Reise in den Abgrund

Reinhard Wilczek beleuchtet die Hintergründe von Stefan Zweigs Freitod in einer „Historischen Miniatur“

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 23. Februar 1942 erhielt die Polizei des brasilianischen Städtchens Petrópolis die Nachricht, in der Rua Goncalves Dias 34 habe ein distinguiertes Fremdenpaar Selbstmord begangen. Die Polizei stellte fest, dass es sich bei den beiden Toten um den deutschsprachigen Schriftsteller Stefan Zweig und seine zweite Frau Charlotte handelt. Neben dem Bett fand man eine Glasflasche mit Veronal, auf dem Schreibtisch frisch angespitzte Bleistifte und später im Haus einen Abschiedsbrief.

Seitdem beschäftigt die Literaturgeschichte der rätselhafte Freitod des damals meistgelesenen deutschsprachigen Autors. Zweigs Entscheidung, sein Leben zu beenden, stieß nicht überall auf Verständnis, zumal seine materielle Existenz, anders als die vieler Schriftstellerkollegen im Exil, gesichert war. Nun hinterfragt der Autor und Germanist Reinhard Wilczek in seiner „historischen Miniatur“ die Gleichzeitigkeit von literarischem Welterfolg und unaufhaltsamen Untergang in den letzten beiden Lebensjahrzehnten des Schriftstellers.

Für seine Analyse geht Wilczek bis an den Anfang der 1920er-Jahre zurück, denn für ihn beginnt Zweigs Reise in den Abgrund schon hier, obwohl Zweig eine erfolgreiche schriftstellerische Tätigkeit entfaltete und in den folgenden Jahren in den Rang eines Weltautors aufstieg. Bereits 1925 befand sich Zweig in einer depressiven Phase, was sich in seinem Essay „Der Kampf mit dem Dämon“ äußerte, vor allem in seiner intensiven Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche.

Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre genoss Zweig sein Leben und seinen Ruhm noch in vollen Zügen, die besorgniserregende Entwicklung in Deutschland wurde von ihm nicht oder „allenfalls wohlwollend-naiv“ wahrgenommen. Selbst bei Verunglimpfungen und Hasstiraden gegen seine Person und sein Werk leistete er kaum Widerstand. Mit der Bücherverbrennung im Mai 1933, als auch seine Werke in Flammen aufgingen, ahnte Zweig zwar „eine tiefe Gefahr“, aber der weiterhin auf Ausgleich bedachte Autor hatte nicht die Kraft zum Protest. Erst als ein Jahr später sein Salzburger Domizil von der Geheimpolizei durchsucht wurde, emigrierte er zunächst nach London.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nahm er zwar die britische Staatsbürgerschaft an, doch London schien ihm zu unsicher. Mit seiner zweiten Frau Charlotte, die er 1939 geheiratet hatte, gelangte er über die Stationen New York, Argentinien und Paraguay schließlich nach Brasilien. Hier beginnen Zweigs letzte achtzehn Monate voller Ängste und Depressionen. Seine „Schachnovelle“ ist für Wilczek Ausdruck von Zweigs „Isolationismus und Hermetismus“ in der Ferne. Auch wenn der Name „Nietzsche“ hier nicht fällt, weist die „geschilderte Erfahrung des Nichts“ doch eindeutig auf den Philosophen hin.

Abschließend fasst Wilczek noch einmal alle Krisen im Leben von Stefan Zweig zusammen, vom Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Donaumonarchie über die Salzburger Hausdurchsuchung bis hin zu seinem Freitod am Ende der Welt. Auch die Rolle seiner Frau dabei beleuchtet er kurz. Wilczek gelingt es prägnant und lesenswert, auf den 120 Seiten die Spuren für den Freitod in Zweigs Leben und Werk aufzuspüren.

Titelbild

Reinhard Wilczek: Stefan Zweigs Reise ins Nichts. Historische Miniatur.
Limbus Verlag, Innsbruck 2015.
120 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783990390429

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