Auflösung in die Ordnung

Michel Houellebecqs Roman zur Lage der Nation

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während einige Bücher ihre Skandalwirkung nach der Lektüre entfalten, genügte bei Houellebecqs letztem Roman „Unterwerfung“ ein lange vor dem Erscheinungsdatum bekanntes Element aus dem Inhalt, nämlich die Wahl eines Moslems zum Präsidenten Frankreichs, um dem Text seinen Platz in den öffentlichen Debatten zu sichern. Diese hatte bereits geraume Zeit vor Houellebecqs belletristischem Beitrag ein Werk der politischen Essayistik belagert: „Le suicide français“ („Der französische Selbstmord“) des Journalisten Eric Zemmour. Wen der Titel des Werkes vage an Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ erinnert, liegt durchaus richtig. In beiden Fällen artikulieren die Autoren die Befürchtung, dass die „eingewanderte“ Bevölkerung – worunter man sich in Deutschland stereotyperweise Türken, in Frankreich eher Araber vorstellt – die „einheimische“ Bevölkerung in gewisser Weise „ersetzt“. Und da die einheimische Bevölkerung dies einfach so geschehen lässt, anstatt sich zu wehren, ist der Begriff des „Selbstmords“ (oder der Selbstabschaffung) angebracht. Warum die „Einheimischen“ sich nicht wehren (am Ende haben sie die Gefahr gar nicht erkannt!), wird in beiden Werken nicht ganz klar, obwohl die Autoren stets um Klarheit bemüht sind und auch den Rückgriff auf Statistiken nicht scheuen. Nun ja, es ist jedenfalls ein weites und keineswegs medial unterbelichtetes Feld, auf das sich Houellebecq mit seinem Roman begeben hat, was die Analyse seines Romans, ganz unabhängig von der Koinzidenz seines Erscheinens mit dem Terroranschlag auf „Charlie Hebdo“, erschwert. Lohnend ist sie aber allemal. Denn sieht man davon ab, die Plausibilität der Romanhandlung mit der Plausibilität der im Roman entfalteten politischen Entwicklung gleichzusetzen (dass Frankreich je eine muslimische Partei und gar einen muslimischen Präsidenten haben wird, darf bezweifelt werden), bietet der Roman durchaus Erhellendes, wenn auch wenig Ermunterndes.

Da ist zum einen die Einsicht, dass auch wenn alle Medien mehr oder weniger sozialliberale Positionen vertreten, dies ein Land noch keineswegs vor dem Abdriften in kaum mehr liberale Verhältnisse schützt. Während sie permanente Informiertheit suggerieren, bleiben die Medien im entscheidenden Moment stumm: Über die bürgerkriegsähnlichen Vorfälle, die das Frankreich des Romans, d.h. Frankreich im Jahr 2022, heimsuchen, kann sich die Hauptfigur François nur durch Gerüchte und eigene Beobachtungen ein Bild machen. Die Presse schweigt geschlossen zu den Ausschreitungen, hinter denen man rechtsextreme, aber auch islamistische Kreise vermuten kann. Statt unabhängiger Information herrscht strategische Desinformation, die jedoch lediglich als „Blackout“ erscheint. Ist das Bild wieder da, ist auch François’ Medienrealität wieder intakt, die üblichen Programme und gewohnten Gesichter erfüllen ihre normalisierende Funktion. Da Normalität auf Dauer aber langweilt, muss sie mit kleinen Abweichungen angereichert werden: Fußball-WM-Endspiele und Präsidentschaftswahlabende sind solche Abweichungen, bei denen François’ Zuschauerherz höherschlägt, und es ist geradezu rührend, wie der Literaturprofessor diese Fernsehereignisse zelebriert: Nachdem beim ersten Wahlgang seine Mikrowelle streikt, er sein Fertiggericht also in der Pfanne erhitzen muss und so die meisten Argumente im Bratlärm untergehen, besorgt er für den zweiten Wahlgang verschiedene Kaltspeisen (Tamara, Humus, Blinis). Dieses Mal kann nichts schiefgehen, von der Wahl einmal abgesehen: der rechtsextreme Front National ist erwartungsgemäß deutlich stärkste Partei, weniger erwartungsgemäß liefert sich aber an zweiter Stelle die Bruderschaft der Muslime (die wohlgemerkt nur im Roman als französische Partei existiert) ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Sozialisten. Am Ende führt diese Konstellation dazu, dass Ben Abbes, der Kandidat der Bruderschaft der Muslime, von einem „Front républicain“ (d.h. einer Koalition nicht-extremistischer Parteien zur Abwehr des Front national) zum Präsidenten gemacht wird. Insofern ist es nicht ganz unzutreffend, wenn Moderator David Pujadas (das Nachrichtengesicht des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Frankreich) die Hochrechnungen mit dem Begriff des „Erdbebens“ kommentiert. Aber in der journalistischen Rhetorik kommen politische Erdbeben bekanntlich häufiger vor, weshalb der Leser François’ Eindruck einer geheimen Lust der Moderatoren an diesem „Erdbeben“ mühelos nachvollziehen kann. Wo Politik und demokratische Wahlen Fernsehsendungsformat annehmen und damit Unterhaltungszwecken dienen, ist Abwechslung, notfalls auch in Erdrutschdimensionen, willkommen. Sie bringt die nötige Würze. Als besonders zuträglich stuft François dabei die Beteiligung rechtsextremer Parteien mit ihrem flair faschistischer Bedrohung ein – glückliches TV-Frankreich!

Nun braucht es keinen Houellebecq, um die Funktionsweise von Medien zu erörtern, die eben keinen Zugriff auf Realität erlauben, sondern selbst eine solche produzieren. Interessant ist die Analyse des Romans aber dennoch, weil Houellebecq sie mit einem in Frankreich besonders ausgeprägten Problem verbindet, nämlich der Kluft zwischen politisch-gesellschaftlicher „Elite“ und dem „Volk“. Die Medien sind im Roman nicht nur eindeutig mit der politischen Klasse verwoben, sie spiegeln dieser auch ständig die eigene im weitesten Sinne liberale, politisch gemäßigte Weltsicht wider. Da auch die Konsumenten der Leitmedien, etwa Akademiker wie François, diese Sichtweise teilen, verwundert es kaum, dass den führenden gesellschaftlichen Schichten der wachsende Zulauf für extreme Parteien zwar nicht verborgen, aber doch rätselhaft bleibt. Massive Veränderungen der politischen Lage können also auch unter modernen Informationsbedingungen geschehen, ohne dass sich eigentlich „Widerstand“ breitmacht. Treffend lautet es im Roman: „Wahrscheinlich ist es für Menschen, die in einem bestimmten sozialen System gelebt und es zu etwas gebracht haben, unmöglich, sich in die Perspektive solcher zu versetzen, die von diesem System nie etwas zu erwarten hatten und einigermaßen unerschrocken auf seine Zerstörung hinarbeiten.“ François selbst spürt, wie er allmählich als „normal“ hinnimmt, was ihn doch beunruhigen müsste: „Während ich darüber nachdachte, wurde mir klar, wie wenig ich wusste, und als die Pressekonferenz zu Ende ging, begriff ich, dass ich genau dort war, wo Ben Abbes mich haben wollte: Es gab ein paar Zweifel allgemeiner Art, aber vor allem das Gefühl, dass da nichts war, worüber man sich aufregen müsse, nichts wirklich Neues.“ Dem geschickten Politiker Ben Abbes, der in den Medien stets konziliant und mit sozialdemokratisch-humanistischen Positionen auftritt, gelingt ein fast unbemerkter „Umsturz“ der Verhältnisse. François’ Prognose, „dass der sich seit Jahren verbreiternde, inzwischen bodenlose Graben zwischen dem Volk und jenen, die in seinem Namen sprachen – also Politikern und Journalisten –, notwendigerweise zu etwas Chaotischem, Gewalttätigem und Unvorhersehbarem führen musste“, tritt insofern nicht ein oder jedenfalls nicht in der erwarteten Dramatik.

Dadurch verliert die Kluft zwischen Volk und politischer Klasse allerdings nicht an Bedeutung, sie bestimmt im Roman nicht zuletzt das Verhalten der „gemäßigten“ Rechten, die eine Koalition mit dem Front national vor allem deshalb scheut, weil sie lediglich Juniorpartner wäre. Wie sehr die „gemäßigt“ rechte UMP im eigenen Lager von der Diskrepanz zwischen politischer Klasse und Wählerschaft betroffen ist, zeigt sich, so sei ergänzt, bereits im nicht-fiktionalen Jahre 2015. Wenn sich die UMP aktuell nicht dazu durchringen kann, eindeutige Wahlempfehlungen gegen die jeweiligen Kandidaten des Front National auszusprechen, dann äußert sich darin nicht die Meinung der Parteiführung, sondern die mehrheitliche Meinung der UMP-Wähler, die rechtsextremen Positionen aufgeschlossen gegenüberstehen. Diese Wählerschaft ist es, auf die die neue alte Führungsfigur der UMP, Nicolas Sarkozy, abzielt, nicht unbedingt zur Freude seiner Parteikollegen. Diese ordnet auch Houellebecq in seinem Roman zum mehr oder minder „sozialdemokratischen“ Konsens, dem er zugleich die Bereitschaft zu europäischer Integration attestiert.

Dass auch dies keine Mehrheitsmeinung darstellt, lässt der Roman deutlich anklingen. Was „das Volk“ zu Ben Abbes’ Version von europäischer Integration meint, bleibt allerdings offen. Diese orientiert sich vor allem nach Süden, in den Mittelmeerraum – eine Idee, die zu seiner Amtszeit Sarkozy prominent machte und die im Roman durchaus positive Züge trägt. Es mag dahingestellt bleiben, ob und über welche Themen Houellebecq mit Sarkozy gesprochen hat – ein Gast-Editorialist der linken Zeitschrift „Le nouvel observateur“ will aus wohlinformierten Kreisen von solchen Gesprächen erfahren haben –, denn die politischen Visionen, die der Roman zeichnet, sind nicht um ihrer selbst willen interessant. Sie sind es nur, sofern sie aktuelle Diskurse greifbar machen: und einer dieser Diskurse ist zweifelsohne der „demographische“. Was Ben Abbes mit seinem Ausgreifen in den Mittelmeerraum, aber auch etwa in die Türkei bezweckt, ist nämlich nicht in erster Linie eine Islamisierung Europas im Sinne einer „Bekehrung“ möglichst vieler Menschen. Vielmehr stehen im Roman der Islam bzw. islamische Länder für ein politisches System, das die Reproduktion des Staates garantiert, und dies viel zuverlässiger als nicht islamische Länder, in denen die individuelle Freiheit der Reproduktion gefährlich zu werden scheint.

Diese Hypothese wird im Roman mehrfach ausgeführt: Gleich zu Beginn äußert sie François, der seiner Freundin Myriam gegenüber Zweifel hegt, ob die Emanzipation eine so gute Idee gewesen sei. Auf die Frage, ob er das Patriarchat bevorzuge, antwortet er „demographisch“ korrekt: „Ich bin für gar nichts, wie du weißt, aber das Patriarchat hatte zumindest den Vorzug zu existieren, also ich meine, als Sozialsystem, es hatte Bestand, es gab Familien mit Kindern, die im Großen und Ganzen nach demselben Muster lebten, kurz, es funktionierte; jetzt gibt es nicht mehr genug Kinder, da hat es sich erledigt.“ Etwas später referiert auch Lempereur, ebenfalls Literaturprofessor, allerdings, wie François bemerkt, rechtsintellektueller Orientierung, die These vom „selektiven Fortpflanzungsvorteil“, den Transzendenz und Patriarchat mit sich brächten: „diejenigen Paare, die sich zu einer der drei Buchreligionen bekennen, die an den Werten des Patriarchats festhalten, bekommen mehr Kinder als atheistische oder agnostische Paare; die Frauen seien weniger gebildet, Hedonismus und Individualismus seien weniger ausgeprägt.“ Bezeichnenderweise geht es bei Lempereur nicht speziell um den Islam. Vielmehr zitiert er die Positionen der „Identitären“, der Ideengeber der Rechtsextremen. Diese sind zwar anti-islamisch, könnten dem Islam, wie er im Roman auftritt, gesellschaftspolitisch aber kaum näher stehen. Gegen Ende des Romans ist es dann Rediger, der zum Islam konvertierte Präsident der Sorbonne, welcher die Überlegenheit der patriarchalischen Ordnung konstatiert: Der liberale Individualismus habe „zwangsläufig seine endgültige Niederlage besiegelt, als er die Kernstruktur der Gesellschaft, die Familie, und damit den Bestand der Bevölkerung angegriffen habe;“ Bestandssicherung, das ist das Ziel, Familie, das ist das Mittel.

In der Tat spielt denn auch die Familie die alles entscheidende Rolle in der Politik des neuen Präsidenten Ben Abbes. Wobei hier die Präzisierung Not tut, dass Familie konkret bedeutet: Frauen an den (heimischen) Herd und – da Polygamie als Option gesetzlich anerkannt wird –mitunter sogar mehrere Frauen pro „Herd“. Arbeitsmarktpolitisch ist die Maßnahme ein durchschlagender Erfolg, die Frauen räumen ihre Arbeitsstellen, die Arbeitslosenrate sinkt. Die für die Arbeitslosen eingesparten Leistungen fließen in die Sozialleistungen für Familien. Das Bildungssystem wird ebenfalls „familienfreundlich“ umgestaltet, Schulpflicht nur noch bis 12 Jahre, danach insbesondere für Mädchen höchstens ein wenig Hauswirtschaftsunterricht, die Jungs werden vor allem ins Handwerk vermittelt, der Familienbetrieb ist die neue wirtschaftliche Keimzelle.

Nun ließe sich auch hier an der Plausibilität eines solchen Szenarios zweifeln, aber geschickt ist es schon, wie Houellebecq in diese Visionen gegenwärtige Aspekte einflicht. So ist es überaus nachvollziehbar, dass die Sozialisten um das für die muslimische Partei zur Durchsetzung ihres Gesellschaftsmodells entscheidende Bildungsministerium ringen, weil dies ihre so ziemlich letzte politische Bastion darstellt. Und dass sie ihre Enttäuschung über den Verlust des Ministeriums wegstecken, als die Arbeitslosenzahlen traumhafte Tiefststände erreichen, scheint auch nicht jenseits aller Vorstellungskraft. Dass die Linke allgemein aufgrund ihres Antirassismus unfähig sei, Gefahren wie sie von Ben Abbes ausgingen, zu bekämpfen, ist eine These, die ähnlich auch heute schon kursiert. Ebenso direkt zurück ins Heute führen einige wirtschaftspolitische Details im Porträt der neuen Regierung. Denn was gibt es angesichts jahrzehntelanger Abwanderung der Industrie (von der Frankreich viel massiver betroffen ist als Deutschland) Sinnvolleres als die Förderung des Handwerks, der Familienbetriebe und der Selbstständigkeit? Zumal diese auf eine Jugend trifft, die ohnehin von nichts anderem träumt, als „ein eigenes Unternehmen“ zu haben – oder erst einmal zu „sein“. Die „entrepreneurials“, wie sie Houellebecq im Roman nennt, seien inzwischen die Meinungsführer der jungen Generation: „die liberale Rechte hatte den ‚Kampf der Ideen‘ gewonnen, das habe er [Ben Abbes] sehr genau begriffen, die Jungen seien unternehmerorientiert und die Herrschaft der Marktwirtschaft sei einhellig anerkannt.“ Wobei Marktwirtschaft im Frankreich Ben Abbes ohne den Zusatz „soziale Marktwirtschaft“ zu verstehen ist. Solidarität mit Armen und in Not geratenen wird stattdessen dem „warmherzigen Rahmen der Familie“ überlassen. Klingt gut, aber: „‚Der warmherzige Rahmen der Familie‘ war seinerzeit noch größtenteils Programm; der neue Haushaltsentwurf der Regierung war da schon deutlich konkreter, schrieb er doch im Laufe der kommenden drei Jahre eine Verringerung der staatlichen Sozialausgaben um 85 Prozent fest.“

Welche mittel- und langfristigen Folgen die Ben Abbes‘sche Politik zeitigt, ist nicht mehr Thema des Romans. Er konzentriert sich auf die Anfangsphase der neuen Regierung und unmittelbare Wirkungen. Erwähnt werden sinkende Kriminalitätsraten (die Bruderschaft der Muslime genießt Autorität dort, wo es darauf ankommt), ein neues Erscheinungsbild der Frauen in der Öffentlichkeit, die zum Leidwesen François’ nur noch Hosen und darüber figurverhüllende Tuniken tragen, sowie weniger sichtbar, aber doch massiv eine Auswanderungswelle, insbesondere unter der jüdischen Bevölkerung. Dieser (traurig aktuelle) Aspekt des politischen Umsturzes verdient dabei besondere Beachtung, weil Houellebecq ihn für eine fast schon groteske Pointierung von „Identitätsfragen“ nutzt: „Für mich gibt es kein Israel“. So kommentiert die Hauptfigur François den Abschied von seiner Freundin Myriam, die im Zuge der politischen Umwälzungen eher widerwillig mit ihrer Familie nach Israel auswandert. Die Juden, so lassen sich auch Myriams spätere mail-Nachrichten aus Israel lesen, haben es nicht leicht, aber sie wissen wenigstens, „warum sie da sind und wo sie hingehören.“ Zwar fühlte sich die 22-jährige Myriam noch kurz vor ihrer Abreise „Frankreich“ durchaus zugetan: „Ich liebe Frankreich!, sagte sie mit erstickter Stimme. ‚Ich liebe, ich weiß nicht, ich liebe Käse!‘“ Aber es ist eben so eine Sache mit der nationalen und erst recht der individuellen Identität, von möglichen Zusammenhängen zwischen beiden gar nicht zu reden, weshalb ein gerüttelt Maß an Eindeutigkeit, wie sie für Juden in Israel vorherrscht, doch sehr erstrebenswert scheint – jedenfalls für Menschen wie François.

Denn dieser würde sich eigentlich gerne in einer Art nationalen Identität auflösen, obwohl,  eigentlich würde er sich wohl doch eher ungern für sein Land aufgeben, wie er bei einem Lektüreabend zu Charles Péguy, dem katholisch-sozialistischen Frankreichmystiker, feststellt. Zwar bezeichnet er seine Zugehörigkeit zur französischen Nation als eine eher „theoretische“, womit zumindest der Hauch eines Mängelgefühls bzw. Bedauerns einherzugehen scheint, andererseits beschreibt er Nationen als zerstörerische Konstrukte, was man übrigens nicht erst seit den Weltkriegen hätte merken können, sondern seiner Meinung nach jedem vernunftbegabten Menschen schon nach dem Krieg 1870 hätte klar sein müssen. Nein, das Aufgehen in einem größeren nationalen Ganzen sagt ihm nicht wirklich zu, er verspürt eher das Bedürfnis, sich „generell“ „aufzulösen“, was mal zu sehr abstrakten Suizidgedanken, manchmal aber auch zu Annäherungsversuchen an das Phänomen des Glaubens führt. Diese sind jedoch von Pannen gesäumt, Verschiedenes steht der spirituellen Erweckung entgegen, zur schier unüberwindbaren Hürde werden die Rauchmelder in der Abtei Ligugé, die François, seinem großen „Freund“ und Forschungsgegenstand Huysmans folgend, besucht. Als er einen Rauchmelder in seiner Zelle entdeckt, ahnt er im Grunde schon, dass sein Aufenthalt zum Scheitern verurteilt ist.

Dies mag lustig-anekdotisch klingen, führt aber in den Kern von François’ Problem, welches sich als ein „biopolitisches“ beschreiben ließe. Denn wie so viele Zeitgenossen ist François in erster Linie auf seinen Körper angewiesen, wenn es darum geht, Glück und Zufriedenheit zu empfinden. Er meistert diese Situation auch durchaus tapfer, zelebriert seine Supermarktgänge, stellt liebevolle Menüs aus Fertiggerichten oder vom Lieferdienst zusammen, hat stets passende Weine parat und freut sich bei Einladungen über gute Küche und nicht minder über gute Alkoholika. Als sein spirituelles Erlebnis im Wallfahrtsort Rocamadour ausbleibt und er sich von der Mutter Gottes und ihrem Kind eher niedergedrückt, jedenfalls nicht erweckt fühlt, mutmaßt er daher, ganz Kenner seiner selbst: „Vielleicht hatte ich auch einfach nur Hunger. Ich hatte am Tag zuvor versäumt, etwas zu essen, und wäre vielleicht besser ins Hotel zurückgekehrt, um mir Entenschenkel servieren zu lassen, statt infolge einer mystischen Unterzuckerung zwischen zwei Sitzbänken zusammenzubrechen.“ Nun ist die Selbstironie dieser Sätze nicht zu überhören, die auch darauf hinweist, dass François sich der begrenzten Tragfähigkeit seines „Hedonismus“ als alleiniger Sinnquelle bewusst ist. Und dennoch markiert Houellebecq den Genuss zu eindeutig als dem Individuum auferlegte „Aufgabe“, um ihn einfach als Detail eines Charakters abzutun. Und so genügt es eben nicht, François’ Aktivitäten mit Escort-Damen als notwendiges Ingredienz houellebecq’scher Romane zu betrachten: Sex ist für François eine Frage der Lebenshygiene und der Selbstsorge: Es ist „Kants unklarer Begriff der ‚Pflicht gegen sich selbst‘“, der ihm im Kopf herumgeistert, als er eher lustlos erwägt, einen Escortservice in Anspruch zu nehmen. Er bucht schließlich gleich zwei Damen: „Das war natürlich teuer, doch die Umstände schienen mir etwas höhere Sonderausgaben zu rechtfertigen.“ Diese Umstände sind zuvor wie folgt beschrieben: „was ich sah, war, dass ich einmal mehr allein war mit meiner schwindenden Lebenslust und den zahlreichen Qualen, die mir bevorstanden.“

Mit Qualen ist in erster Linie administrativer Papierkram gemeint, wobei insbesondere der Briefverkehr mit der Krankenversicherung François belastet. Dieser ist zwar hellsichtig genug, um zu wissen, dass er als Universitätsprofessor eher privilegiert ist, was die Qualen des Lebens angeht (gesichertes Einkommen, relativ hohe soziale Anerkennung, jedenfalls in bestimmten Kreisen), aber was hilft das, wenn die „Lebenslust“ regelmäßig abhandenkommt? Eine Lebenslust, die man in der Folge durch mühsam austarierten Genussmittelkonsum wieder wecken muss? Es ist diese mühevolle Tätigkeit des okzidentalen Lebens, bei der sich François mehr Unterstützung wünscht – eine Unterstützung, die er letztlich, so ist die am Ende des Buches angedeutete Konversion zum Islam zu verstehen, in Form einer (polygamen) Ehe eventuell erhalten könnte. Ausdrücklich stellt François am Ende des Romans Parallelen her zwischen seiner möglichen Konversion und der Harmonie bürgerlicher Lebensentwürfe. Zum einen vergleicht er seinen Schritt mit dem „zweiten Leben“ seines Vaters, der nach der Trennung von seiner ersten Frau eine neue Frau gefunden hatte, die ihn geliebt haben muss (was François mit einer gewissen Verwunderung, aber besonnen feststellt – am Geld könne es nicht gelegen haben, denn die zweite Frau seines Vaters sei selbst wohlhabend genug). Zum anderen meint er unmittelbar vor seiner möglichen eigenen Konversion endlich die Huysmans und damit quasi den Menschen Huysmans „verstanden“ zu haben, der in der katholischen Religion viel weniger Transzendenz und neuen Sinn als die Entlastung von Sinnfragen suchte: „Das einzige echte Thema von Huysmans war das bürgerliche Glück, ein für den Junggesellen auf schmerzhafte Weise unerreichbares bürgerliches Glück“.

Ob François am Ende konvertiert, lässt der Roman offen. Aber dass er es nicht wegen des Islams oder einer spirituellen Erweckung, sondern des bürgerlichen Glücks wegen tun würde, ist klar. Dass dieses Glück ein Glück der Reproduktion ist (was es zum Verbündeten im demographischen Diskurs macht), liegt ebenfalls auf der Hand. Weniger klar ist aber, inwieweit die reine Reproduktion vom Leser als eine Zumutung oder als ein Segen empfunden werden soll. Auf der einen Seite gibt sich Houellebecq Mühe, die neue Ordnung nicht als apokalyptisch erscheinen zu lassen. Es ist am Ende von Liebe oder jedenfalls fürsorglichem Respekt die Rede, gar nicht so sehr von Unterwerfung, wie es der Titel andeutet. (Dass Feministinnen, und nicht einmal militante, sein Buch trotzdem als Apokalypse lesen müssen, sei hier allerdings nicht verschwiegen. Houellebecq gibt dies in Interviews auch offen zu, allerdings ist seiner Beobachtung, dass nicht alle Frauen Feministinnen seien, schwer zu widersprechen…). Und auch das politische Regime sucht Houellebecq ganz analog zu den privaten Verhältnissen nicht als Schreckensherrschaft zu zeichnen. Doch dann steht da dieser letzte Satz im Roman, der den Zustand nach Françoisʼ eventueller Konversion beschreibt. „Ich hätte nichts zu bereuen.“ Mit diesem Satz tritt er, um es mal derb auszudrücken, sein ganzes bisheriges Leben in die Tonne, womit aber zugleich gesagt ist, dass das neue Leben durchaus eine Zumutung darstellt, sonst bräuchte er es nicht durch die noch größere Zumutung des vorangehenden zu rechtfertigen.

Und so ist man am Ende der Lektüre nicht wirklich schlauer – was wohl unvermeidbar ist, wenn ein Roman sich vornimmt, den Wandel eines eigentlich doch linken Intellektuellen zum „unterworfenen“ Bürger zu beschreiben. Warum dieser Wandel an Undarstellbarkeit grenzt, hat schlicht mit Eigenschaften des Bürgerlichen zu tun. Wenn man darunter versteht, Bewährtes zu behalten, ist es derart offensichtlich vernünftig, dass man nicht lange darüber nachzudenken braucht. Versteht man aber darunter, das Gegebene zu bewahren, egal, ob es sich bewährt oder nicht, kann man es nur akzeptieren, indem man das Nachdenken einstellt. In beiden Fällen ist das Bürgerliche also intellektuell unergiebig. Dies bedeutet für Houellebecqs Roman, dass entweder der linke Intellektuelle François unplausibel ist, oder der François der Konversion. Dem Abhilfe zu schaffen, hat Houellebecq François mit deutlich selbstkritischen Äußerungen ausgestattet, am deutlichsten ist hier wohl der Ausspruch „fuck autonomy“, den François in Zusammenhang mit zwei ausnehmend kindischen arabischen Mädchen (den Ehefrauen eines gestressten Geschäftsmannes) gebraucht: „Natürlich verloren sie ihre Autonomie, aber fuck autonomy, ich kam nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich ohne Probleme und sogar mit großer Erleichterung auf jede Art von beruflicher oder geistiger Verantwortung verzichtet hatte.“ Der Literaturprofessor François, der nach dem Regimewechsel freigestellt ist (er darf direkt seine Pension beziehen, eine Rückkehr an die Sorbonne ist möglich, so er zum Islam konvertiert), stellt sich auf eine Ebene mit Mädchen, die ihr Glück in einer polygamen Ehe und der aufmerksamen Lektüre von Tick, Trick und Track-Heftchen finden. Er ist eben „auch nicht besser als sie“.

Die Frage ist nur, was beide Parteien von dieser Solidarisierung haben? Brauchen Menschen, die auf Autonomie gerne verzichten, Intellektuelle, die diesen Verzicht legitimieren? Und braucht eine Gesellschaft Intellektuelle, die dieser erklären, dass Autonomie Menschen überfordert? Houellebecqs Roman muss diese Fragen nicht beantworten, aber seine aktuelle publizistische Umgebung vielleicht schon.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Michel Houellebecq: Unterwerfung.
Aus dem Französischen übersetzt von Norma Cassau und Bernd Wilczek.
DuMont Buchverlag, Köln 2015.
300 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832197957

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch