Jenseits des Schreckens tanzende Paare

Über den Gedichtband „Letzte Tänze“ (2003) – die letzte Rezension zu einem Buch von Günter Grass

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir sind mit ihm alt geworden, wir sind mit ihm jung geblieben. Er, Günter Grass, ist der Dichter unserer Generation, der in den zwanziger und dreißiger Jahren geborenen. Und wenn nicht er, wer sonst? Ich weiß keinen einzigen Namen, der hier ernsthaft in Betracht kommen könnte.

Die Vokabel „Dichter“ zielt letztlich auf alles ab, was im Werk von Grass außerordentlich ist, also auf das Poetische in seinen Romanen und Erzählungen und, das mag überraschen, bisweilen in seiner Essayistik. Das Außerordentliche und im tieferen Sinne auch das Dichterische – das trifft ebenso auf seine (von der Kunstkritik meist ignorierte) Graphik zu, auf seine Zeichnungen und Skulpturen. Denn was man „gattungsübergreifend“ nennt, war für Grass immer schon selbstverständlich. Der Schriftsteller und der bildende Künstler, der Erzähler und, versteht sich, der Lyriker – sie profitieren unentwegt voneinander.

Müßig wäre es, die Gattungen innerhalb seines Werkes gegeneinander auszuspielen. Gleichwohl wage ich die Behauptung oder zumindest die Vermutung, daß Grass, genauso wie die größten deutschen Dichter von Goethe über Heine bis Brecht, seinen persönlichsten, seinen intimsten und innigsten Ausdruck in der Lyrik findet. Man hat sie von Anfang an unterschätzt.

In seiner Jugend wird jeder Autor von Vorbildern und Leitfiguren angeregt, wenn nicht berückt und bestimmt. Daraus haben schlechte Philologen ein ganzes Forschungsgebiet gemacht, das in der Regel recht unergiebig ist. Man könnte es mit einem scheußlichen, doch vielleicht nützlichen Wort „Einflussologie“ nennen. Dennoch will ich der Frage, unter welchen Vorzeichen die Lyrik des jungen Grass zunächst stand, nicht ausweichen.

Er selber hat ohne Nachdruck auf zwei oder drei Franzosen des zwanzigsten Jahrhunderts hingewiesen und beiläufig auf Ringelnatz. Aber die Gedichte von Grass sind doch von anderer Art, ich selber wäre wohl weder auf die Franzosen gekommen noch auf Ringelnatz.

Gewiß, es lassen sich in seinen frühen Versen gelegentlich expressionistische Nachklänge vernehmen. Aber auf welchen deutschen Dichter, der nach 1945 zu schreiben begann, trifft das nicht zu? Ob der Expressionismus ihnen mehr oder weniger gefiel, sie konnten sich ihm nicht entziehen, er hat sie alle geprägt. Nur ist die Lyrik von Grass ungleich nüchterner als die der Expressionisten. Das Zelebrierende ist ihm so fremd wie Aufschreie und Beschwörungen.

Sein poetischer Stil hat auch nichts mit Rilke, George oder Benn gemein. Und mit Brecht? Grass hat natürlich und gottlob hier und da von Brecht ein wenig gelernt. Natürlich? Ja, denn abermals muß man sagen: Wer von den deutschen Dichtern unserer Zeit ist Brecht nicht zu Dank verpflichtet?

Im Laufe von beinahe einem halben Jahrhundert (sein erster Gedichtband, „Die Vorzüge der Windhühner“, erschien 1956) hat Grass gute und herrliche, schwache und schlechte Gedichte geschrieben, doch keine – und das ist etwas Ungewöhnliches – epigonalen. Übrigens: Poeten, die, anders als Goethe oder Hölderlin, nie mißratene Gedichte verfaßten, schätze ich nicht, wenn es solche Poeten überhaupt gibt. Es kann sich immer nur um Autoren handeln, die das Risiko scheuen, die also, um es kurz und bündig zu sagen, keine Künstler sind.

So bleibt mir nichts anderes übrig, als zu kapitulieren und es bei einem respektvoll-bescheidenen Befund zu belassen: Grass ist wie Grass. Weder ist er der Tradition der volkstümlich-liedhaften noch der kritisch-reflektierenden oder der hymnisch-sakralen Poesie gefolgt. Er war waghalsig und hartnäckig genug, nur aus dem Eigenen zu schöpfen. Daran hat sich nichts geändert.

Damit mag es zu tun haben, daß ihm nie Prätentiöses oder Affektiertes unterläuft. Denn: „Affektation entspringt nicht sowohl aus dem Bestreben, neu, als aus der Furcht, alt zu sein.“ Friedrich Schlegel hat dies um 1800 bemerkt. Grass hat, glaube ich, diese Furcht nie gekannt – weder der Erzähler noch der Lyriker oder der Dramatiker.

Seine Verse haben Leser gefunden, ohne je einem Leserbedürfnis entgegenzukommen. Alles Gefällige ist ihm zuwider, das Melodiöse wohl verdächtig. Einschmeichelndes wird man hier vergeblich suchen. Nicht die Melodie ist seine Sache, sondern der Rhythmus. Grass bevorzugt das Eckige, das trotzig Abgehackte. „Mein Versfuß gab sich hinkend, doch nicht lahm“ – heißt es in dem Autoporträt „Des Wiederholungstäters halbherziger Bericht“, einem der Höhepunkte des neuen Gedichtbandes „Letzte Tänze“.

Sein vielzitiertes Wort „Alles Schöne ist schief“ ließe sich ergänzen: Alles Wohlklingende ist ihm bedenklich, Grass hält es geradezu für überflüssig. Streng und spröde, herb und hart, karg und kahl ist diese Poesie und immer sachlich, sie ist trocken – und doch gefühlvoll. Er erkennt im Alltäglichen das Besondere, das Nichtalltägliche. Mehr noch: Er ist fasziniert vom Reiz und Charme des Prosaischen, er erhebt das Prosaische zum Poetischen. Das gilt für seine ganze Lyrik und erst recht für die „Letzten Tänze“.

Ein erstaunliches Alterswerk ist es (Grass wird im Oktober 76 Jahre alt), doch kraftvoll und nicht weniger jugendlich als sein damals, in den fünfziger Jahren, kaum wahrgenommenes Debüt. Manches in den neuen Versen kommt uns bekannt vor – und das stört mich nicht. Denn im Grunde wiederholt er sich nicht, vielmehr bleibt er sich treu.

Die Gedichte und Graphiken in diesem neuen Band sollte man nicht voneinander trennen: Sie bilden eine Einheit. Nur hat Grass weder seine Verse illustriert noch seine Zeichnungen kommentiert. Sie ergänzen sich gegenseitig. Und das wiederum sollte man nicht auf eine pädagogische Intention zurückführen, wohl aber auf den einfachen Umstand, daß sie gemeinsame Wurzeln haben: Sie entstammen demselben Fundus der Bilder und Metaphern, der Impulse und Impressionen, kurz, derselben Weltsicht, derselben Phantasie.

Den Band eröffnet das Gedicht „Gottähnlich“. Nachdem Grass, berichtet er hier, „des Schiffes Untergang / und den nachhallenden Schrei / zum Buch verkürzt hatte“, also nach seiner Novelle „Im Krebsgang“, habe er etwas Heiteres zum Gegenstand seiner Laune machen wollen. So begann er, „Figuren, Mann und Frau in Bewegung – als Hohlkörper zu formen: jenseits / des Schreckens tanzende Paare“. Darum geht es in diesem Buch: um den Schrecken unserer Epoche und um uns, die wir trotz allem leben. Wie jeder Lyriker mit sich selbst beschäftigt, war Grass gleichwohl immer schon programmatisch weltoffen – und er ist es geblieben.

Goethe schrieb in einem Brief von 1818: „Alles, was geschieht, ist Symbol, und, indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das Übrige“: Er brauche nur zum Fenster hinauszusehen, sagte er in einem Eckermann-Gespräch von 1827, „um in straßenkehrenden Besen und herumlaufenden Kindern die Symbole der sich ewig abnutzenden und immer sich verjüngenden Welt beständig vor Augen zu haben“. Über das eigene Werk sprechend, definiert Goethe in beiden Äußerungen das Wesen und die Funktion der Symbolik.

Grass, wie eh und je in Details und Requisiten verliebt, ist, glücklicherweise, nie auf der Suche nach Symbolen. Ein Stiefel ist bei ihm ein Stiefel und eine Pfeife nichts anderes als eine Pfeife, zunächst jedenfalls. Aber an Sinnbildern fehlt es in seinen Versen nicht, nur kommen sie von selbst und deuten sogleich „auf das Übrige“ – in den frühen genauso wie in den neuen. Er verfertigt auch keinen doppelten Boden. Den haben wir in diesen Versen, gewiß doch, aber er entsteht unwillkürlich und zwangsläufig. So werden sie uns von Grass geboten – „die Symbole der sich abnutzenden und immer sich verjüngenden Welt“.

Auch der Tanz ist in diesem Buch beides auf einmal: eine alltägliche Realität und doch das zentrale Symbol, immer wieder auftauchend und dennoch überhaupt nicht aufdringlich. Der Tanz, der steht erst einmal, über sich hinausweisend, für die Jugend. Die herrliche? Haben wir hier etwa wieder einmal die längst konventionellen Erinnerungen an die schönste Zeit des Lebens? Mitnichten.

Sentimental war Grass nie, mehr oder weniger anarchisch immer schon. Wo er seiner „durchtanzten Jugend“ lapidar gedenkt, wird nichts beschönigt: „Weil Krieg war und Männer / in Stiefeln weit ostwärts / so daß sich die Mädchen / aus Mangel und Tanzlust / uns Jungs von der Bank weg / mit Fingerschnalz wegholten.“

Weder den Triumph noch die Trauer besingt dieses Gedicht. Es endet mit einer kühlen Feststellung: „Hieß Ilse, war Tippse, / die richtigen Männer warn draußen im Krieg.“ Die vom Krieg übriggeblieben waren, wollten sich auf den Tanzböden der Vorstadt „das Überleben und sonst noch paar Nummern beweisen“.

Letztlich signifiziert der Tanz in der Poesie von Grass alle seine Themen – und es sind die alten Themen der Dichtung: von der Einsamkeit und der großen Vergeblichkeit bis zur Liebe und zum Tod. „Zwei Körper, die eins sind, doch nichts / von sich wissen“ heißt es im „Tango nocturno“, wir gleiten „dem Tod auf den Fersen, / uns selbst hinterdrein“ im „Tango mortale“.

Für das Motiv der Vergänglichkeit findet Grass ein verblüffend einfaches, ein wunderbares Bild: „Laß uns tanzen im Schnee, damit wir, / solang er noch liegt, Spuren machen / im knirschenden Weiß / die bleiben, bleiben . . .“

In der Tat, sie werden schon bleiben – der Autor sagt es voraus –, nämlich bis es taut. Ein anderes Gedicht geht auf die Verse zu: „Ja doch, ich weiß: allenfalls / bleiben Scherben.“

Die Ironie ist es, die Grass vor jeglichem Pathos bewahrt, seine Sprache läßt Feierlichkeit niemals aufkommen, das Anarchische verhindert Rührseligkeit. Aber das Anarchische ist gezähmt, seine Vitalität, die nicht nachgelassen hat, ist diszipliniert. So fällt beim Vergleich mit den vorangegangenen Gedichtbänden auf, wie sparsam Grass, seine künstlerische Energie unter Kontrolle haltend, mit Worten umgeht – doch ohne durch die Verknappung die Verständlichkeit seiner Verse einzuschränken oder das Vielsagende, also ihren Beziehungsreichtum, zu mindern.

Verwunderlich zunächst ein wortgewaltiger Wutausbruch: „Als der Walzer in Mode kam“. Nichts gefällt dem Danziger Grass in Österreich: Nicht der Walzer, der „zu beschwingt, zu rechtsrum, linksrum, zu selig und ohne Ecken“, nicht die Donau, die zu blau, nicht des „Himmels Hängeboden“, wo ihn gar zu viele Geigen stören. Er verhöhnt den „Wiener Schmäh im Dreivierteltakt“ und „die Firma Strauß, den Opernball und weitere kostümbunte Filme“. Nichts will er wissen von des Untergangs süßem Singsang. Und das fesche Madel, „Melencolia“ genannt, verspottet er als „rundum überzuckert“. Man fragt sich: Ist das nicht zuviel des Aufwands? Nein, denn es geht natürlich nicht um Österreich, dieses steht für unser Europa, das ihn so bitter enttäuscht: „Nach soviel Walzer- und Waffenexport / schaust du tränenblind zu.“

Doch nirgends kommt die lyrische Substanz, die poetische Kraft des Günter Grass so stark und ergreifend zum Vorschein wie in seinen erotischen Gedichten, jenen zumal, die vom Alltag der Liebe sprechen. Es sind Verse voll Glück, voll Leid und Mitleid, doch ohne Selbstmitleid, voll Zucht und auch Nachdenklichkeit. Sie machen spürbar und erkennbar: den Rausch und die Abgeklärtheit, die Seligkeit und, zwischen den Zeilen, die Abschiedsstimmung.

Knapp und kurz ist die Rede von dem, was sich sehen, hören und schmecken, was sich anfassen läßt. Es ist also wieder sinnliche und sinnenhafte Poesie, geschrieben von einem, der nicht auf den Gedanken kommt, er könnte sich bloßstellen.

Das alles, ließe sich vielleicht einwenden, hatten wir schon in der früheren Lyrik von Grass, zumal in dem wichtigen Band „Ausgefragt“ von 1967. So ist es. Und doch finden wir in den „Letzten Tänzen“ eine andere Dichtung, eine andere Etappe des poetischen Werks, das mit den „Windhühnern“ begann. Nach wie vor ist Grass, jetzt „der Tänzer, der rasch atemlos“, selbstbewußt. Aber er ist mittlerweile, glaube ich, zu reif und zu alt, um hochmütig zu sein. Nicht ohne stillen (und berechtigten) Stolz bekennt er: „Von allen Freuden war mir eine ganz besonders lieb: den Stein zu wälzen streng nach Sisyphos-Prinzip.“

So ist der Ton – wie könnte es anders sein? – oft elegisch. Tanz und Tod stehen hier nahe beieinander: „Schon räumen die Kellner ab. Wir ahnen, daß demnächst, / wenn nicht sogleich, Schluß ist, hoffen aber / auf Zugaben bis zuletzt.“

Es sind sanfte und doch männliche Verse. Sie haben viel der Umgangssprache zu verdanken. So endet der „Schleiertanz“: „Und ich – an Striptease gewöhnt – / schaue dir zu, ungeduldig, / ein wenig genervt.“ In dem Gedicht „Nach Mitternacht“ lassen sich die beiden, gleich nach den Spätnachrichten, vom Küchenradio führen: Ein Slowfox, altmodisch, fügt zusammen, was tagsüber zerstreut seinen Lauf nahm. „Liebste, nur wenige Takte, / bevor du mich und dich – / wie immer um diese Zeit – / mit Tabletten versorgst: einzelne / und gezählte.“

„Schamlos“ ist ein prägnantes Gedicht betitelt, das daran erinnert, wie klein der Schritt ist oder sein kann, der vom Orgasmus zur Meditation führt, vom Animalischen („wie Tiere / leckten wir uns“) zum Intellektuellen („das Unbegreifliche / der letzten Beethoven-Quartette“). Manche Verse in diesem Band sind tatsächlich schamlos, doch frei vom Exhibitionistischen, und sie geraten niemals auch nur in die Nähe des Obszönen.

„Komm, tanz mit mir, solange ich noch bei Puste“ beginnt ein Gedicht, das beweist, daß Grass, sobald er dazu Lust hat, die traditionelle gereimte Strophe virtuos handhaben kann. Es ist, wenn man mir die Eigenschaftsworte verzeiht, ein zartes und rührendes Gedicht. Die erste Strophe endet: „Drum bitt ich dich um eine Pause Toleranz, / bis ich gelenkig bin zum nächsten Tanz.“ Und die letzte: „Komm tanz, lieg bei, sieh zu und staune, / was mir noch möglich ist bei Gunst und Laune.“

Vielleicht ist das schönste Gedicht des Bandes eines, das ohne Menschen auskommt und bloß von zwei Buchen erzählt: „Die Stämme glatt und nah bei nah, / daß grad ein Luftzug / die Haut noch streichelt. / Erst im Geäst sind sie behende, / nackt winterlich verzweigt / vor leergeräumtem Himmel.“

Die letzte Zeile lautet: „Zwei Buchen tanzen auf der Stelle.“ Dieses Gedicht, „Zum Paar gefügt“, beschert uns eine Erschütterung der reinsten Art. Es wird uns, vermute ich, überleben.

Ich weiß schon, ich habe hier etwas reichlich zitiert, aber man sollte es nicht belächeln. Denn – so ein anderer Nobelpreisträger aus Lübeck – „auch das Zitieren ist eine Form der Dankbarkeit“.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension zu Günter Grass: Letzte Tänze. Gedichte und Bilder. Steidl Verlag, Göttingen 2003 (als Taschenbuch bei dtv 2007 ) ist mit dem Untertitel „Zu den neuen Gedichten von Günter Grass“ zuerst erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 30.8.2003, Nr. 201, S. 42, später ohne Untertitel auch in Marcel Reich-Ranicki: Unser Grass. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. S. 195-204. Es ist die letzte Rezension, die Reich-Ranicki über ein Buch von Grass geschrieben hat. Wir danken Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe von literaturkritik.de.

Titelbild

Günter Grass: Letzte Tänze.
Steidl Verlag, Göttingen 2003.
96 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3882438827

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Günter Grass: Letzte Tänze.
mit 32 Zeichnungen des Autors.
dtv Verlag, München 2007.
96 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783423136068

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch