Fünffacher Lustmord?

Szilárd Rubin erweckt die Vampirin von Törökszentmiklós zu neuem Leben

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen Oktober 1953 und August 1954 werden in der ungarischen Kleinstadt Törökszentmiklós fünf junge Mädchen ermordet. Zehn Jahre später entdeckt ein Schriftsteller die Fotografie einer jungen Frau, die ihn sofort fesselt. Es handelt sich dabei um ein Familienfoto, das nur scheinbar Harmloses abbildet. Denn der auf dem Foto gezeigte Wohnraum, im Hintergrund der jungen Frau, ist nicht nur ein Spiegel ländlicher Lebensverhältnisse der 1950er-Jahre in Ungarn, sondern auch ein Tatort. Entsprechend ist auch die junge Frau nicht das, wofür man sie halten könnte, denn Piroska Jancsó wird schon bald die Vampirin von Törökszentmiklós genannt und für die Morde an den fünf Mädchen hingerichtet werden.

Der ungarische Schriftsteller Szilárd Rubin verfolgt in seinem Roman „Der Eisengel“ die verbliebenen Spuren Piroskas, stößt dabei auf frappierende Ungereimtheiten in den verschiedenen Berichten über die Ereignisse und deutet an, dass die Morde ein Verbrechen von weitaus größerer politischer Brisanz gewesen sein könnten. Rubin, der 2010 verstorben ist, wurde erst kurz vor seinem Tod in Deutschland entdeckt und erntete für seinen in Ungarn bereits in den 1960er-Jahren erschienen Roman „Kurze Geschichte von der ewigen Liebe“ begeisterte Kritiken. Seither sind zwei weitere Romane Rubins bei Rowohlt erschienen. „Der Eisengel“, dessen Titel womöglich einen klassischen Thriller erwarten lässt, bildet somit einen Abschluss.

Fertig ist in diesem Buch jedoch rein gar nichts, was dem Leser aber kaum von Beginn an klar sein kann. Erst nach und nach gerät die Lektüre ins Stocken und es stellt sich immer dringender die Frage, ob die eigene Unaufmerksamkeit oder der Text für die vielen entstandenen Fragwürdigkeiten verantwortlich ist. Wer sich nun vom Nachwort des Autors etwas Klarheit erhofft, wird enttäuscht werden, denn die dort entworfene Sebstbeschreibung von Rubins Interesse an dem Fall und seiner Art zu Schreiben passen kaum zum vorher Gelesenen. Im Nachwort erklärt der Autor nämlich, dass er einen ‚authentischen Tatsachenroman‘ schreiben wollte, versteht sich als Chronist der Vergangenheit und gibt den „Eisengel“ als literarische Dokumentation aus. Doch die Struktur des Erzählten folgt keiner eindeutig zusammenhängenden Komposition, wie man es von einem klassischen Dokumentarroman vielleicht erwarten würde, sondern hinterlässt mehr Leerstellen als feste Zuschreibungen. Genau hier verbirgt sich jedoch die Besonderheit dieses eigensinnigen Berichts zwischen Fakten und Fiktionen, der dann am besten wird, wenn der Schreibende sich selbst miteinbezieht: Rubin dokumentiert nicht nur sein Wissen über eine junge Frau namens Piroska, sondern auch das, was er nicht weiß. Das, was womöglich verloren gegangen ist, sich in keinem Archiv befindet oder was man ihm bewusst verschweigt. Die Verbrecherin erscheint ihm dabei beizeiten als Heilige, ein andermal wird die Heilige zur Verbrecherin. Rubin erweitert die Grenzen dessen, was noch Dokumentation oder schon Roman sein mag, indem er alternative Vergangenheiten erprobt und dabei die Entfernungen ausmisst, die zwischen dem Bild von einer Frau und demjenigen bestehen, der gerade über sie spricht oder der über das Sprechen anderer schreibt.

„Der Eisengel“ führt seine Leser in die Irre, was in Teilen in der ‚unfertigen‘ Form des Buches selbst angelegt ist, worauf jedoch erst im Nachwort von Josef Keresztesi hingewiesen wird. Ganz am Ende wird also offenbar, dass die druckfertige Fassung des Manuskripts nicht mehr vom Autor selbst stammt. So habe der dritte Teil des Buches fast ausschließlich aus Fragmenten bestanden, in die Keresztesi und Péter Siklós, ein Erbe Rubins, eingegriffen haben, wobei sie teilweise auf Spekulationen darüber angewiesen waren, wie man die vorhandenen Textteile am ehesten zusammensetzen möge. Dieser Hinweis erscheint von elementarer Bedeutung, so dass aus dem Nachwort besser ein Vorwort geworden wäre. Mit solch einer Vorbemerkung wäre dem Buch womöglich der ein oder andere Thriller-Interessent verloren gegangen, dem Text als solchem wäre jedoch gedient gewesen. Szilárd Rubin arbeitete unvollendet an den Möglichkeiten, Bedingungen und Formen des literarisch-dokumentarischen Rekonstruierens, so dass „Der Eisengel“ weit mehr als die literarische Aufarbeitung historischer Wahrscheinlichkeiten zu bieten hat.

Titelbild

Szilárd Rubin: Der Eisengel. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Timea Tankó.
Rowohlt Verlag, Berlin 2014.
221 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347894

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