Eine Hommage als Geburtstagsgeschenk

Der Erzählband „Kopfstand“ von Aras Ören stiftet inhaltliche Verwirrung

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist der erste Adelbert-von-Chamisso-Preisträger. 1939 in Istanbul geboren, lebt Aras Ören seit 1969 in Berlin. In den 1970er- und 1980er-Jahren thematisierte er die Fremdheitsproblematik am Beispiel der türkischen Arbeitsmigration, ehe er sich in den 1990er-Jahren avantgardistisch der europäischen Multikulturalität widmete. Der als Schauspieler, Journalist und Schriftsteller tätige Ören, seit 2012 Mitglied der Berliner Akademie der Künste, veröffentlicht zu seinem 75. Geburtstag, nach fast 15 Jahren literarischer Stille, mit Kopfstand ein schmales Buch mit sieben Geschichten, die durch 48 Illustrationen von Wolfgang Neumann bildlich ergänzt werden.

Bruno Neuhaus, der „vom Denken pensionierte Freund“ des Ich-Erzählers, sieht das Leben begeistert aus der Fernsehperspektive und steckt seinen zunächst misstrauischen Freund an, die Dinge mit den Augen anderer zu sehen. So wird das Fernsehprogramm zur einzigen Inspirationsquelle des Schriftstellers, er selbst am Ende zur Marionette des Regisseurs. Groteske Szenen mit politischen Größen wie Gerhard Schröder gewinnen die Oberhand: „Der Blick des Kanzlers blieb auf der kopfstehenden Welt der an der Wand hängenden Bilder von Baselitz haften. Unwillkürlich saß ihm ein kindlicher Schalk im Nacken. Wie von einem zwanghaften Wunsch getrieben, ging er zu der großen Fensterfront, bückte sich, stützte sich mit den Händen auf den Fußboden und versuchte einen Handstand.“ Der zum „Televisionaholic“ mutierte Ich-Erzähler telefoniert anschließend unbefangen mit George W. Bush. Illusion wird zur Realität.

Nach diesem Auftakt handelt die nächste, ungleich kürzere Geschichte von einem Spontanbesuch im Trödelladen, wobei die alten Kleider auf den Erzähler wie eine Zeitmaschine wirken und die Anprobe ihn in eine vergangene Epoche katapultiert. Alltäglich und doch skurril mutet die dritte Kurzgeschichte an, wenn man beim stets gleichen Weg zur Arbeit plötzlich feststellt, dass er länger dauert und sich des Altwerdens bewusst werdend fragt, wo die Zeit geblieben ist. Danach wickelt eine strickende Frau beim winterlichen Besuch in der Stammkneipe des Erzählers mit einem Wollknäuel die Stammgäste ein. Ein Frühstück unter blauem, türkis(ch)em Himmel und der Kampf einer Hauskatze mit einer Eidechse führen in der fünften Geschichte zu einem surrealistischen literarischen Ergebnis. Der harmlose Blick in den Spiegel weckt wiederum unerwartet den Wunsch, das reale Gesicht an die subjektive Vorstellung des eigenen Gesichts anzupassen, denn es ist unserem Wunschbild ganz unähnlich, während in der letzten Geschichte der Toskana-Urlaub zur Erkenntnis führt, dass Standardmenschen Standardfotos machen und mit ihren identischen Perspektiven alles um sie herum in ihre persönliche Geschichte einflechten, archivieren und protokollieren.

Die Inhaltsbeschreibung des Verbrecher Verlags gibt dem Leser erste Hinweise, wie man mit diesen Geistesblitzen des Schreibenden umgehen soll: „Wie sich Literatur verselbständigt, wie der Erzähler den Erzählfaden verliert“, ja, das kann man bei der Lektüre tatsächlich erfahren! Die  Entstehung des Bandes ist spürbar dem Jubiläum des Autors, nicht seinen neuen Texten – die meisten sind 1986 beziehungsweise 1996 entstanden – zu verdanken. Das Werk mag eine verdiente Hommage an den großen Dichter und Künstler Aras Ören sein, als sein Comeback darf man es jedoch leider nicht feiern.

Titelbild

Aras Ören: Kopfstand.
Illustriert von Wolfgang Neumann.
Übersetzt aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff.
Verbrecher Verlag, Berlin 2014.
141 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320155

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