Uferloses Heimweh

Lukas Hartmanns gelungener Roman „Abschied von Sansibar“ über eine gescheiterte Integration

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Texten wie „Pestalozzis Berg“ (1978), „Die Seuche“ (1992), „Die Tochter des Jägers“ (2002), „Die Deutsche im Dorf“ (2005), „Bis ans Ende der Meere“ (2009), „Finsteres Glück“ (2010) oder zuletzt „Räuberleben“ (2012) hat sich der Schweizer Lukas Hartmann (Jahrgang 1944) längst in die vordere Reihe der Schriftsteller seiner Heimat geschrieben. Neben weiteren Romanen zählen einige Kinder- und Jugendbücher ebenso zu seinem Œuvre wie auch Theaterstücke, Hörspiele und TV-Drehbücher.

Vielfach nimmt der studierte Germanist und Psychologe, der als Lehrer, Journalist und Medienberater gearbeitet hat und mit der Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga verheiratet ist, tatsächliche Begebenheiten zum Ausgangspunkt seiner Texte. So auch im Roman „Abschied von Sansibar“, der binnen Jahresfrist bereits in vierter Auflage vorliegt.

Aus der Sicht ihrer drei Kinder – der ältesten Tochter Antonie Thawka, des Sohnes Said-Rudolph und der jüngsten Tochter Rosalie Ghaza – erzählt Hartmann das Leben von Emily Ruete. Als Salme bint Said wird sie 1844 als Tochter des Said ibn Sultan, Herrschers von Oman und Sansibar, geboren. Mit 22 Jahren verliebt sich die arabische Prinzessin in den Hamburger Kaufmann Heinrich Ruete. Als sie schwanger wird, flieht sie nach Aden, um ihrer Hinrichtung zu entgehen. Als der Verlobte Monate später endlich nachkommt, konvertiert sie zum Christentum und heiratet Ruete. Auf der Überfahrt nach Hamburg stirbt der inzwischen geborene Sohn.

In Hamburg kommen im Jahresabstand dann ihre drei Kinder zur Welt. Als die jüngste Tochter gerade vier Monate alt ist, stirbt Heinrich Ruete an den Folgen eines Unfalls. Konnte die „Negerprinzessin“ zuvor schon kaum Wurzeln in der Hamburger Kaufmannswelt schlagen, so wird ihr mit dem Tod Heinrichs vollends der Boden unter den Füßen weggerissen. Nicht nur wird sie unter Vormundschaft gestellt, sondern auch noch um Geld geprellt. Mit ihren Kindern zieht sie von Hamburg nach Dresden und schließlich nach Rudolstadt, wo „alles billiger zu bekommen“ war.

Weit schwerer als die materielle Not wiegt für Salme jedoch, dass eine Aussöhnung mit dem zum Sultan aufgestiegenen Bruder Bargash ebenso wenig möglich ist, wie sie das politische Werben Englands und Bismarcks um den Einfluss im Sultanat des Bruders für sich nutzen kann; im Gegenteil: Sie wird selbst zum Spielball der Mächte. 1886 erscheinen ihre Lebenserinnerungen unter dem Titel „Memoiren einer arabischen Prinzessin“, ein Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt, für Aufsehen sorgt. Zu dessen Bewunderern zählt unter anderem auch Oscar Wilde. 1924 stirbt Salme im Haus ihrer jüngsten Tochter Rosalie Troemer in Jena.

Soweit die historischen Fakten, denen hinzuzufügen ist, dass fast verwunderlich ist, dass das bewegte Leben dieser Familie nicht schon früher literarisiert wurde, bieten auch die Biografien ihrer Kinder und ihrer Enkel reichlich Stoff dazu. So engagiert sich der Sohn Said, der ehemalige Militärattaché in Beirut und Generalinspektor der Eisenbahnen in Ägypten, etwa für die Völkerverständigung. Tochter Antonie ist mit dem „chauvinistischen Wichtigtuer“ Eugen Brandeis, dem zeitweiligen Gouverneur der Marshall-Inseln verheiratet, während die Enkelin Emily den Nazijuristen Erich Schwinge heiratet.

Hartmanns Roman beginnt – wie jedes der weiteren 16 Kapitel – mit einem Briefauszug Salmes an ihren Bruder, den sie um Aussöhnung bittet. In Vor- und Rückblenden liefert Hartmann – meist aus der Perspektive ihres Sohnes Said, der am Ende an einem Herzinfarkt stirbt – das Porträt einer Frau, die lebenslang an Heimweh leidet. Ja es entsteht das Bild einer ganzen Familie, die an den Wirren der Zeit, aber auch an ihrer Wurzellosigkeit zerbricht: „Eine auseinandergebrochene Familie wie hunderttausend andere in diesem unseligen Europa“, räsoniert denn auch zu Beginn der in einem Hotel in der Schweiz lebende alte Said-Rudolph: „Und doch kreisten in diesen Tagen seine Gedanken viel zu oft um sie, um die Rätsel ihrer fahrlässigen Liebe, ihrer Flucht aus Sansibar, ihrer späteren Bitterkeit.“

Dabei wird ihm immer klarer, dass er seine Mutter, deren depressive Zustände den Kindern fremdgeblieben waren, eigentlich gar nicht gekannt hatte: „Was hatte die Mutter ihnen alles verschwiegen! Und wie oft musste sie sich ihr Lächeln, ihre Trostworte abgerungen haben, wenn doch alles grundiert gewesen war von diesem uferlosen Heimweh nach der Insel Sansibar!“

So wird zunehmend deutlich: „Sie war schon lange nicht mehr Salme und ganz und gar Emily war sie nie geworden.“ Und sterbend hält Said-Rudolph im imaginierten Dialog mit der toten Mutter fest: „Es gibt so vieles, […] was ich erfahren müsste, um wirklich dein Sohn zu sein, dir nahe, wie sich das ein Sohn doch wünscht.“ Entwurzelte, Heimatlose sind in diesem vielschichtigen und gleichwohl leicht zu lesenden Text also auch Salmes Kinder, weshalb Antonie Brandeis sinniert: „Vielleicht habe ich den Grund, auf dem ich stand, nie wirklich gekannt.“

Lukas Hartmanns „Abschied von Sansibar“ über das alles andere als märchenhafte Leben einer arabischen Prinzessin und ihrer Kinder zwischen den Kulturen entwirft ein historisches Panorama einer gescheiterten Integration. Der Roman bietet darüber hinaus einen empathischen Blick für den Schmerz und das Leid, die daraus erwachsen können, wenn jemand gezwungen ist, seine Heimat, seinen Kulturkreis zu verlassen.

Titelbild

Lukas Hartmann: Abschied von Sansibar. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2013.
330 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068672

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