Vom Niedergang einer Welt

Mathias Énards neuer Roman „Straße der Diebe“ erzählt aus der Sicht eines jungen Marokkaners von Glanz und Elend des Mittelmeerraums

Von Sarah WiesenthalRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Wiesenthal

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die alte Welt steht in Flammen. Was in Libyen begann, hat sich zu einem Flächenbrand ausgeweitet, dem die arabischen Staaten reihenweise zum Opfer fallen. Am nördlichen Ufer des Mittelmeers fressen sich Krise und Unheil von Spanien und Italien nach Norden fort bis sie bald auf ganz Europa übergreifen und es mit sich reißen werden.

Inmitten dieser aus den Fugen geratenen Welt steht Lakhdar, ein junger Marokkaner, dessen Leben von einem Tag auf den anderen in sich zusammenbricht, als sein Vater ihn mit seiner Cousine im Bett erwischt und rauswirft. Mit Hilfe seines Freundes Bassam findet er Unterkunft bei der „Gruppe zur Verbreitung des koranischen Gedankenguts“. Was zunächst nach klassischem Familiendrama klingt, verdichtet sich auf faszinierende Weise zu einer der hellsichtigsten Betrachtungen der globalen Ereignisse der letzten Jahre aus Sicht der Jugend.

Lakhdar steht stellvertretend für eine ganze Generation, über die zwar immer wieder geschrieben und diskutiert wird, die aber viel zu selten selbst zu Wort kommt. Dabei profitiert er von seiner doppelten Position als Jugendlicher der arabischen Welt mit einer Außenperspektive auf Europa einerseits und als typischer junger Mensch in der dem Chaos anheimgefallenen Welt andererseits. Genau mit dieser kleinen aber gewichtigen Differenz spielt Mathias Énards Roman, denn was im Denken und Fühlen Lakhdars kaum einen Unterschied ausmacht, wird eminent wichtig, sobald es um Grenzen, Reisen und Aufenthaltsgenehmigungen geht.

Vieles deutet darauf hin, dass Lakhdar in jeglicher Hinsicht dem Bild eines ‚Durchschnitts-Jugendlichen‘ der 2000er-Jahre entspricht. Sich über den Sinn seines Lebens völlig im Unklaren, allein auf Ruhe und Zufriedenheit fixiert, surft er ständig im Internet, verfolgt die politischen Ereignisse um ihn herum mit mäßigem Interesse und dies auch nur, solange es nicht seine persönlichen Bedürfnisse wie lesen, schlafen und Mädchen hinterhergucken einschränkt. Auch die rechtskonservative Gruppierung, für die er arbeitet, belastet ihn nur insofern, als dass ihre „fortwährende und stürmische Militanz“ seine „tägliche Routine völlig durcheinander“ bringt. Diese besteht vor allem in der recht aussichtslosen Hoffnung, als „pomadiger Prolet aus der Vorstadt“ endlich eine Europäerin und ihre angenommene Offenheit in Liebesdingen kennen zu lernen.

Wie durch ein Wunder tritt Judit aus Barcelona in Lakhdars Leben. Mit ihr bricht sich eine Welt Bahn, die er bisher nur als fernes Rauschen am Rande seiner eigenen wahrgenommen hatte. Judit studiert Arabisch, ist politisch engagiert, trägt einen Rucksack, für Lakhdar das „Emblem der europäischen Jugend“, und führt Lakhdar vor allem vor Augen, dass er dieser europäischen Jugend keinesfalls angehört. Ein Besuch bei ihr scheint trotz seiner neuen Arbeit auf einer Fähre zwischen Tanger und Algeciras unmöglich: „Ich hing in der Luft, lebte auf der Meerenge; ich war nicht mehr hier und noch nicht da, ewig auf der Abreise, im Barzach, zwischen Leben und Tod.“

Der Tod beginnt Lakhdars Leben zu überschatten, seine arabische Herkunft ihn zu verfolgen. Die Toten der islamistischen Anschläge, hinter denen er seinen Freund Bassam vermutet, überlagern sich mit den ertrunkenen Bootsflüchtlingen, mit denen er in Spanien konfrontiert wird. „Täglich tauchten irgendwo neue Leichen auf, eine Bank brach zusammen, eine Naturkatastrophe riss ein Stück mehr von der Welt mit sich fort“. Während doch eigentlich „die Jugend die Avantgarde der Bewegung sein sollte“, ist sie in „Straße der Diebe“ mit völlig anderen Dingen beschäftigt. Lakhdar selbst ist fortwährend auf der Flucht, Bassam wird von „Seelenlepra aufgefressen“ und Judit erkrankt an einem Gehirntumor. Absurditäten und Krankheiten, die exemplarisch für Systeme und Ideologien stehen und von dem Roman schonungslos kritisch und zuweilen bitter angeprangert werden. Und in diesem Sinne, begreift man, ist die Jugend dann vielleicht doch wieder die Avantgarde der Bewegung oder vielmehr des Niedergangs, indem sie gnadenlos die Heuchelei der Welt entlarvt und selbst daran zugrunde geht.

Mathias Énard prognostizierte den Weltuntergang bereits 2008 in seinem großen, preisgekrönten Mittelmeerroman Zone, in dem  Francis Servain Mirković, ein ehemaliger Soldat des Jugoslawien-Krieges, die mediterranen Katastrophen des 20. Jahrhunderts in einem fast einzigen, endlosen Satz zu einem fulminanten Kriegsepos verdichtet. In Straße der Diebe hat sich Énard von den seither erfolgten politischen und gesellschaftlichen Ereignissen inspirieren lassen, um seiner apokalyptischen Prognose neue Brisanz zu verleihen und die Verbindung des Mediterranen mit dem Morbiden zusätzlich um die Lebensrealität der Jugend zu erweitern, der seit den Umwälzungen in der arabischen Welt eine vermeintlich allumfassende, permanente, politische Empörung nachgesagt wird.

Dass dem nicht so ist, zeigen Lakhdars mit der Ankunft in Barcelona immer umfassender und treffender werdenden Überlegungen zur Lage Europas und der arabischen Welt: „Die Einheit der arabischen Welt existierte nur in Europa“, stellt er fest, „und jetzt, da ihr die Revolution geschafft habt, sagen sie, könnt ihr doch dort bleiben in eurem Jasminparadies, mit all den Fundamentalisten, statt uns hier mit euren nutzlosen Mäulern auf der Tasche zu liegen“. Diese Kommentare zeugen zwar von einem scharfsinnigen Verstand, führen beim Protagonisten aber gerade nicht zur Revolte, sondern eher zu Verzweiflung und Flucht in die Welt der Bücher.

So wie Lakhdar und seine Lektüren, die von Jean-Claude Izzo und Manuel Vázquez Montalbán, „den Proletariern der Literatur“, bis zu Ibn Battuta und dem Koran reichen, oszilliert auch die Sprache des Romans zwischen zwei Polen, der entspannt-lockeren bis witzigen-makabren Umgangssprache der Jugendlichen und den ernsten Betrachtungen eines an dem Wahnsinn und den Grenzen der Welt Verzweifelnden über die Literatur, das Leben und seine Willkür: „Das Leben ist ein Grab, die Straße der Diebe, Endstation Nord, leeres Versprechen, hohle Worte.“ Endstation Süd findet ihre Entsprechung im vermeintlich aussichtsreichen Norden, der sich auch nur wieder als Endstation entpuppt, sodass letztendlich beide zu einer Welt gehören, die für die Protagonisten des Romans nur den Traum von einer Zukunft zulässt, nicht aber seine Realisierung.

Das ist es auch, was dieser Roman zu zeigen vermag. In ihrer Hoffnung auf Leben und Zukunft sind die Jugendlichen längst nicht so getrennt, wie es Ideologien und Grenzen vorgaukeln. Vielmehr kommen die heutigen Gesetze den veränderten Lebens- und Identitätsbedingungen nicht hinterher, sodass sie zwangsläufig nur beschränken, ihnen nicht gerecht werden können. Der Mensch ist mehr, so wie der trotz seiner Jugend grauhaarige Lakhdar selbst am Ende sagt: „Ich bin kein Marokkaner, ich bin kein Franzose, ich bin kein Spanier, ich bin mehr als das. Ich bin kein Muslim, ich bin mehr als das. Machen Sie also mit mir, was Sie wollen.“

Titelbild

Mathias Énard: Straße der Diebe. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
352 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243651

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