Mehr als ein Buch

Neue Studien zum Schulbuch als Sachbuch und Bildungsmedium

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer erinnert sich bei einer Rückschau auf die eigene Schulzeit nicht an schwere Ranzen mit dickleibigen Wälzern und leichten A4-Arbeitsheften. Extreme Stimmungslagen zwischen Glück und Trauma, Freude und Abneigung sowie Begeisterung und Bangen verknüpfen sich für Schülerinnen und Schüler mit dem Begriff Schulbuch; Eltern assoziieren unter anderem kiloschwere Ranzen und dünner werdende Geldbeutel mit dem Gegenstand. Um so wichtiger, dass sich wissenschaftliche Institutionen der Erforschung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Schulbuchs widmen. Eine herausragende Einrichtung und Fixpunkt solcher Forschung ist das „Georg-Eckert-Institut. Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung“ in Braunschweig. Insofern ist Maren Tribukait, Herausgeberin der neuen Ausgabe der Zeitschrift „Non Fiktion“ und Mitarbeiterin des Georg-Eckert-Instituts, zuzustimmen, wenn sie in ihrem Editorial auf die herausragende Rolle des Schulbuchs hinweist und konstatiert: „Es ist mehr als ein Buch: Das Schulbuch ist eine Institution im Bildungssystem, ein Produkt politischer Entscheidungen, ein Anker für Lehrende und Lernende.“

Auch die Zeitschrift, in der sich solche Zeilen finden, hat eine beachtenswerte Perspektive auf Literatur, Medien und Kultur. „Non Fiktion“ verstand und versteht sich als Zeitschrift für Analysen und Forschungen zum Sachbuch und zu anderen nicht-fiktionalen Gattungen, wie ein früherer Titel lautete. Als Reaktion auf die Diskussionen der 1970er- und 1980er-Jahre will die Zeitschrift den Fokus auf die Alltagsliteratur und Gebrauchstexte beziehungsweise -textsorten richten. Dass der aktuelle, neunte Jahrgang der Zeitschrift die Brücke zur Schulbuchforschung schlägt, erweckt Neugierde, denn nicht immer galten die Schulbücher als Sachbücher, wurden vielmehr als Lehr- und Fachbücher verstanden, die exklusiv der Wissensvermittlung dienen sollen. Auch die Zielgruppe eröffnete die Chance zur Differenzierung: Durch den Aufbau und das Ziel, Wissen zu portionieren respektive Kompetenzen anzubahnen, durch konventionalisierte Layouts, methodische Standards wie ständig wiederkehrende Zusammenfassungen des zu erlernenden Stoffs und vielfältigen Gliederungen und vor allem das Prinzip, einen kontinuierlichen Lehrgangsaufbau über die einzelnen Jahrgangsstufen hinweg sicherzustellen, galten Schulbücher als Textsorte sui generis. Dies betont auch Maren Tribukait: „Beim Schulbuch handelt es sich um ein Sachbuch eigener Art, das sich durch Mehrdimensionalität, Multimodalität und Intermedialität und vor allem durch eine spezifische Funktionalität auszeichnet.“

Die Vielfalt der Annäherungsweisen an den Forschungsgegenstand untermauert diese spezifische Betrachtungsweise: Fünf Aufsätze und zwei Interviews eröffnen anregende Perspektiven. So zeigt Adam Fijalkowski in der Rückschau auf die Anfänge, wie bereits Comenius‘ „Orbis sensualium pictus“ Charakteristika moderner Schulbücher vorwegnahm. Einerseits bilden Kompaktheit und Anlage als Überblickskompendium seither Anliegen von Schulbüchern, anderseits passte sich der „Prototyp“ des Schulbuchs recht schnell den Bedürfnissen von Schule und Lehrkräften an – mit vielfältigen Konsequenzen für die Wissensvermittlung.

Einem Teilaspekt geht der Beitrag von Lucia Halder nach, die sich den Bilderwelten im Schulbuch annimmt. Ihre Kernaussage klingt für Außenstehende bisweilen banal, ist aber insofern innovativ, da erst der Visual Turn auf die Wirkmächtigkeit von Bildern verwiesen hat: „Bilder in Schulbüchern strukturieren Texte, verbildlichen Sachverhalte und veranschaulichen abstrakte Zusammenhänge.“ Exemplarisch am Gegenstand des Geschichtsbuchs kann Halder zeigen, welch spannende „soziopolitischen Aushandlungsprozesse“ hinter vermeintlich simpel bebilderten Schulbuchseiten stecken. Bedenkenswert auch der materialreich abgesicherte Versuch, zu zeigen, dass durch Geschichtslehrwerke „kollektiv verfügbare Bilderhaushalte“ entstehen – mit mannigfaltigen Potenzialen für Manipulation und Propaganda.

Politisch-gesellschaftliche Implikationen der Textsorte zeigen auch die Beiträge von Thomas Strobel zum deutsch-polnischen Projekt eines gemeinsamen Geschichtsbuchs und von Zrinka Štimac zum „Umgang mit religiöser Vielfalt in Ethikbüchern“ auf.

Eine kritische Analyse vieler Deutsch-Oberstufenlehrwerke leistet Michael Schikowski. Er fragt nach den Potenzialen des Schulbuchs für die Leseförderung (gerade von Schülern) und identifiziert einen blinden Fleck der bisherigen Betrachtung auf Schulbücher im Fach Deutsch: Auch in diesen Unterrichtswerken ist die „Leseförderung bei Jungen, die sich vor allem belletristischer Literatur widmet, zum Scheitern verurteilt“. Mit anderen Worten: Lehrbuchmacher und -autoren sollten sich ihrer besonderen Verantwortung noch stärker bewusst sein, wenn sie Bücher nach den Lektüreinteressen von Jugendlichen konzipieren.

Nicht minder interessant ist der Blick aus der Verleger- und Macherperspektive. Philipp Haussmann, Vorstandssprecher des Klett Verlages, stellt in einem sehr lesenswerten Interview einige Interna des Schulbuchmarktes vor. Deutschland sei nach den USA der zweitgrößte Schulbuchmarkt der Welt, was zu einer diversifizierten Verlagslandschaft geführt habe. Zugleich sehe die Zukunft des Schulbuches nicht ausschließlich digital aus. Eine nachdenkenswerte Aussage des Verlagsrepräsentanten lautet insofern: „Wir gehen davon aus, dass das klassische Schulbuch in den meisten Fächern das sogenannte Leitmedium bleiben und dass es sich bis 2020 nicht wesentlich verändern wird.“ Eine Einschränkung gelte es zu berücksichtigen: „Alles was die Unterrichtsnachbereitung der Schüler und die Unterrichtsvorbereitung der Lehrer betrifft, wird zunehmend im Internet und am Computer stattfinden.“

Dass es auch anders kommen könnte, formulieren am Ende des interessanten und facettenreichen Heftes Heiko Przyhodnik und Hans Wedenig in einem Interview mit Maren Tribukait. Sie sind die Initiatoren der ersten deutschsprachigen Online-Plattform für ein offenes und freies Online-Biologie-Lehrwerk mit dem Namen „Schulbuch-O-Mat“. Im Zeitalter der Digitalisierung und von Open Sources, MOCs sowie Wikipedia ist ein individualisiertes, online verfügbares Lehrbuch für mobile Endgeräte sicherlich eine realistische Option.

Wer einen Zwischenstand zu aktuellen Trends der Schulbuchforschung einerseits und zur Schulbuchentwicklung andererseits sucht, wird mit großem Gewinn auf das Heft zurückgreifen können.

Titelbild

Maren Tribukait (Hg.): Non Fiktion - Schulbuch. Arsenal der anderen Gattungen.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2014.
124 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783865254481

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