Auschwitz ohne Folgen

Philologische Sandkastenspiele: Andreas Meier verteidigt Martin Walsers Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine jüngst unter dem Titel „Unser Auschwitz. Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld“ erschienene Anthologie versammelt eine Reihe von Texten Martin Walsers, mit denen dessen „vielfältige und kontinuierliche Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld“ von seinem Roman „Ehen in Phillipsburg“ (1957) an bis heute materialreich dargestellt wird. Erklärte Absicht des Herausgebers Andreas Meier ist es, „den zum Teil absurden und von hartnäckiger Lektüreabstinenz zeugenden Vorwürfen“ gegenüber Martin Walser dessen Werk „zumindest in repräsentativen Auszügen entgegenzuhalten.“ Diese Veröffentlichung erscheint mehr als 16 Jahre nach der umstrittenen Rede „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ (1998), die naheliegender Weise auch in den vorliegenden Band aufgenommen wurde, in der Frankfurter Paulskirche, in der Walser die öffentliche Erinnerung an den Genozid an den Juden Europas als „Dauerpräsentation unserer Schande“ und das damals noch ungebaute Holocaust-Mahnmal als „Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum“ bezeichnete. Es ist vor allem die von dieser Rede und ihrer Qualifizierung als „geistige Brandstiftung“ durch Ignatz Bubis (1927-1999), den damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland und Walsers Jahrgangsgenossen, ausgelöste vergangenheitspolitische Kontroverse, auf die der Herausgeber mit seiner Zusammenstellung dieses genreübergreifenden und durchaus heterogenen Textkorpus offenbar glaubt antworten zu müssen. Vor dem Hintergrund dieser, von Frank Schirrmacher dokumentierten Debatte[1], die auch eine Anzahl von zumindest latent antisemitischen Briefen enthält, die sich zustimmend an Martin Walser wandten, wurde zudem wenige Jahre später Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) über die Mordfantasien eines nichtjüdischen deutschen Schriftstellers gegenüber einem Starkritiker, der unverkennbar von der Assoziation mit Marcel Reich-Ranicki lebt, als antisemitisch skandalisiert. Diese zweite Kontroverse, ausgetragen im Jahr des 75. Geburtstages von Martin Walser, zeigte erneut, wie wenig sich literarisches Werk und öffentliche Stellungnahmen des Autors voneinander abtrennen lassen. Darauf insistierte auch der meinungsstarke Walser selbst, dessen Auslassungen über die nationalsozialistischen Verbrechen oder andere Themen sich kaum immer als „vorurteilsfreie Mitteilungen“ verstehen lassen, als die Walsers Texte hier präsentiert werden sollen.

Der Klappentext der vorliegenden Sammlung dient dem Versuch, Walsers literarischem Nachdenken über den Nationalsozialismus eine herausgehobene Bedeutung zuzuschreiben: Er habe sich „als einer der ersten deutschen Schriftsteller überhaupt mit dem Holocaust“ beschäftigt und die deutsche Schuld grundiere „bis heute sein poetisches Selbstverständnis.“ Eine solche These lässt freilich vieles offen: Einerseits bleibt unklar, ob mit „deutschen Schriftstellern“ auch jüdische Remigranten oder Überlebende gemeint sind, die wie Alfred Döblin, Peter Edel oder der jüngst verstorbene Ralph Giordano – um nur einige wenige zu nennen – viel früher, fast unmittelbar nach der Befreiung während der ersten Nachkriegsjahre in literarischen Texten Versuche unternehmen, den Holocaust zu reflektieren. Schon zuvor haben jüdische und nichtjüdische Exilierte außerhalb des Machtbereichs der Nationalsozialisten über den Genozid geschrieben. Aber auch nichtjüdische deutsche Autorinnen und Autoren im Nachkriegsdeutschland wie insbesondere Susanne Kerckhoff, etwas später Albrecht Goes in den ersten Jahren der Bundesrepublik oder, auf der Grundlage des Überlebendenberichts von Jakob Littner und in durchaus problematischer Aneignung auch Wolfgang Koeppen, behandelten die Ermordung der Juden Europas in ihren Texten schon wesentlich früher als Martin Walser.

Während die Hervorhebung einer besonders frühen Beschäftigung also eher zweifelhaft erscheint und nicht recht einzuleuchten vermag, warum der Herausgeber den Anstoß für eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust erst in den 1960er-Jahren mit Peter Weiss und Martin Walser beginnen lässt, stellt sich vor allem die Frage nach der Bedeutung der jeweiligen literarischen Darstellung von Nationalsozialismus und Holocaust.[2] Denn wie verdienstvoll eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus jeweils ist, lässt sich nur in kritischen Analysen herausarbeiten und am Text aufzeigen. Das bloße Aufzählen von Texten, in denen sich jemand mit dem Nationalsozialismus beschäftigt hat, besitzt dagegen wenig Aussagekraft, denn auch seine Apologeten bezogen sich auch nach dem Ende des „Dritten Reichs“ weiterhin obsessiv darauf. Es ist also vor allem interessant, auf welche Weise „die deutsche Schuld“ in den von Meier ausgewählten Texten dargestellt wird. Auffälligerweise vermeidet der Untertitel übrigens den von Walser in der Friedenspreisrede 1998 verwendeten Topos von der „deutschen Schande“.

Was enthält nun der Band? Eröffnet wird er von einem knapp zwei Seiten langen Auszug aus Walsers erstem Roman „Ehen in Philippsburg“. Die Passage zeigt das satirische Porträt eines Professors, der während des Zweiten Weltkriegs als NS-Kriegsberichterstatter „an allen Fronten“ war und von dem noch immer berühmt gewordene Schilderungen vom Luftkrieg als Tonbanddokumente existieren. In der Gegenwart der 1950er-Jahre erscheint er dem angehenden Journalisten Hans als „ein Mann, der es gut meinte“. Es geht dabei also nicht um den Holocaust, sondern um die Nachkriegskarriere eines NS-Journalisten. Dem folgt ein längerer Auszug aus „Halbzeit“ (1960), der allerdings für eine mehr als oberflächliche Analyse, etwa im Hinblick auf die hier porträtierten jüdischen Gestalten, unzureichend ist. Wichtige Passagen etwa zu der Figur Susanne Schmolka wurden in den Band nicht aufgenommen. Enthalten ist dafür ein Beitrag, den Walser zu einer Veröffentlichung in der ZEIT im August 1962 unter dem Titel „Internationale der Überlebenden“ beisteuerte. Die Wochenzeitung antwortete mit Stellungnahmen von fünf Autoren, darunter neben Walser auch Marcel Reich-Ranicki und Wolf Jobst Siedler, auf eine Kampagne der Rechtspresse gegen die im Kindler-Verlag veröffentlichten Lebenserinnerungen Ilja Ehrenburgs (1891-1967).[3] In seinem Beitrag bekräftigt Walser die Vorstellung von „Ehrenburgs sagenhafte[m] Deutschenhaß“, obwohl er mit dem Attribut „sagenhaft“ auf das Gerüchthafte dieser Zuschreibung ebenso hinweist wie darauf, dass keineswegs geklärt sei, ob es sich bei dem Ehrenburg zugeschriebenen Aufruf zur Rache an den Deutschen um eine Erfindung aus Goebbels Propagandaministerium handle oder dieser der Wirklichkeit entspreche. Walser bringt sogar Verständnis für den Deutschenhass auf, der Ilja Ehrenburg von der Rechtspresse zugeschrieben wurde, indem er argumentiert, es hätte ausgereicht, „den Rotarmisten mitzuteilen, wie sich unsere Spezial-Einheiten in der Sowjetunion vorwärtsmordeten“, um ihren Hass zu begründen. Walsers weitere Argumentation dreht sich dann um die Formel, Faschismus sei deutsch, einen Kurzschluss, den er Ehrenburg ebenso zuschreibt wie er ihn ihm als Betroffenem zugesteht, den er zugleich aber berechtigterweise für falsch hält. Seine liberale Haltung in der Frage, ob eine Veröffentlichung von Ehrenburgs Memoiren einer positiven Vorstellung deutscher Zugehörigkeit als Affront erscheinen müsse, wie es die nationalistische Position der rechtsextremen Kampagne gegen das Buch ausdrückte, zeigt sich im folgenden Zitat:

„Warum eigentlich sollen wir nicht erfahren, wie jemand über uns denkt, der sich in eine Feindschaft gegen uns hineingelebt hat? Der Unterschied zwischen dem, was Ehrenburg haßt, und uns kann durch nichts so deutlich werden wie durch eine halbwegs souveräne Aufnahme dieses Buches bei uns. Schließlich sollten wir uns gerade Ehrenburg gegenüber nicht von irgendeiner Soldatenzeitung vertreten lassen.“

Walser geht es in diesem kurzen Beitrag offensichtlich darum, sich gegen die nationalistische Vereinnahmung deutscher Zugehörigkeit durch rechtsextreme Kräfte (Soldatenzeitung) zu wenden und zugleich die vermeintliche Gleichsetzung von Faschismus und Deutschsein, die er Ehrenburg unterstellt, zurückzuweisen.[4] Aus heutiger Perspektive erscheint besonders interessant, dass Walser drei Jahre später in seinem bekannten Essay „Unser Auschwitz“ (1965) gewissermaßen umgekehrt argumentiert und jetzt die durch den ersten der Auschwitz-Prozesse öffentlich diskutierten Brutalitäten zum Anlass nimmt, die Distanzierungsbemühungen von den Tätern als Problem zu begreifen.

Wolfgang Benz schrieb in seinem Vorwort zu Matthias N. Lorenz’ Studie „‚Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‘. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser“ (2005), dass Martin Walsers Werk „als kontinuierliches patriotisches Projekt zu verstehen“ sei, „das nicht vulgärer vordergründiger Judenfeindschaft dient, sondern nationaler Identität nach Auschwitz.“[5] In „Unser Auschwitz“ bezeichnet Walser „das an den Häftlingen Begangene“ als „unsere nationale Schwierigkeit“. Von dieser Realität wüssten wir noch weniger als von der der SS-Leute. Walser hatte, wie viele andere, den vom hessischen Generalstaatsanwalt und Remigranten Fritz Bauer gegen vielerlei Widerstände durchgesetzten ersten Frankfurter Auschwitz-Prozeß aufmerksam verfolgt und im Februar 1964 auch besucht. Heute steht die enorme Bedeutung des Prozesses für den öffentlichen Diskurs über den Nationalsozialismus ebenso wie für die Zeitgeschichtsforschung außer Frage. Norbert Frei erinnerte Anfang der 1990er Jahre daran, dass es allerdings auch skeptische Stimmen gegeben habe: Vielleicht „am eindringlichsten war […] der Skeptizismus eines Martin Walser, der 1965 im ersten Heft des neuen Kursbuchs über ‚Unser Auschwitz‘ schrieb.“[6] Frei bezweifelte bereits damals, dass sich diese Skepsis bestätigt habe und hielt es obendrein für problematisch, „die letzten 25 oder gar die letzten 45 Jahre unterschiedslos auf die Formel ‚Leerstelle des historischen Bewußtseins‘ bringen zu wollen.“[7] Beim Wiederlesen von Walsers Essay in der Anthologie bestätigen sich die Zweifel. Vor allem die Form der Zurückweisung des öffentlichen Diskurses über den Prozess lässt in ihrer Verbindung von identitätspolitischer Positionierung und Medienkritik aufhorchen. Einige der Zitate seien hier noch einmal angeführt und kommentiert: „Wie Auschwitz für die ‚Häftlinge‘ war, werden wir nie verstehen. Aber was geschah, daß es für diese Häftlinge ein Auschwitz gab, das sollte nicht in einer Flucht zu phantastischen Umschreibungen – halb BildZeitung, halb Dante – verlorengehen.“ Für sich genommen könnte das Postulat, die Erfahrungen der Häftlinge bleiben dem nachvollziehenden Bewusstsein unerreichbar, auf die Erfahrungsdifferenz zwischen den traumatisierten Überlebenden der Vernichtung und allen Nichtbetroffenen verweisen. Hier allerdings wird in der Formulierung eine Wir-Gruppe entworfen und den Erfahrungen der Häftlinge gegenübergestellt.[8] „In den Nürnberger Prozessen war viel mehr zu erfahren über das sogenannte Dritte Reich als im Auschwitz-Prozeß.“ Das ist eine erstaunlich pauschale Gegenüberstellung, die sowohl übergeht, dass die Nürnberger Prozesse noch von den Alliierten durchgeführt wurden und deshalb kein Ausdruck des demokratischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik sein konnten, als auch, dass in Nürnberg der Genozid an den Juden Europas nur eine marginale Bedeutung besaß und unter dem vagen Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht als eigenständiges Verbrechen erfasst und strafrechtlich verfolgt wurde. Der Holocaust stand in der Bundesrepublik, abgesehen vom Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses (1959), der aber keine vergleichbare mediale Öffentlichkeit erreichte, erst während der Auschwitz-Prozesse im Zentrum. Walsers Wahrnehmung richtet sich auf anderes, einen vermeintlichen Unterschied im Hinblick auf eine als problematisch empfundene Popularisierung der jeweils verhandelten Verbrechen: „Die Prozeßmaterie von Nürnberg war offenbar nicht zu popularisieren.“ Hier artikuliert sich Walsers Sprach- und Medienkritik. Ihre Berechtigung besitzt eine solche Kritik etwa im Aufzeigen verzerrender oder gar falscher Darstellungen sowie der Analyse von mit bestimmten Darstellungstechniken und sprachlichen Formen verbundenen Emotionalisierungen. Walsers Medienkritik allerdings geht von erstaunlichen Behauptungen aus, etwa der, sogar der Versuch einer Anteilnahme an den Leiden der Opfer sei problematisch, weil er zu einer „realitätsarme[n], aber momentan heftige[n] Empfindung“ führe:

„Und wir nehmen Anteil am Opfer. Der Schmerz der Opfer, die aus Dantes Wortschatz entlehnte Qual, dieser Teil des Zitats ist dringend notwendig für unser Erlebnis. Erst durch den hilflosen Versuch, uns auf die Seite des Opfers zu stellen oder uns, so gut es gehen will, wenigstens vorzustellen, wie schrecklich da gelitten wurde, erst durch diese Anteilnahme wird für uns der Täter so verabscheuungswürdig und brutal, wie wir ihn für unsere realitätsarme, aber momentan heftige Empfindung brauchen.“

Weder ist besonders einleuchtend, warum die (Taten der) Täter erst dann als verabschauungswürdig erscheinen sollten, wenn wir an den Leiden der Opfer anteilnehmen, noch vermag zu überzeugen, dass wir die Empathie mit den Opfern, den in die Sprache der Medien übersetzten „Schmerz der Opfer“ „für unser Erlebnis“ benötigen. Walsers skeptische Schlussfolgerung ist: „Das Bewußtsein bleibt leer.“ Dieser erfreulicherweise nicht bestätigten These, die der Historiker Frei schon vor mehr als zwei Jahrzehnten als unplausibel zurückwies, gesellen sich eine Reihe weiterer meinungsstarker Aussagen: „Ganz ohne Zweifel ist auch, daß wir Deutschen von diesen Brutalitäten keine Ahnung hatten. Auch das ist ein Effekt dieses Prozesses.“ Noch jüngst vertrat Walser in einem Radiobeitrag die Ansicht, die NS-Verbrechen seien erst nach 1945 allmählich bekannt geworden[9]; warum aber die Medienberichterstattung über die von den Angeklagten im ersten der Auschwitz-Prozesse begangenen Morde und Quälereien den Effekt haben könnte, nachträglich die vielfach behauptete Ahnungslosigkeit vieler Zeitgenossen hervorzubringen, bleibt unverständlich. Andreas Meier erklärt dazu in seinem Nachwort, Walser entwickle in seiner Reaktion auf den ersten Auschwitz-Prozess „sprachtheoretische Konsequenzen aus der ‚Faszination, die das Grauenhafte auf uns ausübt‘“, die „Auschwitz zum ‚Greuelzitat‘ werden“ lasse. Im Jahr des Auschwitz-Essays habe er einen neuen Realismus gefordert, der beweisen sollte, „‚daß alles Bisherige Idealismus war‘ – weil mit der Überwindung des Jargons die nachahmende Qualität realistischen Schreibens sich nicht allein auf eine äußere Welt bezieht, sondern zugleich auf die Reflexion dieser Wahrnehmung im Bewusstsein.“ Für den Prozessbeobachter könne, so heißt es bei Meier weiter,

„die ‚Wirklichkeit‘ von Auschwitz, können Mitteilungen über den Prozess nur auf einer kulturanthropologischen Ebene angesiedelt werden, einer Ebene also, auf der man sich fragen kann, ob das sogenannte Dritte Reich mit seiner Gewalt – vor der man reflexhaft den Blick senkte, was nicht ausschloss, dass man geduldig zusah, ‚wie Juden und Kommunisten aus seiner Umgebung‘ verschwanden – nicht jene ‚idealistischen und asozialen Erbschaften mobilisiert[e]‘ – die nun ‚unseren Anteil an Auschwitz‘ ausmachen.“

Diese Erklärung, die im Zusammenhang von Meiers Versuch steht, Walsers Auseinandersetzung mit „der deutschen Schuld“ als grundlegend für dessen Realismusbegriff, Sprachtheorie und Poetik zu erweisen, scheint mir unbefriedigend. Auffällig ist die dreifache Verwendung des kollektivierenden „man“ und die Entkonkretisierung der Positionen ebenso wie der Gewaltverhältnisse. Was hier eigentlich gesagt werden soll, bleibt wohl Meiers Geheimnis.

Demgegenüber ist Walsers Kritik am Idealismus im Essay sehr konkret, etwa am „idealistische[n] Strafrecht“, das am liebsten auf Hände schaue und daher wirtschaftliche oder politische Verursacher nicht zu fassen bekommt. Fast trotzig klingt dann der Satz: „Daß mein Schamgefühl oder mein Gewissen sich nicht auf Staatliches oder Völkisches erstreckt, weiß ich ohnehin.“ Soll hier Individuelles oder das Problem der strafrechtlichen Unmöglichkeit kollektiver Haftung betont werden? Die Ablehnung des Idealismus bezieht sich im Essay zudem ganz konkret auch auf die sogenannten „Idealisten des Nationalsozialismus“, als die Walser namentlich etwa den zeitweiligen Lagerkommandanten von Auschwitz Rudolf Höß, Reinhard Heydrich, Heinrich Himmler sowie den „I.G.-Generaldirektor“ anführt, denen gegenüber er die im Prozess Angeklagten lediglich für „Handlanger, Henker, Verführte“ und „Produkte eines heftigen deutschen Erziehungsaufwandes“ hält. Walsers Darstellung der Ursachen von Auschwitz lässt sich dabei folgendermaßen zusammenfassen: 1. Es war „der deutsche Staat“, der Auschwitz „mit großer Folgerichtigkeit […] zur Ausbeutung und Vernichtung von Menschen“ eingerichtet hat. 2. Nur wenige Verführer, die obengenannten „Idealisten des Nationalsozialismus“ ebenso wie das autoritäre deutsche Bildungssystem sind letztlich verantwortlich zu machen.[10] Auffällig ist überdies Walsers Fatalismus: „Unter Menschen ist das Talent zum Sozialen, das der Idealist das Humane nennt, immer noch so schwach, das Asoziale noch so stark, daß die Täter nichts dazulernen können, und alle, die auf die Seite der Täter gehören.“ Wo allerdings nicht nur die Täter, sondern auch alle, die „auf die Seite der Täter gehören“, nichts dazulernen können, steht auch der Nutzen einer Medienkritik infrage, mit der Walser auf die Berichterstattung zum ersten Auschwitz-Prozess reagierte. Seine konsequente Schlussfolgerung am Ende des Essays ist die Behauptung einer kollektiven Folgenlosigkeit: „Für uns wird Auschwitz keine Folgen haben.“ Wenn aber Auschwitz für dieses Kollektiv folgenlos bleibt, worin besteht dann eigentlich die Bedeutung von Walsers Intervention? In ihrer identitätspolitischen Aussage. Darin, dass der Essay eine Gruppe entwirft, die sich von der Gruppe der „Häftlinge“ unterscheiden lässt. Bekanntlich griff Walser die Formel von der „Seite der Täter“ in „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ mit veränderter Nunancierung wieder auf: „Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen.“ Im Lichte der späteren Rede wird die nationale Kodierung der Wir-Gruppe, die schon den Essay von 1965 durchzieht, besonders augenfällig. Im sogenannten Versöhnungsgespräch mit Ignatz Bubis formuliert Walser ganz direkt, „was wir in Auschwitz begangen haben, haben wir als Nation begangen“. Walsers fortgesetzte „Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld“ erweist sich, wie die in dieser Sammlung zusammengeführten Texte anschaulich belegen, als Diskurs über nationale deutsche Identität nach dem Holocaust.

Die Anthologie umfasst noch eine Reihe weiterer Texte, darunter Aufsätze zu Heinrich Heine, Victor Klemperer und Franz Kafka sowie Ausschnitte aus einigen Theaterstücken. Am Ende wurden zudem etwa zehn Seiten aus Walsers zeitgleich mit der Sammlung veröffentlichtem „Denkmal“ für Mendele Moicher Sforim alias Scholem Yankev Abramovitsh aufgenommen. Der Großessay „Shmekendike Blumen. Ein Denkmal / A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh“ erschien ebenfalls gerade bei Rowohlt. So lässt sich Walsers bis heute andauernde Beschäftigung mit „der deutschen Schuld“ zuletzt nun auch noch durch sein neues Interesse an der literarischen Welt des „Ostjudentums“ demonstrieren. Andernfalls kann durchaus verwundern, dass hier bereits eine Zweitverwertung vorgelegt wird. Das Werk des bedeutenden jiddischsprachigen Erzählers Mendele Moicher Sforim (hebr.: des Buchhändlers Mendele) (1836-1917) war Anfang der 1960er Jahre in den historischen Übersetzungen von Alexander Eliasberg, Salomo Birnbaum und Efraim Frisch, die diese für Ausgaben des Löwit-Verlags und der Schocken-Bücherei erarbeitet hatten (erschienen zwischen 1918 und 1937), schon einmal im Freiburger Walter-Verlag wieder aufgelegt und von Klaus Wagenbach betreut worden.[11] Walsers Kenntnis des Schriftstellers Abramovitsh bezieht sich in erster Linie auf Susanne Klingensteins Studie „Mendele der Buchhändler. Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh“ (2014), das neben Karl Erich Grözinger auch Martin Walser gewidmet ist.[12] Nicht ohne eine gewisse Bewunderung für Walsers Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden, sei hier allerdings, durchaus in Übereinstimmung mit der Grundintention der vorliegenden Anthologie, an die Kontinuitäten seines Werks erinnert. So findet sich auch im Essay über Abramovitsh die Gegenüberstellung von „Juden“ und „Deutschen“ wieder, die gerade in der Anerkennung „der deutschen Schuld“ eine Ausgrenzung der deutschen Juden vornimmt[13]:

„Das Ausmaß unserer Schuld ist schwer vorstellbar. Von Sühne zu sprechen ist grotesk. Mir ist im Lauf der Jahrzehnte vom Auschwitz-Prozess bis heute immer deutlicher geworden, dass wir, die Deutschen, die Schuldner der Juden bleiben. Bedingungslos. Also absolut. Ohne das Hin und Her von Meinungen jeder Art. Wir können nichts mehr gutmachen. Nur versuchen, weniger falsch zu machen.“

Das Ideal der „vorurteilslosen Mitteilung“, wie es Meier für Walsers Schreiben und es hier einmal mehr von Walser selbst behauptet wird, bleibt allerdings unerreicht. Ärgerlich ist vor allem, dass der Herausgeber Meier die Chance einer literaturgeschichtlichen Reflexion von Walsers „Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld“ durch Einbeziehung auch der kritischen Stimmen versäumt hat. Stattdessen führt er die „erbittert geführte Meinungsschlacht“ fort, über die er sich zugleich erhaben weiß, und stellt die „geschlagenen Schlachten“ entgegen seiner Behauptung im „philologischen Sandkasten“ nach. So gibt er etwa zu bedenken, dass „zweierlei gänzlich unterging“: Ignatz Bubis habe keineswegs den Vorwurf des Antisemitismus gegenüber Martin Walser erhoben und überdies habe Bubis seine „Bedenken wenige Wochen nach der Rede“ zurückgenommen. Bubis nahm in dem Gespräch tatsächlich den Ausdruck eines geistigen Brandstifters zurück, zugleich aber bestand er darauf, dass der Begriff von der „befreienden Wirkung“, die Walsers Rede ausgelöst habe, für ihn „nach wie vor ein Problem“ darstelle. Es kann also kaum die Rede davon sein, dass seine Bedenken ausgeräumt worden seien. Richtig ist zwar, dass Bubis gegenüber Walser nicht den Vorwurf des Antisemitismus erhoben hat; innerhalb der Debatte allerdings spielte Antisemitismus sehr wohl eine Rolle, etwa in einigen der an Martin Walser gesandten Leserbriefe, die Frank Schirrmacher in seiner Dokumentation der Debatte veröffentlicht hat.

Daneben irritiert der Tonfall, in dem Meier die kritischen Stimmen zu Walsers Werk und Wirken abqualifiziert. Es ist etwa die Rede von der „Polemik um die Friedenspreisrede“, die „ins Hysterische gesteigert“ wurde, oder vom Einsetzen „eine[r] inquisitorische[n] Jagd auf antisemitische Klischees“, vom „Kampf um die Aufmerksamkeit“ oder von den „öffentlichkeitswillige[n] Wasserträger[n]“. Die gegen Walsers Texte erhobenen und „zum Teil absurden“ Vorwürfe zeugen nach Ansicht Meiers „von hartnäckiger Lektüreabstinenz“, was wohl kaum von Matthias N. Lorenz behauptet werden kann, dessen Befunde aus „‚Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‘. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser“ (2005) Meier dennoch komplett übergeht. Er begnügt sich damit, Lorenz in einer Endnote als „Walser-Kritiker“ einzuführen und ihm einen „bizarre[n] Fehler“ vorzuwerfen, der sich allerdings auf den angegebenen Seiten bei Lorenz gar nicht findet. Es geht um die fälschliche Zuschreibung einer vermeintlich „jüdischen Nase“, mit der in „Tod eines Kritikers“ nicht die karikierte Kritikergestalt Ehrl-König ausgestattet ist, sondern der gekränkte Autor Hans Lach. Dieses Beispiel musste schon in „Der Ernstfall. Martin Walsers ‚Tod eines Kritikers‘“ (2003) herhalten.[14] Wenn Meier also den Walser-Kritikern „eine inquisitorische Jagd auf antisemitische Klischees im Roman wie im gesamten Werk Walsers“ unterstellt, „die sogar vor großen Nasen nicht zurückschreckte“, dann sei daran erinnert, dass Martin Walser keine Scheu hatte, das jüdische, zum Katholizismus konvertierte, Flüchtlingsmädchen Susanne Schmolka mit einer „jüdischen“ Nase zu versehen:

„Susanne schien alles mit der Nase zu beurteilen. Wenn sie den Kopf drehte auf dem langen Hals, der allein schon eine schöne Kurve war, wenn ihr Gesicht erschien: es war die Nase. Die Nase, die zu schnuppern schien. Sie hob sich hinaus vor das Gesicht und wäre wahrscheinlich zu weit hinausgeraten, wenn sie draußen spitz aufgehört hätte, deshalb bog sie sich rechtzeitig nach unten, nur eine winzige Kurve abwärts, und hörte auch gleich auf.“[15]

Dieser Abschnitt aus Walsers Roman „Halbzeit“ (1960) fehlt leider in Meiers Zusammenstellung.

[1] Frank Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main 1999.

[2] Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf die inzwischen durchaus beträchtliche Literatur zu diesem Thema einzugehen. Exemplarisch genannt sei der grundlegende Sammelband: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust (=Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer-Instituts, Bd. 6). Hg. von Stephan Braese, Holger Gehle, Doron Kiesel und Hanno Loewy. Frankfurt am Main/New York 1998.

[3] Zur Kampagne gegen Ilja Ehrenburg s. Carola Tischler: Die Vereinfachungen des Genossen Ėrenburg. Eine Endkriegs- und eine Nachkriegskontroverse. In: Elke Scherstjanoi (Hg.): Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen (=Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, Bd. 14). München 2004, S. 326-339.

[4] Ehrenburg unterschied in seiner Hass-Kampagne zwischen dem bewaffneten Soldaten und dem wehrlosen in Gefangenschaft. So schrieb er in seinem Artikel „Über den Hass“ vom 5. Mai 1942: „Der deutsche Soldat mit dem Gewehr in der Hand ist für uns kein Mensch, sondern ein Faschist. Wir hassen ihn. […] Wenn der deutsche Soldat seine Waffe losläßt und sich in Gefangenschaft begibt, werden wir ihn mit keinem Finger anrühren – er wird leben.“ Zit. in Tischler, Die Vereinfachungen, S. 330.

[5] Wolfgang Benz: Vorwort. In: Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart 2005, S. 11f., hier S. 12.

[6] Norbert Frei: Auschwitz und Holocaust. Begriff und Historiographie. In: Hanno Loewy (Hg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 101-109, hier S. 101.

[7] Ebd., S. 102.

[8] Vgl. dazu und zu einer ausführlichen Analyse des Essays „Unser Auschwitz“ meine Darstellung in Hans-Joachim Hahn: Repräsentationen des Holocaust. Zur westdeutschen Erinnerungskultur seit 1979 (=Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 33). Heidelberg 2005, S. 249-262.

[9] „Dann wurde allmählich immer mehr bekannt, was wirklich 33 bis 45 passiert war, und das konnte einen sozusagen nicht mehr loslassen.“ (Transkribiert vom Verf.) Martin Walser in einer Sendung des Hessischen Rundfunks, ausgestrahlt am 16. Februar 2015.

[10] Ähnlich dargestellt bereits in Hahn, Repräsentationen des Holocaust, S. 262.

[11] Mendele Moicher Sfurim: Fischke der Krumme und Der Wunschring. Zwei Romane. Olten und Freiburg i.Brsg. 1961; Ders.: Die Fahrten Binjamins des Dritten, Die Mähre und Schloimale. Drei Romane. Olten und Freiburg i.Brsg. 1962.

[12] Susanne Klingenstein: Mendele der Buchhändler. Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh (=Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur, Bd. 27). Wiesbaden 2014. Die Widmung für Walser lautet: „Für Martin Walser, der wollte, dass dieses Buch für deutsche Leser, besonders aber für ihn selbst geschrieben werde“.

[13] Dieses Verständnis steht dem Selbstverständnis von Ignatz Bubis direkt entgegen: „Bubis will als Jude deutscher Staatsbürger sein.“ Raphael Gross: Ignatz Bubis – Ein jüdisches Leben in Deutschland. In: Ignatz Bubis – Ein jüdisches Leben in Deutschland. Hg. von Fritz Backhaus, Raphael Gross und Michael Lenarz. Frankfurt am Main 2007, S. 9-13, hier S. 11.

[14] Dieter Borchmeyer/Helmuth Kiesel (Hg.): Der Ernstfall. Martin Walsers „Tod eines Kritikers“. Hamburg 2003, S. 21.

[15] Martin Walser: Halbzeit. Roman (1960). In: Martin Walser-Gesamtausgabe. Werke in zwölf Bänden, Bd. 2. Hg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch. Frankfurt am Main 1997, S. 289f. Hier zit. nach Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart 2005, S. 267.

Titelbild

Martin Walser: Shmekendike Blumen. Ein Denkmal / A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014.
138 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783498073879

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Martin Walser: Unser Auschwitz. Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld.
Herausgegeben von Andreas Meier.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
400 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783499271267

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