Eine Kette von Jahrhundertzufällen

In Martin Suters Roman „Montecristo“ geschieht einiges, um das Platzen einer Seifenblase zu verhindern

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist ein äußerst produktiver Bestsellerautor, schreibt jährlich ein bis zwei Romane und seine zahlreichen Fans wissen es längst: Ohne Leichen geht es bei Martin Suter meist nicht. In „Montecristo“ fällt dem 1948 in Zürich geborenen Schweizer gleich zu Beginn jemand aus dem Intercity.

Der „Personenschaden“ im Zug ruft Suters Hauptfigur Jonas Brand auf den Plan, denn auf eine solche Chance wartet der Videojournalist tagtäglich. Der 38-jährige, geschiedene Filmfreak hat wie so viele seiner Zunft seit Jahren einen Blockbuster in der Schublade – seine moderne Monte-Christo-Story –, muss sich aber mit Kurzfilmchen für ein Lifestyle Magazin seinen Lebensunterhalt verdienen. Aber plötzlich passiert das Unmögliche: Jonas entdeckt zwei 100-Franken-Scheine mit identischer Seriennummer. Wenn es unmöglich ist, zwei gleiche Banknoten zu besitzen, wie groß muss dann erst der Zufall sein, das auch noch zu bemerken? Die Lösung ist klar: einer davon ist unecht! Er lässt die Scheine daraufhin in der Bank auf ihre Echtheit prüfen: Sie sind beide echt! Kurz darauf wird bei Jonas eingebrochen, aber es gibt keine Einbruchsspuren, wenig später wird er überfallen und ausgeraubt. Die Ereignisse machen ihm Angst, die Polizei glaubt ihm nicht, allein seine Geliebte Marina Ruiz vertraut ihm und sein Freund Gantmann, ein Wirtschaftsjournalist, rät ihm, die Scheine schnellstens auszugeben: „Das ist nichts fürs People-Business“.

Aber Jonas Brand wäre kein Journalist, würde er der Sache, die „statistisch unmöglich“ ist, nicht nachgehen. Dabei spielt plötzlich auch das Videomaterial vom Zugunglück eine Rolle, denn der Verunglückte war Banker – und da Pendlerzüge den Vorteil haben, dass sie stets von einem Stammpublikum genutzt werden, findet Jonas Monate später im gleichen Zug Kollegen des Toten. Ein Mann mit einer roten Igelfrisur taucht von nun an auffällig unauffällig an den verschiedensten Schauplätzen der Geschichte auf und weckt den Detektiv im Leser.

Wo auch immer der Protagonist Spuren folgt, werden ihm Steine in den Weg gelegt. Selbst in der entlegensten Polizeistation weiß man vom angeblichen Einbruch bei ihm und dem Überfall, den niemand gesehen hat, und misstraut ihm entsprechend. Schließlich wird eine der Banknoten doch als Blüte identifiziert und als Jonas vorm Fernseher bemerkt, dass seine Chefredakteurin genau die Szene aus seinem Video herausgeschnitten hatte, auf der der Chef einer Schweizer Großbank dem Chef der Bankenaufsicht zuprostet, trifft er wie stets auf eine Mauer des Schweigens. Unverhofft passiert an Heiligabend erneut etwas für den Protagonisten Undenkbares. Er bekommt ein Angebot, von dem er nie zu träumen gewagt hätte …

Martin Suter ist ein Berichterstatter der Gegenwart. Der einstige Werbe- und Wirtschaftsfachmann ist in den Vorstandsetagen der Großkonzerne, in den Clubs, Restaurants und bei den Events der High Society spürbar zuhause. Deshalb gelingt es ihm so glaubhaft, charmant und plastisch zu erzählen. Der Duft der großen weiten Businesswelt weht durch alle seine Bücher, was seine Leser an sonst versagten Lebensräumen teilhaben lässt. Kein Wunder, dass fast alle Suter-Romane bereits verfilmt sind, die Themen, Charaktere und die jeweilige Idee machen sie fast schon zu Drehbüchern. Diesmal entdeckt ein Lifestyle-Videoreporter den Enthüllungsjournalisten in sich und fühlt sich hin und hergerissen zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Unterstützung bekommt er von der mysteriösen, exotischen Züricher Eventmanagerin Marina Ruiz, mit der er seit kurzem eine wunderbar freie, intensive Beziehung pflegt. Der Autor findet stets den passenden Rahmen und die richtigen Worte: Er ist sachlich klar wie ein ermittelnder Reporter, versiert in der Fachsprache, wenn es um den Finanzmarkt geht, und pointiert, wenn er die Kameraschwenks seiner Hauptfigur, kauzige und distinguierte Persönlichkeiten oder Schickimicki-Restaurants beschreibt.

Wie in seinen vorherigen Romanen fügt Suter Unglaubliches so durchdacht zusammen, recherchiert Fakten so akribisch und nutzt den Nährboden der Realität so gekonnt, dass seine Fiktion lebendig wird. Die Bankenverschwörung erscheint derart hieb- und stichfest, dass sie für Dissonanzen in der Schweiz sorgen könnte. Der Autor wehrte sich bereits auf dem Blauen Sofa der Leipziger Buchmesse gegen den Vorwurf der Nestbeschmutzung und verteidigte sich damit, dass es nicht das Problem des Autors sei, wenn die Realität so ist oder sein wird, wie er sie in seinem fiktiven Text erdacht habe. Denn spätestens seit der Lehmann-Brothers-Pleite weiß man um die Gefahren von Immobilien- oder Börsenblasen. Warum sollte es nicht wieder dazu kommen? „Aber so lange schweben wir alle weiter in der großen Seifenblase. Und wir werden uns darin so behutsam wie möglich bewegen, denn niemand will, dass sie platzt.“  

Mit „Montecristo“ ist dem Autor ein spannungsgeladener Thriller mit Bestsellerformat gelungen. Sein Protagonist fühlt sich bedroht, weil er zur Bedrohung der heiligen Kuh der Schweizer wird: dem Bankwesen. Bleibt die im Buch unbeantwortete Frage: „Wer ist der Wohltäter? Der, der das Streichholz, das die Welt in Brand setzt, anzündet? Oder der, der es austritt?“

Titelbild

Martin Suter: Montecristo. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2015.
312 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783257069204

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