Die unsterblichen 2658

Jürgen Theobaldy hat mit „Rückvergütung“ glücklicherweise keinen Krimi, sondern einen Schelmenroman geschrieben

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Corsa“ ist eine (fiktive) schweizerische Krankenversicherung „mittlerer Grösse“ und sucht dringend einen neuen Mitarbeiter. Lüthi war mit 53 Jahren tot zusammengebrochen. Direktor Muhrer und sein Stellvertreter Iseli werden sich schnell mit Herrn Renner einig. Dieser war vor kurzer Zeit aus einer Bank ausgeschieden. Sein Glück mag er kaum fassen – endlich ist die Situation der Familie (Frau Sofie und der kleine Marco) wieder besser. Muhrer lädt Renner und seine Frau Sofie auf der letzten Grillparty der Saison zu sich nach Hause ein. Dort lernt Renner auch Wernige kennen, einen eher kauzigen Versicherungsmakler, der mit der Aura eines großen Akquisiteurs versehen wird. 2.658 Kunden hat Wernige der „Corsa“ gebracht. Hübsch geordnet auf Papier, in Karteikästen. Es ist eine der Aufgaben von Renner, diese Kartei zu digitalisieren. Sofort fällt ihm auf, dass alle Kunden betagt sind. Und gleichzeitig erfährt der Leser, dass es im schweizerischen Krankenversicherungssystem einen Risikoausgleich unter den Kassen gibt. Wer vermehrt ältere Versicherte aufnimmt, erhält einen finanziellen Ausgleich.

In einem Gutachten des schweizerischen Bundesamts für Gesundheit heißt es tatsächlich: „Der Risikoausgleich hat die Aufgabe, morbiditätsbedingte Unterschiede zwischen Versicherten auszugleichen. Bei einem idealen Risikoausgleich erwartet der Versicherer den gleichen Erlös, ob er nun einen schwer erkrankten oder einen gesunden Versicherten aufnimmt.“ Jürgen Theobaldys Setting in Rückvergütung hat also einen realen Hintergrund. Nach wenigen Seiten, noch vor Renner, merkt der Leser, dass Werniges „Kunden“ einzig dazu dienen, diesen Risikoausgleich zu ergaunern. Renner mag das zunächst nicht glauben, versucht Wernige zu erreichen. Der scheint jedoch vom Erdboden verschwunden.

Nach kurzer Zeit wird er von Muhrer und Iseli eingeweiht. Die 2.658 Personen existieren nicht (was allerdings in dieser Deutlichkeit niemals gesagt wird). Renner soll den „Hochbetagten“ Krankheiten und somit ein Leben andichten. Die Aufsichtsbehörde sei derzeit unterbelegt, das Risiko sei also eher gering und aussteigen könne man immer noch. In drei Jahren werden 25 Millionen an Zuwendungen kassiert, so lernt Renner. Davon waren 8 Millionen auf geheime Konten der Direktoren verschoben worden. Der Rest wurde in wettbewerbsfähige Prämien für Neukunden „investiert“, die der „Corsa“ am Ende immer mehr Mitglieder brachten. Auch Renner bekommt nun ein höheres Gehalt und verschafft sich bei seinem ehemaligen Kollegen in einer Bank ein anonymes Konto. Nicht einmal Sofie weiht er darüber ein.

Noch in einem anderen Punkt ist Sofie arglos: Renner hat eine Affäre mit Muhrers Frau Jeannine, die offensiv von ihr ausgerechnet bei dem Besuch eines Orgelkonzertes in einer Kirche initiiert wurde. Man trifft sich ein paar Mal pro Woche in der Mittagspause in einem Hotel. Renner plagen zwar Gewissensbisse, er kann sich aber der Faszination dieser sexuellen Ausschweifung nicht entziehen, auch wenn es nur einige Monate andauert, bis Jeannine die Sache dann wieder beendet.

Sehr früh ahnt man, dass das alles nicht gutgehen kann. Es ist eine große Kunst von Jürgen Theobaldy, einerseits auf den sich abzeichnenden Showdown hin zu schreiben, andererseits jedoch beim Leser nicht eine Sekunde Langeweile aufkommen zu lassen. Da das Buch aus personaler Sicht Renners erzählt wird, weiß der Leser, dass auch Renner dies ahnt.

Er möchte viel Geld verdienen, seiner Frau imponieren, ein guter Vater sein, vielleicht ein zweites Kind. Man erfährt seine intimsten Gedanken, Befürchtungen, Ängste und Zukunftspläne. Er schläft schlecht, denn „seine Familie hatte er an den Teufel verkauft“; seine Familie, nicht seine Seele, denn, so der Erzähler, „die war ihm gleichgültig“. Er ist geschmeichelt und abgestoßen zugleich von diesem Doppelleben, das er der Familie wegen weiterführt. Zu verführerisch das Geld, zu rauschhaft die Affäre mit Jeannine. Die Arbeit selber ist nicht schwer. Der Betrug ist eine nüchterne Aneinanderreihung von Verwaltungsarbeiten; staubtrocken, ohne jeglichen Glamour. 

Renner ist ein sehr guter Beobachter und Antizipierer. Sehenden Auges taumelt er in den Abgrund, kann aber gleichzeitig nicht davon lassen. Theobaldy findet hierfür eine schelmisch-witzige Sprache, irgendwo zwischen Thomas Bernhard, Loriot und Wilhelm Genazinos Abschaffel-Trilogie. Einige zuweilen etwas gesuchte Kalauer stören kaum. Männer werden stets mit Nachnamen benannt, Frauen mit Vornamen. Wohltuend, dass Theobaldy den so gerne in der Literatur verwendeten ironischen Ton, der sich über die Figuren erhebt, weitgehend vermeidet. Er belässt sie in ihrer Verantwortung, so dass bis zum Schluss beim Leser kein Mitleid aufkommen mag.

Höhepunkte im Buch sind die wöchentlichen Meetings zwischen Muhrer, Iseli und Renner und die „gezielte Unbestimmtheit von Muhrers Auslassungen“. Nichts wird konkret ausgesagt, alles verbleibt in einer blumigen Mehrdeutigkeit. So zieht Renner aus Duktus, Gesten und Körpersprache der Direktoren seine Schlüsse. Die „gezielte Unbestimmtheit“ ist auch in den manierierten, postkoitalen Dialogen zwischen Renner und Jeannine das dominierende Element. Bis dahin: „halb nackte und ganz nackte, nach Schweiß und auch Urin riechende, mal sachte, mal heftig schabende Wahrheiten aus Haut und Fleisch. […] Rucken und schrubben, schrappen und kratzen. Rocken und rollen, ja, das auch.“

Als Muhrer Renner andeutet, dass er vom Verhältnis zwischen ihm und seiner Frau weiß, wird dies ebenfalls nur indirekt angesprochen. Dabei stellen sich für Renner – und auch dem Leser – mehr Fragen als Antworten: Wurde Jeannine etwa gezielt auf Renner angesetzt, um diesen stärker an die Firma und die kriminellen Machenschaften zu binden? Paranoia oder gewiefte Taktik? Als es in einer anderen Angelegenheit ein Problem mit der Aufsichtsbehörde gibt, wird Renner sanft aber bestimmt als Sündenbock nach außen aufgebaut. Er lässt dies mit sich geschehen und erfährt dabei, dass Muhrer dieses Verhalten aus Renners Vorgangsweise, die zu seiner Kündigung in der Bank führte, vorausgesehen hatte.

Nach etwas mehr als einem Jahr wird der Fehler, den Renners Vorgänger und jetzt auch er gemacht hatte, auch für die eigentlich unterbesetzte Aufsichtsbehörde sichtbar: Keiner der 2.658 Betagten war während der letzten vier Jahre verstorben. Und dies beim statistischen Mittel von 11% Sterblichkeitsquote. Lüthi und Renner hatten schlicht vergessen, einige der Karteileichen sterben zu lassen. Die Betrügerei fliegt in Windeseile auf. Es kommt zum Prozess. Und schließlich auch noch zum GAU, was das Verhältnis zu Sofie angeht, die von Jeannine über die Affäre haarklein aufgeklärt wird. 

Obwohl das Vorhersehbare vollkommen unspektakulär eintritt, fesselt der Roman. Renners Verteidigungsversuche vor Gericht sind halbherzig, sein Plan, Jeannine als Retourkutsche im Prozess bloßzustellen und Muhrer damit stärker zu belasten, scheint zu misslingen. Die Strafmaße bleiben unerwähnt, wie sie sich vermutlich auch Renner nur undeutlich erschließen. Wichtiger ist für ihn der Kontakt zu Sofie, der zunächst von der Schwiegermutter abgeschmettert wird. Schließlich schreibt Sofie ihm einen Brief ins Gefängnis. Die anderthalb Seiten, auf denen Theobaldy Renners Überlegungen über Form und Inhalt der Botschaft seiner Frau hin und herwiegt, bevor er endlich den Umschlag aufreißt und die Botschaft liest, sind meisterlich.

Theobaldy hat keinen plotlastigen Wirtschaftskrimi geschrieben. Damit bleiben einige Fragwürdigkeiten im Diffusen, etwa wie die Versicherung die fehlenden Einnahmen der 2.658 Karteimitglieder generiert und bilanziert. Der Reiz des Romans liegt im scheinbaren Ausgeliefertsein der Figur Renner. Auch die elliptische Rhetorik der Figuren bietet immer wieder neue Nuancen der Erkenntnis. Geradezu erholsam, dass Theobaldy sich jeglichen moralischen Kommentars enthält.

Titelbild

Jürgen Theobaldy: Rückvergütung. Roman.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2015.
146 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783884234914

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