Kulturelle Landschaften im Mittelalter

Patrizia Carmassi, Eva Schlotheuber und Almut Breitenbach geben Beiträge zur Schriftkultur und zu religiösen Zentren im norddeutschen Raum heraus

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Hamburg sich um die Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahr 2024 bewarb, gehörte zum Konzept der Hinweis auf die Bedeutung der Hansestadt als Metropole für die norddeutsche und nordeuropäische Region. Von einer Olympia-Stadt Hamburg erhofft man sich nicht nur ein großes sportliches Spektakel, sondern darüber hinaus positive Impulse und Effekte auf das weitere Umland.

In der Bewerbung wird der Verweis auf den „Raum“ als ein durchaus wichtiges Argument verwendet. Zugleich stellt sich die Frage, wie groß dieses norddeutsche bzw. nordeuropäische Gebiet ist, auf das die Hamburger Olympischen Spiele einwirken wollen. Dass der norddeutsche Kulturraum nicht einfach zu definieren ist, wird nicht nur in der Olympia-Bewerbung offensichtlich. Die Problematik der Begrenzung einer norddeutschen Kulturlandschaft reflektieren auch die Beiträger des von Patrizia Carmassi, Eva Schlotheuber und Almut Breitenbach herausgegebenen Sammelbands über die dortige mittelalterliche, religiöse Kultur, der auf die Wolfenbütteler Tagung „Schriftlichkeit und Kulturtransfer im norddeutschen Raum“ (7.–9.10.2009) zurückgeht.

Durchaus angestoßen vom „spatial turn“ wird nicht versucht, den norddeutschen Kulturraum – man ist sich des Konstruktcharakters des Begriffs „norddeutsch“ wohl bewusst – als Fläche zu definieren, sondern man will ihn „im historischen Sinne von seinen Zentren her […] erfassen.“ Der methodische Ansatz bedingt, dass die Zentren zunächst zu benennen sind, was Hedwig Röckelein in ihrem sehr umfangreichen und grundlegenden Beitrag über die Schrift- und Bildungsregion als zugleich religiöse Landschaft in Norddeutschland für das gesamte Mittelalter leistet. Mit „Norddeutschland“ setzt sie die Region des früh- und hochmittelalterlichen Sachsens und der missionierten Gebiete östlich der Elbe gleich; sie bezieht aber auch den mitteldeutschen Raum in ihre Untersuchung mit ein, da die norddeutsche Bildungslandschaft bedeutende Impulse von dort empfing. Beginnend mit dem Kloster Corvey im 9. Jahrhundert und endend mit der Universitätsgründung in Greifswald im 15. Jahrhundert gelingt Röckelein eine beeindruckende „Tour d’horizon“ und schafft damit die fundierte Basis für weitere Forschungen zu diesem Bereich.

Die übrigen Aufsätze des Bandes sind nicht mehr enzyklopädisch angelegt, sondern widmen sich einzelnen Trägern und Orten. Sie thematisieren die Bedeutung der liturgischen Praxis und ihres vermittelnden, kulturellen Potentials für Klostergemeinschaften, die Anpassungsprozesse süddeutscher Liturgiepraxis an die Bedingungen des Mindener Bistums, die Rekonstruktion der materiellen Kultur des Augustiner-Chorfrauenstifts Steterburg anhand eines Inventars von 1572, die Erstellung und Verbreitung von Handschriften und Büchern im norddeutschen Raum, die schwierige und mühselige Rekonstruktion des Weges von Handschriften aus Norddeutschland nach Skandinavien sowie die regionale volkssprachliche Vielfalt.

Herausgeberinnen und Verlag gaben den Beiträgern genügend Raum, um ihre Gegenstände und Argumentation angemessen ausführlich zu entfalten und wenn sinnvoll mit Abbildungen von Handschriften sowie Editionen zu stützen. So entstehen philologisch sehr anspruchsvolle und ansprechende Studien, die vor allem einen fachlichen und weniger einen methodologischen Beitrag zum „spatial turn“ in den Kulturwissenschaften leisten.

Mit der Übersicht über die Zentren der Schriftkultur und den Einzelstudien werden fundierte Grundlagen geschaffen, um weiter den norddeutschen und schließlich auch den nordeuropäischen Raum jenseits der Nationalgrenzen zu erforschen. Insbesondere Rita Schlusemann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine nationale Herangehensweise an mittelalterliche Forschungsgegenstände eine „grundsätzlich inadäquate Forschungsposition“ darstelle, und man stattdessen für das Mittelalter den „über große Regionen erstreckenden Kulturtransfer“ zu beachten habe, was insbesondere für das „kontinentalwestgermanische Kulturgebiet“ gelte.

Wie diffizil es allerdings ist, die Kultur in der norddeutschen Region zu rekonstruieren, wurde in den Beiträgen deutlich, die unter den enormen Verlusten an Handschriften seit dem 30-jährigen Krieg leiden und immer wieder auf die bruchstückhafte Überlieferung etwa der Bestände mittelalterlicher Bibliotheken hinweisen müssen. Ungeachtet dieser zum Teil widrigen Bedingungen bleibt zu hoffen, dass weitere Studien zum norddeutschen und nordeuropäischen Kulturraum erstellt werden, um so dann auch einen Beitrag für die Kultur und das Selbstverständnis des heutigen Europas leisten zu können.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Patrizia Carmassi / Eva Schlotheuber / Almut Breitenbach (Hg.): Schriftkultur und religiöse Zentren im norddeutschen Raum.
Wolfenbütteler Mittelalter-Studien.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2014.
548 Seiten, 108,00 EUR.
ISBN-13: 9783447100168

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