeblich über seinen unverwechselbaren Schreibstil gelangt war – und, wie Domsch betont, Johnson wahrte im Angesicht der Kritik die Ruhe („he kept his cool“): „Johnson the publicity genius took most of the attacks for what they were: a gain in publicity that emphasized his standing in the republic of letters and was best greeted by dignified silence“. Wie an anderer Stelle dieser Studie argumentiert wird, hat Johnsons Schweigen zugleich auch eine abstrafende Funktion gegenüber ,schlechten‘ Büchern, indem er es strategisch einsetzte: „the gate-keeper critic becomes a censor, not of books about to be published, but of these books’ existence in the minds of the audience, who never even hear about them.“ Schlechte Werbung lässt sich noch positiv ummünzen, aber überhaupt nicht besprochen zu werden bedeutete, das Buch-Produkt dem Vergessen anheimzustellen. In einer Vielzahl von oft dialogisch gegenübergestellten Einzelgeschichten, stellen sie nun einen Johnson, einen Dennis, einen Bentley oder die vielen anderen, oft kleineren Protagonisten der Zeit als Pedanten, Kritiker, oder Herausgeber in den Vordergrund, zeigt Domsch seinen analytischen Scharfsinn ebenso wie seine Stärken sowohl der Materialrecherche als auch im narrativen emplotment dieser Quellen auf. Seine Studie ist, von diesem Blickwinkel aus betrachtet, mehr als nur kenntnisreich; sie ist über weite Strecken sehr unterhaltsam und informativ, kurz: ausgesprochen lesenswert.

Doch bei allem Lob bleibt Anlass zur Kritik, die jedoch eher aus fachwissenschaftlicher Sicht geäußert werden muss und angesichts des Publikationsortes – Verlag, Reihe – auch geäußert werden darf. Denn bei dieser Studie handelt es sich um die Überarbeitung einer Habilitationsschrift; einem Genre also, das bekanntermaßen nicht ohne spröde theoretische Entwürfe oder Modellierungen auskommt. Im Gegensatz dazu verzichtet diese Arbeit darauf, ruft aber doch mehrfach drei komplexe soziologische Paradigmen auf, die leider nicht in Beziehung zueinander gesetzt werden. Fast möchte man angesichts dieser ,Diskursinseln‘ annehmen, dass auf die ausführlichere Auseinandersetzung mit diesem Triumvirat der deutschsprachigen Soziologie des 20. Jahrhunderts mit Rücksicht auf eine internationale anglophone Leserschaft verzichtet wurde. Das ist befremdlich, weil doch Max Weber, Niklas Luhmann und Jürgen Habermas international rezipiert werden.

So deutet der Verfasser in Teil B zunächst einen Rückgriff auf Webers dreigliedrige Herrschafts-Konzeption an – doch abgesehen von einer knappen Zusammenfassung seiner Kategorien verblasst dieser Bezugspunkt zunehmend. Domsch formt sich zwar Webers Kategorien zurecht: als „Aristocratic Authority“, was Webers „Herrschaft“ entspricht, als Domschs „Autority of Seniority“ entspricht Webers „Tradition“, und die „Authority of Genius“ lehnt sich an Webers Konzept „Charisma“ an. Doch dass dieser triadische Herrschaftsbegriff einen übergeordneten theoretischen Bezugspunkt für Domschs Argumentation darstellte, sei hier bezweifelt, denn im Verlauf der weiteren Kapitel unterbleiben jegliche weitere Hinweise auf Webers Ansatz. Vielmehr rücken in Kapitel 9 und 10 die schon im Titel platzierten Anleihen bei der Luhmann’schen Systemtheorie maßgeblich durch hie und da eingestreute Signalwörter und -phrasen („functional differentiation“ und „emergent“ sind dabei neben „self-referential“ die prominentesten) in den Vordergrund. Gerade die verschiedenen außer- und binnenliterarischen „Umwelten“ werden im Hinblick auf das gesellschaftliche Subsystem „Literaturkritik“ kaum als solche definiert und thematisiert; es fließen lediglich einige ihrer Bestandteile vom Rande her in die Argumentation ein. Wohl finden sich vereinzelte Hinweise auf gängige Publikationsforen in zeitgenössischen periodicals, essays und treatises, aber insbesondere systemexterne Faktoren werden auf makroanalytischer Ebene stets nur angedeutet. Wenn etwa die besondere Situation in England mit ihrer Verschiebung von Zensur in Richtung auf die Literaturkritik skizziert wird, so bleibt es bei einer Aussagenreihung, ohne dass man einen Einblick in die eigentlichen parlamentarischen Kontroversen vermittelt erhält: „When Parliament failed to renew the Licensing Act in [1695], the system of pre-publication control over literary production ceased to exist. Though there were still possibilities for the government to prosecute publications it deemed libellous, seditious, or irreligious, by taking the author, printer or bookseller to court, the chronology had shifted decisively: publication now preceded the (critical) act of censorship.” Jenseits aller detailreichen Darstellung von publizistischen Bücherschlachten oder individuellen Attacken der beteiligten Kritiker und Autoren fallen dergleichen Einblicke in äußere und innere Dynamiken des sozialen Systems „Literaturkritik“ allzu kurz aus – und auch der Verweis auf Miltons Areopagitica ist für die Beschreibung des Einwirkens der Politik auf den Literaturbetrieb noch nicht ausreichend. Hier und an anderen Stellen wäre durchaus mehr Mut zur Interdisziplinarität gefragt gewesen. Zu guter Letzt bietet auch der zweimal beiläufig erwähnte, aber wiederum theoretisch nicht eingeordnete Habermas’sche Begriff der „öffentlichen Sphäre“ einen dritten soziologischen Bezugspunkt, der in der Arbeit nicht weiter reflektiert wird.

Der Verzicht auf eine konsequentere (literatur-)soziologische Rahmung hat nun aber wohl erst jenen narrativen Lesefluss ermöglicht, der die vorliegende Studie im besten Sinne kennzeichnet. Statt einer entsubjektivierten makroanalytischen Modellierung werden wichtige Konfliktlinien entlang solcher Begriffe wie Autorität, Bildung / „Learning“, Regularität / „Rules“ und Geschmack / „Taste“ mikroanalytisch individualisiert, und es finden sich dabei wohl nicht zufällig vereinzelte Metaphern aus anderen Diskursformationen, wenn etwa anthropomorphisierend von der ,Geburt der modernen philologischen Gelehrsamkeit‘ („birth of modern philological scholarship“) die Rede ist. Dies hat zur Folge, dass die eigentliche methodische Verortung der Studie letztlich doch eher einem historiografischen Duktus verpflichtet ist. Dabei wiederum ist augenfällig, dass einige einschlägige anglistische Studien zur englischen Literaturkritik des 18. Jahrhunderts nicht einmal in Abgrenzung referiert werden (stellvertretend seien hier sowohl Barbara Schmidt-Haberkamps Shaftesbury-Studie Die Kunst der Kritik [2000] als auch Klaus Stierstorfers Konstruktion literarischer Vergangenheit [2001] genannt).

Zieht man nach der Lektüre des Bandes Bilanz, dann möchte man doch eine konsequentere theoretische Rahmung einfordern, kann aber zugleich die konkreten inhaltlichen Erkenntnisse nicht genug würdigen. Es ist und bleibt ein riskantes Bestreben, die schwere Kost einer fest in den deutschsprachigen Institutionenapparat eingebundenen Habilitationsschrift für ein englischsprachiges Fachkollegium durchs Auslassen wichtiger generischer Merkmale zuzubereiten – dies kommt der berühmten Quadratur des Kreises gleich. Immerhin, was die Kombination von Erkenntnisgewinn und Lesbarkeit betrifft, ist dem Autor dieses Unterfangen über weite Strecken gelungen. Dem Buch ist daher die angestrebte internationale Rezeption zu wünschen, denn nicht zuletzt bietet es allemal eine Vielzahl von möglichen Anknüpfungspunkten für weitere Arbeiten zu dieser spannenden und ertragreichen Thematik.

Titelbild

Sebastian Domsch: The Emergence of Literary Criticism in 18th-century Britain. Discourse Between Attacks and Authority.
De Gruyter, Berlin, Boston 2014.
409 Seiten, 119,95 EUR.
ISBN-13: 9783110356168

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