Panoptikum des Abenteuers

Eine Sammlung von Märchen des Phantastikers Hanns Heinz Ewers

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der kleine Jupp Quetschbüdel ist ein wahrer Menschenhändler. Ohne zu zögern verkauft er dem braven Klassenkameraden Otto Bender seine Großmutter. Für dreißig Murmeln, „jeden Tag 1 Buterbrod mit Schinken bies er tot ist“ und einige andere Gefälligkeiten darf Otto die fremde Oma nicht nur ansehen, sondern sogar den Geschichten lauschen, die die alte Dame erzählt.

„Wie Otto Bender sich eine neue Großmutter kaufte“ heißt die kleine Erzählung, in der Jupp und Otto zusammenfinden. Sie bildet den Auftakt zu jenen Märchen von Hanns Heinz Ewers, die Sven Brömsel nun zu einem famosen, von Elena Zjazeva illustrierten Bändchen zusammengestellt hat. Um eine Auswahl aus verschiedenen Publikationen der Jahre 1902 bis 1905 handelt es sich, die jedoch weitgehend um dasselbe Personal kreisen und einen lockeren Zusammenhang besitzen. Damit setzt sich der erfreuliche Trend fort, dass zumindest kleinere Verlage einen Granden der phantastischen (Horror-)Literatur zugänglich machen, den zu vergessen einen wahren Verlust bedeuten würde. Anders als das Ewers-Lesebuch (ebenfalls vom Rezensenten besprochen) bietet „Freche Fee und lustiger böser König“ allerdings nicht jenes Grauen, nach dem es erwachsene Leser des meist genialischen, manchmal aber auch etwas peinlichen Vielschreibers dürstet, sondern kleine Märchen und Abenteuergeschichten, für die das Wort ,lausbübisch‘ gemacht zu sein scheint und die altersunabhängiges Vergnügen bereiten.

Ein Großteil der Geschichten lässt sich zwei Kategorien zuordnen: Da sind einmal jene, die die Großmutter den beiden Jungen erzählt, und die häufig von der kleinen Lise oder dem Märchenreich Ulalume handeln (eine Anspielung auf das gleichnamige Gedicht Edgar Allan Poes, mit dem Ewers sich 1905 in einer Monografie intensiv auseinandersetzte) und zum anderen die, in denen sich Jupp und Otto auf den Weg machen, selbst märchenhafte Abenteuer zu erleben, die sie in das Reich des Fliegenkönigs führen. Hier mag man dem Herausgeber vorhalten, dass seine Textanordnung nicht immer geglückt ist: Die Märchen der Großmutter und die Abenteuergeschichten um Jupp und Otto wechseln sich ab, was größere Bögen mitunter durchtrennt, etwa wenn Jupp am Ende der Reise zum Fliegenkönig befürchtet, zu Hause eine Tracht Prügel für sein langes Ausbleiben zu bekommen, was sich erst gut hundert Seiten und etliche Geschichten später am Anfang des Märchens vom „Zauberer der Wüste“ bewahrheitet. Es wäre nicht zuletzt für potentielle abendliche Vorleser schöner gewesen, diesen Verbindungen Rechnung zu tragen und zusammenzuführen, was zusammengehört. Allzu gravierend freilich ist dieser Mangel nicht, lässt das ewersche Panoptikum des Skurrilen solche Sprünge doch rasch wieder vergessen.

Die quetschbüdelsche Großmama informiert den geneigten Leser in ihren Erzählungen zum Beispiel darüber, wie die Ginsterhexe den Fasching erfunden hat: Die schöne Königstochter Fanfrilla, die bei ihr das Hexen lernen soll, fühlt sich vom Kalendermann beleidigt, dessen Jahreseinteilung mit dem unsinnig kurzen Februar sie empfindlich stört. Da der König den Mann allerdings nicht wie verlangt köpfen und anschließend hängen lassen kann (aus naheliegenden Gründen), erscheint der Beschuldigte mit allen Kindern vor der Prinzessin, um sie demütig um Entschuldigung zu bitten. Das kleinste seiner Kinder, der freche Februar, treibt dabei so tolle Scherze, dass schließlich die Ginsterhexe einschreiten muss, um für Frieden zu sorgen: Sie macht den kleinen Querulanten zum Prinzen Fasching, der jedes Jahr für einige Tage seine Späße treiben darf, womit denn auch die Prinzessin zufrieden ist.

Eine immer wiederkehrende Figur in den Märchen der Großmutter ist die kleine Lise, die nicht nur zur Milchstraße fliegt (und dabei in manchen Dingen „Peterchens Mondfahrt“ vorwegnimmt), sondern es auch ihrer nahen Verwandten Alice gleichtut und durch einen wunderländlichen Wald marschiert, in dem sie einem selbstgefälligen Füllfederhalter, einer „fleckenleckenden“ Kröte und einem Igel begegnet, der schöne Mädchen – und Lises Puppe – heiratet, in Gurken verwandelt und dann als Salat isst (wovor Lise ihre Puppe gerade noch retten kann).

Daneben treten Seeräubergeschichten und arabisch anmutende Abenteuer in der Wüste Gobi, wo ein böser Zauberer sein Unwesen treibt und von einem tapferen Ritter bezwungen werden muss. Aus diesen kunterbunten Erzählungen sticht die vom „Singwald“ heraus, der alles Augenzwinkernde der übrigen Märchen völlig fehlt. Ewers lässt die Großmutter von einem frommen Einsiedler im Schwarzwald erzählen, dessen Glaube durch mehrere Unglücksfälle schwer erschüttert wird und der sich in seiner Verzweiflung einem geheimnisvollen Wanderer anschließt. Auf ihrer Reise begeht der Fremde grausame Verbrechen – er stiehlt einem gastfreundlichen Edelmann dessen kostbarsten Pokal, zündet das Haus einer armen Familie an, vergiftet das Kind eines Köhlers und führt diesen selbst an einen Abgrund, wo er den Tod findet. Daraufhin gibt er sich dem Einsiedler als Erzengel Gabriel zu erkennen und verschwindet. Nun lösen sich die Rätsel auf; der Eremit erfährt, dass der Köhler ein Mordbrenner war und das Kind vergiftet wurde, um unschuldig in den Himmel zu kommen; die arme Familie entdeckt in den Ruinen ihres Hauses einen Schatz und der Pokal des Gastfreundes hätte ihn durch ein verstecktes Gift das Leben gekostet – die Handlungen des Wanderers erscheinen dem Einsiedler nun als göttliche Gerechtigkeit, er findet seinen Frieden und kehrt in seine Klause zurück, wo er einen Hymnus an den Herrn schreibt.

Demgegenüber fallen die Abenteuer von Jupp und Otto in die so typische Leichtigkeit des ewerschen Stils zurück. Die beiden verkleinern sich gegenseitig, indem sie verkehrt herum durch ein Fernrohr blicken, und gelangen so in das Reich des Fliegenkönigs, dessen Tochter sie aus dem Magen eines Frosches retten und für den sie in den Krieg gegen die Mücken ziehen (was eine recht blutige Angelegenheit ist; der Autor konnte eben nicht ganz aus seiner Haut); am Ende durchkämmen sie ein unterirdisches Labyrinth auf der Suche nach einem Schatz, dessen Fund sie fast mit ihrem Leben bezahlen, der ihnen letztlich aber wenig nützt, weil sie vergessen, auch ihn wieder zu vergrößern.

Den Abschluss der Sammlung bildet das „Märchen vom kleinen Koriandoli“, die nicht ganz jugendfreie Geschichte eines einzelnen Konfettis, das auf einem Ball seinen Weg vom Haar in den Schoß einer jungen Tänzerin findet, um am nächsten Morgen im Schnurrbart eines Husaren zu erwachen – ein Beispiel dafür, dass Ewers Märchen nicht nur für ein minderjähriges Publikum schrieb, sondern auch für die Leser seiner phantastischen Romane.

In einem Nachwort informiert der Herausgeber schlussendlich noch über Ewers Leben und Schreiben. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Märchen demzufolge als recht anspielungsreich; neben das Spiel mit der Tradition (etwa die grandiose Froschkönig-Variation „Die kleine Ilna und der Quakfrosch“) treten auch Verweise auf zeitgenössische Tendenzen in Malerei und Literatur, die die Märchen auch für die Philologen unter den Lesern zur interessanten Lektüre machen dürften. Empfohlen seien sie jedem.

Titelbild

Hanns Heinz Ewers: Freche Fee und lustiger böser König. Märchen.
Illustrationen von Elena Zjazeva. Herausgegeben von Sven Brömsel.
Ripperger & Kremers Verlag, Berlin 2014.
222 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783943999174

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