Eine schlafwandelnde Lektüre

Philipp Osten untersucht in seiner Studie über „Somnambulismus und Hellsehen“ den Schlaf als „Das Tor zur Seele“

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine Epoche, in der die Nacht zum Tag wird. Die Romantiker verfassen „Nachtstücke“, widmen sich dem Wahnsinn, den Untoten, der Fantasie und nicht zuletzt dem Schlaf. In seiner Untersuchung zum Schlaf, Somnambulismus und Hellsehen führt der Medizinhistoriker Philipp Osten seine Leser in eine vergangene Zeit: in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er führt den Lesern das „Who is who“ dieser Epoche vor, von Ärzten über „Schlafkranke“, Philosophen bis hin zu Geistlichen. Er stellt uns den Leibarzt Carl Christian von Klein vor, einen Verfechter des „thierischen Magnetismus“, die Naturphilosophie Schellings, die Somnambule Franziska Kurz, den Pfarrer Johann August Steinhofer und seine „Patientin“ Anna Barbara Straub sowie die „Regeln des Schlafs“, die in der Populärkultur des frühen 19. Jahrhunderts kursierten.

Obwohl Osten der Begriffsklärung des „Somnambulismus“ ein Kapitel widmet, scheint die rätselhafte Krankheit auch nach der Lektüre noch zwischen den Fächergrenzen zu oszillieren. Begegnet man ihr nun mit herkömmlicher Medizin, mit Magnetismus oder doch mit Exorzismus? Osten stellt sehr ausführlich den Fall der Franziska Kurz dar, die im Württembergischen Obersulmetingen ab 1815 von dem Mediziner Carl Endres vom Somnambulismus geheilt werden sollte. Der Landvogteiarzt Endres beschreibt die „Mattigkeit“ und „Kraftlosigkeit“ der Siebzehnjährigen. Sie war bereits seit 1812 von dieser Krankheit ergriffen, war bettlägerig und sogar blind geworden, jedoch durch „animalischen Magnetismus“ vorübergehend wieder geheilt worden. Sie soll ihre eigenen Krankheitssymptome, deren Eintreffen und Dauer vorhergesagt haben können, schrieb Endres. Wenn sie in „magnetischen Schlaf“ versetzt wurde, konnte sie ungeöffnete Briefe lesen, die man ihr auf den Magen legte, und stand nächtelang im Dunkeln, ohne sich in ein Bett begeben zu wollen. Sie hat, wenn man so will, „übersinnliche Fähigkeiten“. Doch es ist nicht die Frage nach der Glaubwürdigkeit dieser merkwürdigen Krankheit, der Osten in seiner Monografie nachgehen will. Er untersucht stattdessen sehr genau Textquellen wie Briefe und Fallberichte aus dieser Zeit und stellt diese für den Leser penibel zusammen. So zeichnet er die Karriere Endres nach und bewertet dessen schriftliche Veröffentlichungen. Dem Leser beantwortet das die drängenden Fragen zwar nicht.

Spannend liest sich jedoch die eigene Beschreibung der Leidensgeschichte von Franziska Kurz. Einige Seiten sind der Monografie als Digitalisate beigefügt. Sie sind nicht nur Dokument einer Schlafstörung, sondern auch des niedrigen Alphabetisierungsgrades dieser Zeit. Osten schreibt, dass es für eine Siebzehnjährige aus armen, ländlichen Verhältnissen um 1815 nicht selbstverständlich war, einen Text von 1.300 Wörtern verfassen zu können. Kurz gelingt das, jedoch setzt sie so gut wie keine Satzzeichen und scheint das Erzählte nicht ordnen zu können. Sie schreibt über ihre Behandlung mit dem Magnetismus: „Er saget er wolle ein Versuch machen er machte den erste Versuch den 21 März und da hat es uns gleich das erste mahl gelungen da er mich Magnetasiehrte und ich nicht weiß was das ist wurde ich auf einmal sehr schläfrig und das ich sonst nie war und die Schmerzen verloren sich gleich und ein Anfang wurde aber für heftiger und ich hab sie verlangen mehr Magnethaisiert zu werden den 23 März“. Jedenfalls scheint sie auf die Magnetisierung anzusprechen, fordert sie sogar von den Ärzten ein. Sie hat Erscheinungen von Engeln und äußert wiederholt „Gott Lob und Dank“. Kein Wunder, dass Franziska Kurz die Neugierde nicht nur von Medizinern, sondern auch katholischer Theologen weckte. Osten nimmt an, dass letztere exorzistische Praktiken an ihr vollzogen. Die Schilderungen des Autors deuten auch darauf hin, dass die Krankheit durch Geschlechterbilder und -konstellationen geprägt ist. Die Frage nach der Menstruation schien damals vordergründig zu sein, die Neigung zum „Übersinnlichen“ womöglich von vornherein weiblich konnotiert.

Schließlich resümiert Osten, dass für die von ihm untersuchten Jahre zwischen 1800 und 1840 die Vorstellung prägend war, dass der Schlaf dem Tod entspreche und damit dem „Universellen“: Die Frage nach dem Schlaf sei eine Frage nach der Seele gewesen. Dieses „Tor zur Seele“ habe sich ab 1840 geschlossen, da nun Experimente und physiologische Beobachtungen den Schlaf entzauberten. Immerhin habe die Diskussion über den wissenschaftlichen Gehalt des animalischen Magnetismus zu einer Professionalisierung moderner Fallberichte geführt. Das Fazit, das Osten aus den zahlreichen Quellen und der detailreichen Rekonstruktion der 40 Jahre „Schlafgeschichte“ zieht, fällt nicht allzu mutig aus. Der Autor wirft einen nüchternen Blick auf die Philosophien, die er rezipiert, auf die Fallberichte, aber auch auf die romantischen Konzepte von Magnetismus, Somnambulismus und Hellsehen. Es ist eine sehr reichhaltige, kulturgeschichtliche Darstellung des Schlafs in seiner historisch gesehen vielleicht umstrittensten Zeit. Doch bei den Interpretationen bleibt der Autor zurückhaltend – und lässt den Leser um einiges klüger, aber doch auch entzaubert und mit neuen Fragen zurück.

Titelbild

Philipp Osten: Das Tor zur Seele. Schlaf, Somnambulismus und Hellsehen im frühen 19. Jahrhundert.
Schöningh Verlag, Paderborn 2015.
383 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783506779359

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