Zu dieser Ausgabe

Sie hatten sich schon immer gefragt, wie der Alltag in einer Redaktion wie der von literaturkritik.de aussieht? Sie werden lachen. Zu 90% besteht er aus Detektivarbeit. Schließlich gibt es sehr viele Autorinnen und Autoren, die glauben, ein Buch zu rezensieren hieße, einem Bekannten eine Gefälligkeit zu erweisen. Manche äußern dies sogar ganz unbefangen in ihren Mails, wenn sie uns ein betreffendes Textangebot machen wollen, andere aber auch nicht. Beide Typen von Rezensenten sind bei uns nicht erwünscht, da ihr Treiben nicht unserem Verständnis von Literaturkritik entspricht und deshalb schon gar nicht in unserer Zeitschrift ein Forum finden sollte. Im Fall derjenigen aber, welche uns die wahren Beweggründe für ihre Besprechungen vorenthalten, müssen wir den Spitzbuben erst einmal auf die Schliche kommen.

Dies erreicht man mittels geschickter redaktioneller Fangfragen, mit freundlichen Bitten um ehrliche Antworten – oder, wenn all dies nicht mehr fruchten sollte, mit Hilfe eines der zwielichtigsten Konzerne unserer Zeit, der bei uns jedoch trotz der grassierenden „Eurotechnikpanik“ (Jeff Jarvis) für seine praktischen Dienste geschätzt und dankbar genutzt wird: Google. Mit wenigen Klicks sieht man dann, dass ein Promovend allen Ernstes vorhat, bei uns eine Publikation seines eigenen Doktorvaters zu besprechen, dass das „hochinteressante Buch“, das ein anderer Autor mehr oder weniger zufällig in die Finger bekommen haben will und das seiner Einschätzung nach unbedingt bekannt gemacht werden müsse, in Wahrheit von einem Büronachbarn in seiner eigenen Universität stammt – und vieles dergleichen mehr.

Dennoch ist uns klar, dass auch wir nicht unfehlbar sind. So kann es theoretisch vorkommen, dass irgendwer in der Redaktion nicht aufmerksam genug ist und uns Einzelfälle jener literaturkritischen Vetternwirtschaft, die Kurt Tucholsky einmal „Lobesversicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit“ nannte, gar nicht erst zur Kenntnis gelangen, bevor wir einen Artikel bei uns durchwinken. Der Text mag zwar gut geschrieben sein, aber dass er aus einer Situation der Befangenheit heraus formuliert wurde, übersehen wir dann womöglich, bemerken es vielleicht erst viel später oder sogar überhaupt niemals.

Gewiss: Die Literaturkritik geht durch solche Einzelfälle nicht gleich unter. Und, Hand auf’s Herz: Hier und da mögen sogar manche von uns es selbst nicht immer allzu genau mit dem ethischen Grundsatz genommen haben, besser keine Bücher von Bekannten zu rezensieren. Doch wer etwas auf sich hält, lernt auch im literaturwissenschaftlichen Betrieb schnell, dass es besser ist, diese Faustregel sehr wohl ernst zu nehmen und sie gewissenhaft zu befolgen. Zumindest aber sollte man offenlegen, dass man einen Autor persönlich kennt, wenn man dennoch etwas über ihn publiziert, um klar zu machen, aus welcher Position heraus man sich über dessen Veröffentlichung äußert. Die Folgen muss der Kritiker so oder so selbst tragen – zum Beispiel dann, wenn er einen alten Bekannten öffentlich kritisiert und die Freundschaft damit unversehens beendet ist.

Wie aber sieht es eigentlich in der Presse, wie sieht es im deutschsprachigen Literaturbetrieb damit aus? Handelt es sich wirklich nur noch um ein „elendes Kumpelsystem“, wie der Kritiker und Verleger Jörg Sundermeier neulich meinte? Klar und eindeutig beantworten können wir diese Fragen sicher nicht, sie interessieren uns aber weiter. In unserer letzten Ausgabe haben wir bereits einige Beiträge zur aktuellen Debatte um den vermeintlichen Niedergang der Literaturkritik publiziert, die Sundermeiers Interview angestoßen hatte.

Diesen Monat gehen wir nun erst einmal wieder zur Tagesordnung über und bringen, wie jedes Jahr im März, Rezensionen von Neuerscheinungen zur Leipziger Buchmesse. Welcher Autor oder welche Autorin 2015 den Preis dieses literaturbetrieblichen Großereignisses erhalten wird, werden wir bald erfahren, und entscheiden wird darüber eine Jury, der namhafte Kritikerinnen und Kritiker angehören. Im Kontext der skizzierten Problematik wirft dieses Karrierephänomen des Literaturbetriebs allerdings Fragen auf: Urteilen die Mitglieder einer solchen Jury in ihrer Rolle unabhängig? Welche möglichen Rücksichten könnten bei ihren Diskussionen und Entscheidungen eine Rolle spielen? Nach welchen Kriterien gehen solche Gremien überhaupt vor? Gibt es interne, unausgesprochene Regeln? Welche Formen und Versuche der Einflussnahme von außen kommen vor, und inwiefern werden sie von einer solchen Jury vermieden oder offen zurückgewiesen?

Dies wären nur einige Fragen für eine mögliche kommende Ausgabe zu diesem Thema. Eine genauere Untersuchung des Systems der deutschen Buchpreise könnte zum Beispiel Aufschluss über die Funktionsweisen der heutigen Literaturvermittlung in die Medien und ihrer spezifischen Formen der Generierung öffentlicher Aufmerksamkeit geben. Kommentare, Rechercheergebnisse und Essays zu diesem Thema sind unserer Redaktion jederzeit willkommen!

In der aktuellen Ausgabe geht es aber erst einmal noch um ganz andere Dinge: Neben Essays und Rezensionen über Literatur zur Leipziger Buchmesse finden Sie darin weitere Beiträge zu Debatten wie der um Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“, einem aufsehenerregenden Buch, das seit dem terroristischen Attentat auf Charlie Hebdo bei literaturkritik.de bereits mehrfach Thema war, und einen kritischen Aufsatz zu Andreas Meiers Auswahledition von Martin Walsers Schriften über Auschwitz.

Auch der Erste Weltkrieg begleitet uns in den kommenden Monaten weiter. Für die April-Ausgabe haben wir einen Themenschwerpunkt zum „Aghet“ vorgesehen, dem türkischen Genozid an den Armeniern, der vor 100 Jahren verübt wurde, in dem Land der Täter nach wie vor geleugnet und unter Androhung von Strafe tabuisiert wird und hierzulande noch immer so gut wie unbekannt ist.

Vorerst wünscht Ihnen gute Lektüren
Ihr
Jan Süselbeck