Die Diskretion der Bourgeoisie

Franco Morettis Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts

Von Friederike SchruhlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Schruhl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 19-jährige Robinson ist zu alt, um eine Lehre als Kaufmann zu beginnen, hat keine Lust, sich auf die Advokatur vorzubereiten und legt wenig Wert auf die Ratschläge seiner Eltern. Er will Abenteuer erleben. Er will zur See. Was sich als jugendliches Aufbegehren ankündigt, mündet nach dem Schiffbruch auf einer einsamen Insel in einer radikalisierten Form der bürgerlichen Existenz. Robinson stellt sich nicht heldenhaft gegen einen Tyrannen, bewährt sich nicht als mutiger Ehrenmann, vertraut nicht auf Gott oder Fortuna, sondern arbeitet. Er fängt Fische, legt Felder an und baut Werkzeuge. Selbst nachdem er die Befriedigung seiner Bedürfnisse „für die ganze Dauer [s]eines Aufenthalts auf der Insel, und wenn er auch noch vierzig Jahre währen sollte“, gesichert und „mehrere miteinander verbundene Gemächer“, „Ackerland“ und „einen lebendigen Vorrat von Fleisch“ erworben hat, lehnt er sich nicht zurück. Aus der schlichten Daseinsfürsorge entwickelt sich ein leidenschaftlicher Arbeitseifer. Das Abenteuer wird in Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719) zu einem rationalen Investment des stets betriebsamen und fleißigen Protagonisten. Doch warum arbeitet der Abenteurer Robinson Crusoe eigentlich so viel? Und warum wird ein Text, der sich im Wesentlichen in der Aufzählung erledigter Arbeiten erschöpft, zum Welterfolg?

Es ist sind diese Fragen, die den Ausgangspunkt von Franco Morettis Überlegungen bilden. Mit Rückgriff auf etliche Theoretiker, wie beispielsweise Karl Marx, Max Weber, Georg Lukács, Roland Barthes, Galvano Della Volpe und Lucio Coletti sowie mit Verweisen quer durch die europäische Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts beschreibt Moretti die Paradoxien des viktorianischen Zeitalters. Er identifiziert im prosaischen Stil des bürgerlichen Romans die Verbindung widersprüchlicher Impulse der bourgeoisen Kultur. Die bürgerliche Mentalität, so die zentrale These Morettis, manifestiert sich weniger in „klaren und eindeutigen Ideen“ als vielmehr in „unbewussten grammatischen Mustern und semantischen Assoziationen“.

Auf Wunsch Morettis erschien die Abhandlung Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne zeitgleich mit seinen gesammelten Essays zum Distant Reading am 4. Juni 2013. Das war eine strategische Entscheidung des Professors für Anglistik und Komparatistik der Stanford Universität und Leiters des dortigen Literary Labs, einer Forschungsstelle zur Untersuchung quantitativer Textanalyseverfahren. „Der Bourgeois untersucht eine Norm. Distant Reading analysiert Häufigkeiten.“[1] Mit dem gemeinsamen Veröffentlichungstermin wollte Moretti auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Arbeiten und ihrer angewendeten Verfahren hinweisen. „Es wird einmal eine ‚Versöhnung‘ der beiden Ansätze geben. Aber noch ist sie nicht in Sicht. Lasst uns in beide Richtungen gehen. Entschlossen, gründlich, furchtlos.“[2]

In seinem Essay zum Bourgeois verwendet Moretti Quellen, die es ihm erlauben, Texte computergestützt zu durchsuchen. Mithilfe von Google Books, der zu der Chadwyck-Healey Literature Collections gehörende Datenbank der Nineteenth-Century Fiction und dem Korpus des Stanforder Literary Labs ist es ihm möglich, englischsprachige Texte zwischen 1782 und dem 19. Jahrhundert auf Häufigkeiten zu untersuchen. Die Schlüsselworte beziehungsweise Stichworte, die Moretti durch diese quantitativen Verfahren destilliert, waren zur Hälfte Adjektive: „fest“, „treu“, „nüchtern“, „klar“, „frisch“. Das Parse-Verfahren zeigte zwar, dass die Frequenz von Adjektiven zwischen 5,7 bis 6,3 Prozent aller Wörter eines Textes liegt und dass somit viktorianische Autoren im Vergleich zu anderen Autoren des 19. Jahrhunderts nicht häufiger Adjektive gebrauchen, lieferte aber dennoch einen entscheidenden Hinweis für Morettis Untersuchung. Signifikant war nicht die Häufigkeit der Adjektive, sondern vielmehr ihre Verwendung. Wurde bei Robinson Crusoe das Wort „stark“ fast ausschließlich mit konkreten Gegenständen verbunden, wie beispielsweise „Ankertau“, „Ebbe“, „Floß“, „Zaun“, verkehrt das Muster sich eineinhalb Jahrhunderte später in sein Gegenteil. In dem Roman North and South (1855) von Elizabeth Gaskell wird „stark“ in Verbindung mit „Wille“, „Wunsch“, „Versuchung“, „Stolz“ gebracht. Ein ähnliches Beispiel findet sich bei der Betrachtung des Adjektivs „dunkel“. Bei Robinson Crusoe wird es nur verwendet, um einen Mangel an Licht auszudrücken. Gaskell beschreibt damit aber auch „dunkles Anlitz“, „dunkle Stellen des Herzens“ oder „dunkle Stunden“. In Unser gemeinsamer Freund (1865) von Charles Dickens steht das Adjektiv „dunkel“ auch für „heimliche Pläne“ oder „das Vorzimmer der gegenwärtigen Welt“ und in George Eliots Middlemarch (1874) findet sich „dunkel“ zusammen mit Umschreibungen des „finsteren Zeitalters“, „die unerforschten Gebiete der Pathologie“ oder als „dunkler Schwarm Vögel von übler Bedeutung“.

Das Untersuchungsergebnis des viktorianischen Adjektivs bringt Moretti auf die Formel „weniger Moral, aber mehr Emotion; geringere Genauigkeit, aber mehr Bedeutung“. Wenn Gaskell, so Moretti, in ihrem Roman schreibt, dass sich „der Ausdruck ihres Gesichts, das stets ernst war, zu dunklem Zorn verdüsterte“ oder wenn in Samuel Smilesʼ Selbsthilfe (1894) von „scharfem Verstand“ spricht, dann ist darin ein diskretes, aber bestimmtes Werturteil erhalten. „Geradeso, als ob die Dinge der Welt ihre Bedeutung von selbst erklären würden“, folgert Moretti. „Viktorianische Adjektive nehmen kleine, schlichte Markierungen vor – und können sich das auch leisten, weil sie so häufig auftreten –, die sich unauffällig akkumulieren und zu einer Geisteshaltung aufaddieren“.

Das viktorianische Adjektiv, der „konzeptuelle Mittelpunkt“ von Morettis Überlegungen, zeigt, wie die Entzauberung der Welt rückgängig gemacht wurde, in dem jedes Detail mit der hegemonialen bürgerlichen Macht aufgeladen und bewertet wurde. Adjektive als „unauffällige Vehikel viktorianischer Werte“ entpuppen sich als machtvolle Strategien der Verleugnung von Herrschaft. „Hatte sich die europäische Bourgeoisie zunächst hinter uniformierte Bataillone geflüchtet, verbarg sie sich nun hinter einem politischen Mythos, der von ihr verlangte, sich als Klasse unkenntlich zu machen; ein Akt der Selbstverschleierung, der durch das unablässige Reden von der ‚Mittelklasse‘ noch erleichtert wurde.“

So sind auch die zahlreichen Einschübe in der Literatur des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Figuren, die miteinander spazieren gehen, Ausführungen über das Muster einer Tischdecke, detaillierte Schilderungen der Wetterlage, Plaudereien – Einschübe, die weder für den Fortgang der Erzählung sorgen, noch Hinweise auf Wendepunkte oder Figurenentwicklungen enthalten. Warum sind sie im 19. Jahrhundert trotzdem nicht langweilig? Zwischen den Wendepunkten der Handlung finden sich im bürgerlichen Roman immer häufiger Abschnitte, die ausführlich von Alltäglichkeiten berichten. 110 Einschübe lassen sich beispielsweise zwischen der Begegnung von Elizabeth und Darcy in Stolz und Vorurteil (1813) von Jane Austen finden, ehe sich die beiden nach 31 Kapiteln für die gemeinsame Heirat entscheiden. Moretti beschreibt Einschübe als Rationalisierungseffekt, durch den der Roman „in eine Welt mit wenig Überraschungen, noch weniger Abenteuern und ohne alle Wunder verwandelt wird“. Die detailreiche Beschreibung von unauffälligen Nebentätigkeiten sei die einzige erzähltechnische Innovation des 19. Jahrhunderts. Diese Einschübe passen zur neuen Regelmäßigkeit des bürgerlichen Lebens: sie irritieren nicht, sie sind unauffällig, aber markieren eine deutliche Distanz zum „karnevalistischen Treiben der Arbeiterklasse“. Ernsthaft betrachtet das bürgerliche Jahrhundert seinen Alltag.

Mit einer Analyse von Henrik Ibsens Die Stützen der Gesellschaft (1877) endet Franco Morettis Essay. Hier trifft ein moralisch integrer Bürger auf einen skrupellosen Prokuristen. Der eine interessiert sich für die Sicherheit der Schiffe und betont die soziale Verantwortung für die Arbeiter der Werft; der andere sorgt sich nur um seinen eigenen Profit. Was als Konflikt ausgetragen werden könnte, zeigt Ibsen in seinem Stück als „unversöhnlichen Unterschied“. Moretti folgert: „Der gute Bürger wird nie die Entschlossenheit aufbringen, sich dem schöpferischen Zerstörer entgegenzustellen und ihn aufzuhalten.“ Anhand von Ibsen führt uns Moretti „die Impotenz des bürgerlichen Realismus gegen die Megalomanie des Kapitalismus“ vor Augen. Das ist der Geist der Bourgeoisie, der bis in die Gegenwart weht.

 Anmerkungen:

[1] Interview in der Frankfurter Rundschau, von Arno Widmann [5.2.2015]. Zuletzt aufgerufen am 15.2.2015.

[2] Ebd.

Titelbild

Franco Moretti: Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne.
Übersetzt aus dem Englischen von Frank Jakubzik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
275 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424599

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