Die bestgelaunte Redaktion

Max Brods Roman „Prager Tagblatt“ erinnert an die Glanzzeit des Böhmischen Feuilletons vor dem Einmarsch der Deutschen im Jahr 1939

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beinahe legendär darf man den Rang des Prager Tagblatts in der Geschichte der Presse und des Feuilletons deutscher Sprache nennen. Eine der größten deutschsprachigen Zeitungen in Böhmen in der ausgehenden österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und sodann in der ersten tschechoslowakischen Republik, wurde es weit über die Grenzen Prags und des Landes hinaus zu einem der bedeutendsten Blätter seiner Zeit. Egon Erwin Kisch und Friedrich Torberg, Alfred Polgar und Alexander Roda Roda, Joseph Roth und Sándor Márai arbeiteten für die Zeitung, deren Glanzzeiten, insbesondere die des Feuilletons, in die Zwischenkriegszeit fielen. Zwischen deutschem und tschechischem Nationalismus vertrat die Zeitung eine vermittelnd liberale Position. Dann ab 1933 wuchs ihr noch die Rolle eines unabhängigen Beobachters der Vorgänge im nationalsozialistischen Deutschen Reich und eines wichtigen Publikationsorgans für deutsche Exilautoren zu. Erst infolge der deutschen Besetzung Tschechiens im Frühjahr 1939 war es damit vorbei, und das Prager Tagblatt musste nach über 70-jährigem Bestehen sein Erscheinen einstellen.

Im Gegensatz zu zahlreichen jüdischen Autoren des Prager Tagblatts, die der nationalsozialistischen Politik zum Opfer fielen, gelang Max Brod im letzten Moment die Flucht nach Palästina. Zwischen 1924 und 1939 arbeitete er als Redakteur für die Zeitung, insbesondere war er über viele Jahre für deren anspruchsvolles literarisches Programm verantwortlich, das Autoren wie Robert Walser und anderen Zeitgenossen ein Forum bot. Und er sollte nach dem Krieg – wie etwa auch sein Freund und Kollege Friedrich Torberg in „Die Tante Jolesch“ (1975) – dem Prager Tagblatt literarisch ein Denkmal setzen, und zwar nicht allein in seiner Autobiographie „Streitbares Leben“ (1960), sondern vor allem mit dem 1957 erschienen Roman „Rebellische Herzen“. Dort heißt die Zeitung freilich noch „Böhmische Post“. Erst mit einer Neuauflage in Brods Todesjahr 1968 bekommt sie ihren anspielungsreichen Namen und erhält auch das Buch als Ganzes jenen anspielungsreichen Titel, der ihm Brod zufolge von Anfang an zugedacht war: „Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion“. Dieser liegt nun in einer neuen Edition vor, bevorwortet von Thomas Steinfeld und benachwortet von Helmuth Nürnberger. Es handelt sich um den mittlerweile bereits achten Band der seit dem Jahr 2013 bei Wallstein erscheinenden, von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann herausgegebenen Max-Brod-Auswahledition, die von literaturkritik.de bereits mehrfach besprochen wurde, etwa hier oder hier.

Diese Neuausgabe bietet nun die Gelegenheit, nicht nur einen weiteren Roman Brods, der neben seiner journalistischen und literaturkritischen Tätigkeit vor wie nach dem Krieg ja selbst produktiver und erfolgreicher Autor war, wiederzuentdecken, sondern ebenso auch das Prager Tagblatt. Letzteres spielt innerhalb des Romans freilich nur eine Nebenrolle, wenn auch eine gewichtige. Nach dem Verlust seiner geliebten Frau Edith tritt Armand Tischler, ein Maler, der das Interesse an seinem Beruf verloren zu haben scheint, in die Redaktion des Prager Tagblatts ein. Er wird Kunstkritiker, später dann politischer Berichterstatter der Nachtredaktion; auf konkrete Inhalte dieser journalistischen Arbeit kommt der Roman jedoch kaum je zu sprechen. Es sind die 1930er-Jahre, in Deutschland herrschen die Nazis, in Gestalt der Henlein-Bewegung sind sie längst auch in der noch unabhängigen Tschechoslowakei präsent, und mithin ist das Ende einer Epoche bereits absehbar, der Brod mit seinem Roman retrospektiv durchaus nostalgisch verbunden bleibt. Er präsentiert seinen Lesern die vitale Redaktion des Prager Tagblatts: „eine übermütige Redaktion, dies Prager Tagblatt, die lustigste, die ich je gesehen habe, und dabei war ich während meiner Mal-Bohème-Zeit als Gast in Pariser, Berliner und Wiener Redaktionen viel herumgekommen. Welch verbissener Berufsernst überall! Etwas Frische und Witz flackerte freilich in jeder dieser Nachrichtenbuden auf, das gehörte ja gewissermaßen zum Métier; doch anderwärts flackerten die Irrlichter nur geduldeterweise und nebenher. Hier dagegen, im Prager Tagblatt, wurden sie angebaut und gepflegt. Es war eine Irrlichter-Plantage.“

Unbehelligt von den Interessen der im Hintergrund stehenden Eigentümer dirigiert der von Tischler bewunderte Chefredakteur Simta seine Mitarbeiter mithilfe von „Schrapnells“, kryptischen Notizen, die er zur Anregung stoßweise an alle Redaktionsmitglieder verschickt, zwanglos, doch geleitet von der grundsoliden Überzeugung: „Der Käufer hat immer recht.“ Liebevoll geschildert begegnet in den ersten Kapiteln das Personal des Blattes, vom Redaktionsdiener Nowotny bis zum ehrgeizigen Stellvertreter Simtas, seinem „Kronprinzen“ Vicky Rheintaler. Auch Egon Erwin Kisch hat im Laufe des Romans seinen Auftritt, sowie, wenigstens dem Hörensagen nach, ironischerweise, Max Brod und Franz Kafka.

Die Redaktionsatmosphäre und ihre politischen Zusammenhänge bilden gewissermaßen den Humus, auf dem die weitere Romanhandlung gedeiht: Der Ich-Erzähler Armand Tischler verfängt sich im Spannungsfeld von amour fou und zaghaften Versuchen, humanistischen Sinns eine bessere Welt zu schaffen. Er lässt sich auf eine abgründige Liebschaft mit der „verrückten Karly“ ein, die er in einem Prager Nachtlokal kennenlernt. Und er gerät andererseits in den Bannkreis des „Doktor Fliegibus“, vordergründig Gerichtsreporter der Zeitung, in Wahrheit jedoch ein Mystiker, ein Theologe der Demut gar, dem es um Tischlers Gnadenstand zu tun ist und der ein Geheimnis mit sich trägt, das Tischler nicht weniger in den Bann zieht, als es ihm mit Karly geschieht. Zumal durch die nationalsozialistische Bedrohung dem Untergang geweiht, kann diese Konstellation nicht gutgehen. Dass es gleichwohl nicht ohne jede Perspektive auf ein Gutes endet, darf man Brods zuversichtlicher Gesinnung zuschreiben. Anders aber lässt sich diese Zeit, bei aller wehmütiger Erinnerung, wohl nicht erzählen: „So viel Düsternis – und über alles hin die gute Laune gestrichen wie ein Honigbrei. Das war das Prager Tagblatt.“

Anmerkungen

Digitalisate des Prager Tagblatts aus den Jahren von 1877 bis 1938 finden sich auf der Website der Österreichischen Nationalbibliothek.

Titelbild

Max Brod: Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion.
Mit einem Vorwort von Thomas Steinfeld.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
456 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313392

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