Wie man miteinander reden und diskutieren sollte

Simon Meier erzählt die Geschichte der Gesprächsideale des 20. Jahrhunderts

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was kennzeichnete im vergangenen Jahrhundert ein gutes Gespräch? Welche Maßstäbe wurden für die Bewertung eines idealen Gesprächs zu Grunde gelegt? Die Geschichte der Normen der stets auf Neue auszuhandelnden Gesprächsideale und der Gesprächsreflexion stellt Simon Meier in seiner Berner Dissertation für das kurze 20. Jahrhundert dar. Dazu erläutert er ausführlich den Stand der Forschung, begründet plausibel seine methodischen Entscheidungen und die Zusammenstellung seines Quellenkorpus. Nach der Darlegung der Theorie der Denkstile nach Ludwik Fleck, mit deren Hilfe Meier die Entwicklung der Gesprächsideale beschreiben will, beziehungsweise der Unterscheidung der Begriffe Gespräch und Dialog arbeitet er heraus, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Dialogphilosophie um Martin Buber das „echte Gespräch“ zum Ideal erhebt, welches als privat-intimes, symmetrisches Zwiegespräch zwischen zwei Teilnehmern (Ich – Du) geschieht. Dieses Gespräch unterscheidet sich von einem empraktischen, zielorientierten und argumentativen Austausch oder einer oberflächlichen Konservation, da es sich dem Miteinandersein, der Verbundenheit und Erschließung des anderen sowie der Personenwerdung widmet. Dieses Ideal eines Gesprächs in einer Gemeinschaft steht im Gegensatz zum „Gerede“ in der Gesellschaft und nimmt insgesamt eine öffentlichkeitskritische Haltung ein. Folglich erkennen seine Vertreter in der „Vergesellschaftung und Funktionalisierung der zwischenmenschlichen Kommunikation“ eine „Verfallserscheinung“. Dieses Gesprächsideal findet Meier in der Existenzialphilosophie Karl Jaspers‘ – wenn auch unter anderen theoretischen Vorzeichen – bestätigt.

Eine kurzfristige Umorientierung der Gesprächsideale tritt nach dem Zweiten Weltkrieg ein, als man in Westdeutschland in Folge der Reeducation-Programme der Alliierten der kompromissbereiten, pragmatischen, formalisierten und strukturierten sowie öffentlichen Diskussion den Vorzug vor dem sich jeder Planung entziehenden und sehr persönlichen Gespräch gibt. Allerdings räumt man ab Mitte der fünfziger Jahre wieder dem Gespräch in der Gemeinschaft den Vorrang ein, die Gemeinschaft soll als Ausgangspunkt für die Begründung einer demokratischen Gesellschaftsordnung fungieren. Dagegen erfährt die Diskussion als Kommunikationsform der „mechanisierten Massengesellschaft“ eine Abwertung. Meier erkennt in dieser Wende eine Abkehr von der alliierten Demokratisierungspolitik, zu der auch Diskussionsveranstaltungen gehören.

Dieser Rückzug in die Gemeinschaft hält bis in die späten sechziger Jahre an. Mit der Entwicklung des rationalen und herrschaftsfreien Diskurses durch Habermas erfolgt eine Aufwertung der öffentlichen Diskussion. Die Gespräche dienen nun weniger der Personenwerdung wie in den zwanziger Jahren, sondern insbesondere der Legitimation und Rationalisierung politischer Normsetzung. Die auf Habermas aufbauende Diskursethik nimmt zwar aus der hergebrachten Gesprächsreflexion etablierte Grundsätze wie die Anerkennung der Sprecher als gleichwertige Teilnehmer auf, orientiert sich aber bis in unsere Gegenwart am Paradigma der öffentlichen Diskussion als Ideal für eine politische Willensbildung.

Am Beispiel der Religionen und Pädagogik zeigt Meier, wie die jeweiligen Gesprächsnormen aufgenommen und reflektiert wurden. So rezipiert die katholische Kirche dialog- und existenzphilosophische und schließlich auch diskursethische Konzepte und etabliert einen Dialog der Kulturen, „der durch Anerkennung kultureller Vielfalt bei gleichzeitiger Herstellung von Gemeinsamkeit geprägt sein soll“.

Für die Pädagogik weist Meier nach, dass nach 1945 wie in der Gesellschaft auch für die Schule die angelsächsischen Diskussionsformate zur Gesprächserziehung eingesetzt werden. Allerdings drängt in den fünfziger Jahren die Begegnungspädagogik, von der Dialog- und Existenzphilosophie beeinflusst, diese Formen wieder zurück. Man zielt auf eine „Erziehung zur Sittlichkeit“ in einem Gespräch in der Gemeinschaft. Unter dem Einfluss der Theorien von Habermas und der Kommunikationswissenschaft erfolgt jedoch auch in der Pädagogik die Aufgabe der Gemeinschaftsorientierung, und die rationale Diskussion wird zum pädagogischen Ideal erhoben. Als wichtigstes Lernziel der Gesprächsdidaktik stellt sich seit den achtziger Jahren „das Wissen um die Vielfalt und Komplexität kommunikativer Wirklichkeit“ heraus. Zu ergänzen sind an dieser Stelle die von Meier nicht berücksichtigten, aber durchaus erfolgreichen Versuche der neunziger Jahre, den herrschaftsfreien Diskurs nach Habermas etwa im „literarischen Diskurs“ im Unterricht zu etablieren.

Meier gelingt es durch seine kenntnisreiche und teilweise transdisziplinäre Studie, eingehend und gründlich die Geschichte der Gesprächsreflexion für das 20. Jahrhundert zu erzählen. Nah an seinen Quellen lässt er diese oft sprechen und stellt detailliert die jeweiligen Gesprächsnormen dar. Durch die einerseits teilweise zu ausführliche und dadurch redundante Skizzierung einiger Schüler der führenden Theoretiker der Gesprächsreflexion verdeutlicht Meier andererseits, dass er die Materie weitreichend überblickt. Wie umfassend das Gebiet der Gesprächsreflexion tatsächlich ist, beweist nicht zuletzt sein umfangreiches Literaturverzeichnis.

In seiner Darstellung beschränkt sich Meier darauf, die jeweiligen Gesprächsideale zu beschreiben, historisch einzuordnen und sprachwissenschaftlich zu deuten. Er verzichtet auf ihre Bewertung – etwa in Bezug auf ihre Normativität, praktische Umsetzbarkeit oder Irrationalität – und auf einen Ausblick in die Gegenwart, der dem Leser eine Orientierung für seine Gespräche geben könnte. Auch nutzt er sein Fazit nicht, um die Geschichte der Gesprächsideale in ihren entgegengesetzten Strömungen zusammenfassend zu skizzieren. Dennoch stellt seine Studie eine lesenswerte Darstellung der Gesprächsideale im 20. Jahrhundert und eine Grundlage für die Hinterfragung der eigenen Gesprächsnormen im privaten und öffentlichen Raum dar.

Titelbild

Simon Meier: Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20. Jahrhundert.
De Gruyter, Berlin 2013.
396 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110314885

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