Wenn die Schuld auf einem lastet

Ayelet Gundar-Goshen schreibt in „Löwen wecken“ über einen folgenschweren Unfall

Von Elisabeth BökerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Böker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach einer viel zu langen Schicht im Krankenhaus sitzt der israelische Arzt Etan im Jeep auf dem Weg nach Hause. Es ist tiefe Nacht. Jan Joplins kreischt aus den Boxen. Der Neurochirurg ist „hungrig“ aufs Lospreschen. Die vor ihm liegende Strecke lädt geradezu dazu ein. Natürlich – wir können es schon ahnen – passiert genau in dieser Situation das Unglück, das Etans Leben völlig verändern wird. Auf folgende nüchterne Weise wird der Unfall beschrieben. „Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr.“

Poetisch und nüchtern zugleich, so lässt sich der Stil der israelischen Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen beschreiben. Zu entnehmen auch aus der sich anschließenden Szene: „Und als er ihn umfuhr, dachte er im ersten Moment immer noch an den Mond, dachte weiter an den Mond und hörte dann mit einem Schlag auf, als hätte man eine Kerze ausgeblasen. Im ersten Augenblick konnte er nichts anderes denken, als dass er dringend kacken musste. […] Und dann war der Körper schlagartig abgekoppelt. Das Gehirn schaltete auf Autopilot. Er spürte nicht mehr, dass er kacken musste. Er fragte sich nicht mehr, ob er es überhaupt bis zum nächsten Atemzug schaffen würde.“

Überfahren hat der Arzt Etan einen Eritreer. Offener Schädelbruch, so die Diagnose des Fahrers. Überlebenschancen: keine. Natürlich geht es Etan durch den Kopf zu helfen. Er überlegt, ihn ins Krankenhaus zu liefern. Denkt darüber nach, der Polizei den Unfall zu melden. Aber er entscheidet sich dagegen. Er lässt den Mann am Straßenrand liegen und dort sterben.

Nicht bemerkt hat er, dass er an der Unfallstelle sein Portemonnaie verloren hat. Noch weniger, dass die Frau des Eritreers den Vorfall beobachtet hat. Sie zeigt den Arzt zwar nicht an, dafür aber verpflichtet sie ihn, Nacht für Nacht in einer Werkstatt illegal nach Israel eingewanderte Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. Auf Grund von Schuldgefühlen geht Etan diese Vereinbarung ein. Es bleibt nicht bei einer Nacht, über Wochen, gar Monaten hin, wird er in den Nächten Menschen das Leben retten.

Allerdings gibt „Löwen wecken“ weniger Einblicke in die Hilfstätigkeit des Arztes, als dass er Beschreibungen dessen liefert, was sich im Kopf von Etan abspielt. Einen sehr gelungenen, starken psychologischen Roman hat Ayelet Gundar-Goshen somit vorgelegt. So erfahren wir, dass Etan die Arbeit nicht des Helfen Willens ausführt, sondern nur, um sich seiner Schuld zu befreien. In Wirklichkeit ekelt ihn die Arbeit an, er wünscht sich nichts stärker, als dass der Unfall nie passiert wäre. Wir erfahren, was der Unfall darüber hinaus in seinem persönlichen Umfeld auslöst, allem voran in seinem Familienleben. Niemand geringeres als Etans Frau, die Kriminalbeamtin ist, wird mit der Aufklärung des Unfalls beauftragt. Etan kann ihr seine Tat nicht gestehen, weil er Angst hat, sie sonst zu verlieren. Die Wochen sind größte Belastung für die Beziehung, ist Etan fast nie da, wenn doch, übermüdet und gereizt gegenüber seiner Frau, seinen Kindern. Verstärkt wird dieser Einblick noch, weil die Handlung abwechselnd aus der Sicht verschiedener Personen erzählt wird, neben Etan aus der Sicht seiner Frau Liat und der Frau des Eritreers.

Es wird einen Ausweg aus der Situation geben, so viel sei gesagt. Eine überraschende, aber absolut überzeugende. Insgesamt ist „Löwen wecken“ ein überaus empfehlenswerter Roman, der zum einen wie bereits angesprochen überaus detaillierte Einblicke ins psychologische Innenleben der zentralen Personen liefert. Zum anderen ist er gerade auch durch die Perspektivwechsel überaus abwechslungsreich geschrieben, noch dazu in einem sehr eigenen Ton. Immer wieder hat man beim Lesen das Gefühl, einen Krimi in der Hand zu halten, so spannend wird die Handlung aufgezogen. Darüber hinaus führt er uns ein in das heutige Leben in Israel, besonders der Flüchtlingsproblematik.

Titelbild

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2015.
432 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783036957142

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch