Im Uterus des Schädels

Mircea Cărtărescus „Orbitor“-Trilogie

Von Aléa TorikRSS-Newsfeed neuer Artikel von Aléa Torik

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mircea Cărtărescu ist einer der bedeutendsten rumänischen Gegenwartsautoren, auch aufgrund seiner Orbitor-Trilogie, die inzwischen vollständig ins Deutsche übersetzt vorliegt. Allein hierzulande bekommt er nach dem Internationalen Literaturpreis im Jahr 2012 nun auch den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In der Begründung der Jury dazu heißt es: „Dieses monumentale, exzessive und alle Grenzen sprengende Prosa-Werk ist zugleich Künstler-, Großstadt- und Weltroman, übersteigt aber die Realität auf surreale, halluzinatorische und visionäre Weise.“

Der Titel

Im Original heißen die drei Bände Orbitor. Aripa stângă (Blendend. Der linke Flügel), Orbitor. Corpul (Blendend. Der Körper) und Orbitor. Aripa dreaptă (Blendend. Der rechte Flügel). Dass die Titel keine formal korrekte Übersetzung erfahren haben und im Deutschen Die Wissenden, Der Körper und Die Flügel heißen und dabei nur sporadisch auf die Zusammengehörigkeit der Trilogie hingewiesen wird, ist ausgesprochen bedauerlich. Möglicherweise wurde der Titel als sperrig empfunden, außerdem hat Elias Canetti lange vor Mircea Cărtărescu einen Roman Die Blendung genannt. Allerdings gehen mit dem ursprünglichen Titel wesentliche, für das Verständnis des Romans unerlässliche Informationen verloren.

Dieser Titel eröffnet assoziativ bereits den Raum der Interpretation, auf zwei grundverschiedenen Bedeutungsebenen, diesseits und jenseits des Satzzeichens. Durch die Flügel und den Körper wird auf den Schmetterling hingewiesen, der auf beinahe jeder Seite des Romans erscheint. Dabei klingt die Verwandlung der Raupe an, die Metamorphose des Körpers, die Erlösung aus einem niederen und die Wiedergeburt auf einem höheren Stadium, die Schönheit des Tieres, die Leichtigkeit des Flugs, die Unschuld eines nicht zielgerichteten Verhaltens und die geometrische Zeichnung der Flügel. Und damit auch das Assoziationsvermögen des Betrachters, der im Rorschach-Test – bei dem Farbkleckse auf Papier durch Falten eine symmetrische Form erhalten – indem er formuliert was er sieht sinnlose Kleckse in sinnvolle Worte verwandelt. Und schließlich wird auf die Chaostheorie verwiesen, die sich ausgerechnet der Lepidoptera bedient, mit der pittoresken, aber schwer zu überprüfenden oder zu widerlegenden These, der Flügelschlag eines Schmetterlings in einem Teil der Welt könne einen Wirbelsturm in einem anderen Teil verursachen.

Die zweite Bedeutungsebene ist das in jedem der drei Teile wiederkehrende Wort Orbitor – Blendend. Damit wird ein Sehen beschrieben, das mehr als Sehen ist: ein Hellsehen. Ein strahlendes Sehen, das im Übersehen in sein Gegenteil umschlägt, so dass der Geblendete nichts mehr sieht. Aus der Blendung wird mitunter auch die Verblendung, da einer alles andere sieht, nur das eine nicht. Im Blendwerk klingen die Illusion und die Täuschung mit. Die orbita bezeichnet die Augenhöhle im menschlichen Schädel, in die der kugelförmige Körper des Augapfels eingebettet ist. Sehen ist ein neurologischer Vorgang, bei dem ein kleiner Ausschnitt aus dem Spektrum elektromagnetischer Wellen, Licht genannt, in Nervenimpulse verwandelt wird. Licht ist seit jeher eine Metapher für die Wahrheit, Sehen eine für die Erkenntnis. Was wir sehen und als Wirklichkeit bezeichnen, so das Höhlengleichnis Platons, sind nur die Schatten der wahren Dinge. Dieses Gleichnis, geradezu die Gründungsurkunde abendländischen Denkens, beschreibt ein Erkennen, das nicht etwas, sondern sich selbst erkennt. Das lateinische orbis bezeichnet den Kreis, der Orbit die kreisförmige Umlaufbahn eines Planeten, dessen Rundung beim Sprechen von Orbitor sowohl im Eröffnungslaut als auch im identischen Verschlusslaut mit den Lippen nachgezeichnet wird. Um diese zweite Bedeutungsebene geht es im Folgenden.

Anders als in unserem Sonnensystem befindet sich im Zentrum der Umlaufbahnen von Orbitor kein zentraler Körper. Der dort dargestellte Charakter dreht sich um einen imaginären Punkt, der im Zentrum aller Selbsterkenntnis steht und dennoch nicht greifbar ist, sich jedem Nachweis entzieht und dabei der Suche der Physiker nach dem ‚Gottesteilchen‘ ähnelt: eine Chimäre, der man in Teilchenbeschleunigern, gewaltigen ringförmigen Anlagen hinterherjagt. Der Protagonist dreht sich um jenen Punkt, den ein jeder, Protagonist in seinem eigenen Leben, kennt, und der nur ungenügend durch den Umstand beschrieben wird, dass uns die Welt lediglich aus der Ichperspektive zugänglich ist. Wir drehen uns um einen Mittelpunkt, den wir mit dem Personalpronomen ‚Ich‘ etikettieren, der mehr ist, als wir je benennen könnten, und auch weniger: die eigene Identität. Identität kann nicht direkt formuliert oder dargestellt werden, denn damit würde das Identische bereits verlassen. Das mit sich identische Ich, das, reflektierend im Spiegel seines Badezimmers oder in dem seines Verstandes, sich selbst erkennt, erkennt das gegenüberliegende, spiegelverkehrte, andere. Das Erkennen des vermeintlich Identischen erschafft erst die Trennung von Erkennendem und Erkanntem. Wer wüsste das besser als Narziss? Die eigene Identität kann nicht erkannt, immerhin aber umkreist werden. Diesen Bahnen, diesen Versuchen eines sich selbst erkennenden Protagonisten werden wir hier folgen.

Erkennendes und Erkanntes

Für einen umfangreichen Roman von 1.800 Seiten geschieht denkbar wenig: Ein Junge namens Mircea steht in der fünften Etage eines Wohnblocks in der Ștefan-cel-Mare-Chaussee in Bukarest am Fenster seines Zimmers, bisweilen tritt er vor die Tür, geht die Straße hoch und wieder herunter und mitunter überquert er sie auch. Alles darüber Hinausgehende ist Einbildung eines der drei Beteiligten: des Autors, der Figur oder des Lesers. Und in dieser Einbildung kreuzen sich die Wege. Nicht nur die der Beteiligten, es kreuzen sich vielmehr die eigenen Wege. Denn der Planet, während Mircea die Straße hoch und runter geht, dreht sich ja weiter. Einem foucaultschen Pendel ähnlich, werden dabei aus den immer gleichen Wegen des Protagonisten langsam andere. Es ist nicht das Pendel, das seine Richtung ändert, sondern der darunterliegende Planet, der unter den Personen des Romans rotiert. In absoluter Gleichförmigkeit zieht das Gewicht seine geraden Bahnen. Mircea nimmt die gleichen Wege seiner Kindheit, die dennoch, über Aberhunderte Seiten und Szenen, unzählige Ausschläge in die eine und die gegenüberliegende Richtung, eine kreisförmige, orbitale Struktur ausbilden.

Mircea schaut, immer und immer wieder, durch das nicht zufällig dreiflügelige Fenster seines Zimmers. Er schaut auf die Stadt und er schaut dabei, wie es bereits auf der ersten Seite heißt, „wie hypnotisiert mein Abbild“ an. Er erschaut in der Scheibe sein eigenes gespiegeltes Gesicht, und die von da an gesuchte Symmetrie mag an der ebenfalls bereits auf der ersten Seite genannten Asymmetrie dieses Gesichts liegen: „Hielte man auf einem Foto von mir die linke Gesichtshälfte verdeckt, so zeigte das Bild einen offenherzigen und willensstarken Jungen mit beinahe schönen Zügen. Die andere Hälfte jedoch überrascht und erschreckt den Betrachter: Das Auge ist hier tot, der Mund tragisch, die ganze Haut von Hoffnungslosigkeit überzogen wie von einem Ekzem“. Dabei ist nicht nur die Symmetrie von linker und rechter Seite, sondern die von sehender und gesehener Person gemeint, auch von Wirklichkeit und Fiktion: Mircea vertreibt sich spätabends die Zeit, indem er sich Gekreuzigte an den Masten der Straßenbahnleitungen vorstellt, zu denen die Kinder auf der Straße hochschauen, die erstaunlicherweise, was ihm auch auffällt, nicht nur um diese Zeit noch unterwegs sind, sondern, was ihm jedoch nicht auffällt, das Produkt der Fantasie des fünf Stockwerke über ihnen Stehenden sehen können. Vor allem aber geht es um Identität – „Wirklich ganz ich fühlte ich mich aber erst, nachdem ich im Zimmer das Licht ausgemacht hatte“ –, die durch die Spiegelung in der Scheibe, die Verdoppelung, gleichermaßen verbürgt und bedroht wird. Der Spiegel erzeugt die Trennung jener Einheit, die er bezeugen sollte.

Mircea schaut, wenn es dunkel ist, aus dem Fenster, in der Hoffnung im Wohnblock gegenüber eine nackte Frau, oder doch einen ihrer bevorzugten Teile sehen zu können, um dann im Traum „an den komplizierten erotischen Manövern teilzunehmen“, mit denen Männer und Frauen einander umgarnen. Abend für Abend sitzt er dort und schaut in fiebriger Erwartung hinaus. Bei gelöschtem Licht tritt, statt es eigenen Abbildes, die Stadt an die Stelle des Gegenübers – „Als wär‘s ein Edelstein in einer Sternenringeinfassung, so prangte das nächtliche Bukarest in meinem Fenster, schwappte in mein Zimmer herein und drang mir dermaßen tief in Körper und Hirn, dass ich bereits als Halbwüchsiger die Vorstellung von einer Melange aus Fleisch, Stein, Gehirnflüssigkeit, Stahl und Urin entwickelte, welche – von Architraven und Wirbeln gestützt, beseelt von Statuen und Obsessionen, verdauend mit Därmen und Heizzentralen – aus uns beiden eins machen könnte. Tatsächlich blickte nachts, wenn ich auf dem Bettkasten saß und die Füße auf den Heizkörper stemmte, nicht nur ich auf die Stadt, sondern auch sie spähte mich aus, träumte von mir, geriet in Erregung; war sie doch nichts weiter als das Substitut meines gelbbleichen Phantoms, das mich bei brennendem Licht von der Fensterscheibe her anstarrte“.

Diese gegenseitige Erregung zweier Spiegelungen, tags das eigene Gesicht und nachts die substituierte Stadt, dann allerdings von erotischen Manövern ihrer Bewohner komplementiert, gleichermaßen Ausblick auf die Stadt und Einblick in sich selbst; eine Aufspaltung in ein reflektierendes und ein reflektiertes Gegenüber, deren Zweieinigkeit es ermöglicht, das durch diese Spaltung entstehende ‚Ich‘ aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, mit eigenen und mit anderen Augen, das ist die Grundsituation, zu der Mircea, sich seiner selbst versichernd, immer wieder zurückkehrt.

Wirklichkeit als Symmetrieachse

In einem Interview hat Cărtărescu dargelegt, dass der erste Band die Mutter, der mittlere Mircea und der dritte den Vater darstelle, sodass das Kind, als Körper, von den beiden Flügeln der Eltern eingefasst wird. Der Roman fügt sich damit, etwas blasphemisch auf den ersten Blick, zum barocken Altarbild, das die Dreifaltigkeit nachbildet. In der Darstellung christlicher Motive zeigt die Mitteltafel häufig die Gestalt des Erlösers Jesus Christus, die Flügel Nebenfiguren oder Propheten. Das Verhältnis der drei Romanteile kann aber auch anders beschrieben werden. Das Triptychon hat einen zentralen Körper, einen realistischen Mittelteil und zwei ungreifbare, ätherisch geäderte Flügel, die sich in allen drei Bänden mit je unterschiedlicher Gewichtung entfalten. Der Körper fungiert dabei als Symmetrieachse, um die herum sich verschiedene Gegensätze anlagern. Wird diese Achse als Gegenwart bestimmt, die sich von der ersten bis zur letzten Seite erstreckt und immer in Bewegung ist, dann stehen die Flügel für Vergangenheit und Zukunft, wird die Achse als Realität bestimmt, stehen die Flügel für Erinnerung und Imagination.

Die je gegenwärtige Wirklichkeit, das ist zuerst die Wohnung in der Silistra-Straße, die jungen Eltern Maria und Costel, Mircea ist beinahe noch ein Baby, dann der Wohnblock in Floreasca, die Villa im selben Viertel. Vor allem aber ist es die Wohnung in der Ștefan-cel-Mare-Chaussee, wo Mircea, seit er fünf Jahre alt ist, am dreiflügeligen Fenster seines Zimmers steht. Das ist die Dîmbovița-Mühle hinterm Haus, der Zirkus in der Nebenstraße, die Läden unten im Parterre, der Wohnblock – „Wohnblocks aus denen es kein Entkommen gibt“ – mit seinen acht Etagen und ebenso vielen Treppenaufgängen, die als Kind unübersichtlich viele zu sein scheinen, einer beängstigender als der andere; der ein ums andere Mal geheimnisvolle Fahrstuhl: dieses Ensemble ist ein auf Jahre höchst eigenartiges Erkundungsfeld des scheuen Kindes. Und schließlich, als junger Mann, ist die Gegenwart die Wohnung in der Uranusstraße. Obwohl Uterusstraße die treffendere Bezeichnung gewesen wäre, denn dort, wo er erneut auf die Stadt schaut, aus einem runden Fenster nun, wie der Ausgang aus einer Gebärmutter, auch das eine Höhle, schreibt er an einem Roman – „Ich schreibe kein Buch, sondern ziehe einen Embryo heran im tristen Uterus meines Schädels, meines Zimmers, meiner Welt“ –; einen Roman, in dem sich untrennbar Schreibendes und Geschriebenes vermengen und eine magische Liaison eingehen, in dem Versuch, „dahin zurückzukehren, wohin noch niemand je zurückgekehrt ist, mich an Dinge zu erinnern, deren sich niemand entsinnt, zu begreifen, was kein Mensch zu begreifen vermag: wer bin ich, was bin ich“.

Wirklichkeit ist das, was zu Anfang, unbegreiflicherweise, einfach da ist und der, im Versuch sie zu begreifen, Flügel wachsen. Im Blick des Kindes werden aus Zimmern, die wie riesenhafte Hallen erscheinen, riesenhafte Hallen. Ein Blick, der die unbelebte Welt belebt und beseelt, aber nicht zwischen Wahrnehmung und Einbildung differenziert, nicht einmal zwischen Traum und Erinnerung. Die Beziehung zur Mutter ist dabei wesentlich, überdeutlich ödipal, erotisch aufgeladen, in jeder Hinsicht überwältigend. Der Vater hingegen erscheint nur am Rande seines Blickfeldes: „Der geistesabwesende und unbegreifliche Mann, der sich, wer weiß, warum, bisweilen zwischen mich und Mutter stellte“. Die anfangs symbiotische Einheit von Mutter und Kind, eine Erfahrung der Grenzenlosigkeit, in der das eigene Ich alles umfasst, wird im Laufe der Jahre aufgelöst. Kinder lernen, wo das eigene Ich aufhört und das der Mutter anfängt. Mirceas Mutter verändert sich, aus einem Wesen von unendlicher Schönheit wird die Frau des Vaters, aus dem Mädchen Maria, das einst voll Zutrauen und Zuversicht in die Welt schaute, wird Marioara, wie sie alle nennen. Jene Frau, die, um ihre auf Lockenwickler gedrehten Haare zu trocknen, den Kopf in den Backofen steckt, die Wohnung mit Nippes vollstellt, mit Tischdecken aus Makramee und kitschigen Bildchen an der Wand. Sie sorgt für alle und vergisst dabei sich selbst, eine einfache Hausfrau, beliebig und, das weiß auch ihr desillusionierter Mann, kaum zu unterscheiden von den anderen Frauen im Wohnblock. Diesen Veränderungen setzt Mircea, als kleiner Junge wie auch als erwachsener Mann, seine Erinnerungen und Fantasien entgegen.

Einen nicht unbedeutenden Teil seiner Geschichte lässt der Junge aus dem Familienarchiv, der Handtasche seiner Mutter, wiedererstehen, die dort allerlei Plunder aufbewahrt, Knöpfe, Notizzettel, Mirceas blonde Kinderzöpfe, eine Zahnprothese und ein in der Mitte zerrissenes Foto. Auf der Suche nach seinen frühesten Erinnerungen macht er dabei auch nicht an deren natürlicher Grenze Halt, sondern erinnert sich erzählend, verfälschend und erfindend an die Zeit vor seiner Geburt: Trugbilder aus der Vergangenheit, aus der „Tiefe einer unmöglichen Kindheit“. Er erzählt, wie die Mutter in den Wirren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dem aus New Orleans stammenden schwarzen Musiker Cedric begegnet. Der tischt ihr eine haarsträubende Geschichte auf, die, wie die Erinnerungen Mirceas eine Generation später, die Dehnbarkeit eines menschlichen Lebens überstrapaziert: die geschilderten Ereignisse liegen mehr als hundert Jahre zurück. Der Junge erinnert auch die Vorvergangenheit seines Vaters, Ururenkel eines polnischen Adeligen, der eine Leidenschaft fürs Seidenspinnen hatte und die nebulöse Absicht, ein dreiteiliges Buch zu schreiben. Die meisten dieser Figuren leben „ohne auch nur einen Augenblick lang zu ahnen, dass sie im Grunde auf ein kleines graues Fleckchen im rechten Scheitellappen eines Urenkels ihre Häuser gebaut und den Boden bestellt hatten und dass ihr gesamtes Dasein und Streben auf dieser Welt genauso vergänglich und illusorisch waren wie das Stückchen Anatomie in dem Gehirn, das sie erträumte“. Weit in die Jahrhunderte zurückreichend, spinnt Mircea die seidenen Fäden eines familiären Geflechts, in dem alles auf ihn als Auserwählter zuläuft.

Identität als Leitmotiv

Allein von seinem Aufbau her gehört Orbitor in die Postmoderne. Erzählfäden verlaufen selten chronologisch, sie brechen ab, werden wieder aufgenommen, abgeändert und variiert. Logik und Naturgesetze finden oft nur in miniaturisierter Form Verwendung. Das ist kein realistischer Text, der um seiner Glaubwürdigkeit willen eine moderate Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem aufbaut. Im Gegenteil bedient er sich der postmodernen Eigenheit, die Welt von der und die Welt in der berichtet wird, zu vermischen. Diese beiden Sphären sind durch eine ontologische Grenze getrennt, die, wird sie übertreten, den Eindruck von geschlossenen Einheiten unterminiert, so dass beide Welten, die erfundene und die reale, scheinbar an Konsistenz verlieren. An Konsistenz verliert auch Mircea, der nicht nur erzählt, sondern auch erzählt wird. Er ist Handelnder und auch Behandelter, wodurch er sowohl innerhalb als auch außerhalb der Geschichte angesiedelt zu sein scheint. Er schaut sich sein Spiegelbild mit eigenen Augen an und wird von ihm mit fremden Augen angeschaut: Als wenn dieses Spiegelbild eine eigene Dimension besäße.

Spiegelungen können allerdings nicht eigenständig agieren, sondern nur reagieren, Echo kann nur nachplappern, was ihr einer vorgesagt hat. Die Abbildung kann nur das Bild zeigen, nichts anderes. Es herrscht ein eindeutiges Verhältnis: die eine Seite lebt, die andere nicht. Im Winter 1989 kommt es zu einer Umkehrung dieser scheinbar naturgegebenen Verhältnisse. Die Bevölkerung Rumäniens ist nach drei Jahrzehnten Sozialismus gelähmt von dieser Wirklichkeit, von Hunger, Kälte und Angst – das sprichwörtliche foame, frig şi frică –, erstarrt und unfähig, sich gegen die repressiven Verhältnisse der Ceauşescu-Diktatur zur Wehr zu setzen. An Weihnachten, dem Tag der Geburt Christi, der zum Mensch gewordene Gott, erwachen die Atlanten und Titanen, Gorgonen und Göttinnen, Chimären, Cherubim, Nymphen, Najaden, Putten, Epheben, Staatsmänner, Schriftsteller und Philosophen: die Bukarester Statuen und Standbilder steigen von ihren Sockeln herab und bemächtigen sich der Stadt. Diese Szene wird von anderen vorbereitet, in Amsterdam bewegt sich unvermittelt, wirft jemand eine Münze in einen danebenstehenden Klingelbeutel, eine marmorweiße Statue, macht einige bizarre Verrenkungen und erstarrt wieder in der vorhergehenden Form, eingeschlossen in die eigenen Umrisse. Menschen, die bewegungslos auf der Stelle stehen und mitunter für Momente aus der Erstarrung erwachen. Die Opposition von Leben und Tod, Echtheit und Falschheit, Original und Kopie wird umgekehrt, wenn der Betrachter erkennt, dass nicht sie, sondern die von ihnen dargestellten Gestalten, die wirklich gelebt hatten, Hochstapler waren. „Wer sie sah, war im Innersten ergriffen, nicht allein wegen der Darbietung des lebendigen, zu einem Standbild verwandelten Menschen, sondern vor allem, weil ihn hinfort der unerträgliche Verdacht heimsuchen sollte, alle Statuen seien lebendig“.

Menschen erstarren, Statuen erwachen und die Identität so mancher Person scheint fließend. Es sind nicht wenige, die sich auf keinem linearen, eindimensionalen Weg, sondern auf einem „Gezweig von Wahrscheinlichkeiten“ bewegen, sei es, dass ein und dieselbe Person in verschiedenen Jahrhunderten lebt, oder sei es, dass sich unter einem Namen völlig verschiedene Charaktere versammeln. Manche Kapitel weisen nicht einmal ein durchgängiges Sujet oder Subjekt auf, die Aufmerksamkeit springt hierhin und dorthin. In einem Zirkuskapitel etwa, das mit der Verwandlung einer Raupe in einen Hirschkäfer beginnt, wechselt die Erzählstimme auf ein Dutzend verschiedener Personen, Besucher, Artisten und Tiere, auch auf Mircea, der mit seinen Eltern die Vorstellung besucht und während der Veranstaltung von einem Yogi ausgewählt und vor aller Augen in Trance versetzt wird. Auf dem Nachhauseweg fängt er einen Hirschkäfer, den er in einem Glas deponiert, wo das Tier, einen rätselhaften Jungen am Fenster stehend betrachtet, erstickt. Das Kapitel endet wie es begonnen hat, Geburt und Tod sind Metamorphosen, öffnend und sich schließend: der Kreis der Manege und der Zirkus des Lebens. Dem Fehlen eines durchgängigen Subjekts kontrastiert dabei die Wahl eines Einzelnen, eines Auserwählten. Das wird hier an einem bewusstlosen Kind vorgeführt, lediglich Objekt einer circensischen Nummer. In Trance meint Mircea sich im Uterus seiner Mutter zu befinden und dort seinem Zwillingsbruder Victor zu begegnen. Das Phänomen in der Scheibe, Mirceas Spiegelbild bekommt einen Namen.

Schizophrenie

Der Gegensätze sind viele: linker und rechter Flügel, Halluzination und Wirklichkeit, Mann und Frau, jener, als Kind schwer zu begreifende Gegensatz zwischen richtig und falsch, von dem Mircea sich vorstellen kann, dass er ebenso gut andersherum gültig sein könnte und alles, was richtig ist, falsch und alles, was falsch richtig ist. Im Spiegelbild sind die Gegensätze jedoch besonders augenfällig, da sich Spiegelnder und Gespiegelter begegnen und brechen. Diese den gesamten Roman strukturierende Polarität hat ihren Ursprung womöglich in Mircea und dessen Zwillingsbruder Victor.

Bei Mirceas erstem Besuch im Krankenhaus sieht er in einem mit Formaldehyd gefüllten Glasbehälter siamesische Zwillinge und einen Moment später das geteilte Gesicht und den geteilten Körper eines der Anschauung dienenden, anatomischen Präparats, dessen eine Seite die äußere Hülle der Haut, und dessen andere Seite seine herausnehmbaren inneren Organe zeigt. Der Junge nimmt das lediglich zur Kenntnis, aber als er das Präparat eine Woche später, beim Verlassen des Krankenhauses erneut sieht, vermeint er dessen Gesichtsausdruck als den eines Menschen zu erkennen, der, sein Blut verspritzend, vor Schmerzen brüllt. Und genauso finden ihn seine Eltern, die ihn abholen, am Fuße dieser Statue liegend, sich vollständig identifizierend und vor Schmerz brüllend. Das Kind und das gehäutete Präparat verschmelzen zu einer siamesischen Einheit.

Zehn Jahre später muss er erneut ins Krankenhaus. Am Tag zuvor ist er in einen eisigen Regen geraten und als Folge erleidet er eine Parese, die einseitige Lähmung der Gesichtsnerven. Bei der Aufnahme müssen die Kranken ihre Identität und ihr Gedächtnis abgeben, „gleichsam lebendige anatomische Präparate geworden“. In seinem Zimmer fühlt er sich von seiner „Zwillingseinheit“ beobachtet und hört einen Ton – „ein synchron zum irrsinnigen Anschwellen des Tons sich steigernder Schrecken ergriffen Besitz von mir, setzten sich an meine Stelle, trotz aller Anstrengungen, die ich machte, um meine Identität zu bewahren“ – den er, wie zehn Jahre zuvor, als Brüllen beschreibt. Die spätere Lösung dieser Bedrohung ist nicht die Bewahrung der Identität durch Ab- oder Ausgrenzung des anderen, sondern die Erweiterung durch einen Zwilling. Der Schreck über den Gehäuteten kann nicht die Ursache für die Parese sein, da zwischen den beiden Ereignissen ein Jahrzehnt liegt. Und doch werden diese beiden Ereignisse direkt nacheinander erzählt, als wäre das eine die Ursache für das andere. Einmal, allein im Bestrahlungsraum, dreht er den Regler, mit dem die Stromzufuhr eingestellt wird, bis zum Ende auf. Nach einer Woche im Koma erwacht er im Reanimationsraum, die Parese ist beinahe verschwunden, es bleibt die leichte Asymmetrie des Gesichts. Weitere zehn Jahre später kommt er zum dritten Mal ins Krankenhaus, in die Psychiatrie und die Diagnose lässt an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig: Schizophrenie. Der Securitate ist sein Buch in die Hände gefallen, nach Einschätzung der Ärzte ist er jedoch harmlos und so wird er wieder entlassen. Er bekommt sogar das Manuskript zurück, mitsamt einer Bewertung seiner literarischen Qualität: „Nichts als Larifari“.

Jahre und Jahrzehnte arbeitet Mircea an seinem Buch, das er häufig erwähnt, nie ohne ihm seine Unlesbarkeit zu attribuieren, und das angeblich eines Tages die Welt ersetzen soll. Über den Inhalt ist jedoch kaum etwas in Erfahrung zu bringen. Wir sehen seinen gebeugten Rücken und seine Vereinsamung in der Welt, können aber keinen Blick in das Buch werfen. Nicht einmal er selbst schaut in das sich neben ihm zu babylonischer Höhe auftürmende Manuskript. Er liest, bevor er weiterarbeitet, lediglich die am Tag zuvor geschriebene Seite, Epidermis eines Textkörpers, dessen Tiefe unerreichbar ist. Nur einmal gibt er es jemandem zur Lektüre: Herman, mit dem der in sich gekehrte Junge, seit dieser ihm damals das Leben gerettet hat, befreundet ist. Herman ist Alkoholiker, der allerdings eloquente Vorträge über Telomerase und fraktale Geometrie hält und Mircea vom Volk Gottes erzählt, von der Bibel. Auch in diesem Kapitel herrscht keine einheitliche Perspektive, zwei divergierenden Augäpfeln gleich, die dasselbe zu fixieren versuchen. Hermann berichtet von der Bedeutung des Auserwähltseins als messianischesErlebnis und Mircea davon wie ihn als Kind Dan der Verrückte für das furchtbarste Ereignis seines Lebens ausgewählt hat. Mit dessen Frage: „Willst du, dass wir uns in den Arsch ficken?“ ist eine Transgression markiert, die mit der geschlechtlichen die gesamte Identität Mirceas in Frage stellt. Detailliert dargestellt werden dieser Umstand und seine enorme Bedeutung für das Kind in Travestie. In diesem Roman Cărtărescus spricht der Protagonist eine abwesende Person an, bezeichnenderweise mit dem Namen Victor, die sich langsam nicht als ein anderer, sondern als er selbst in einer anderen Zeit herauskristallisiert. Am Ende der Erzählung über die adoleszenten Zumutungen der Sexualität wird ein monströses Ereignis sichtbar: auch die vermeintlich verstorbene Schwester – deren blonde Zöpfe sich auch noch in Orbitor finden: in der Handtasche der Mutter – ist kein anderer als er selbst. Als Kind musste er sich offenbar einer Operation wegen Hermaphroditismus unterziehen. Damit wird eine unerträgliche Identität beschrieben von Ich und Anderer, Mann und Frau. Diese Situation wird überhaupt nur erinnerbar und erfahrbar, weil mithilfe eines Spiegels eine Differenz eingeführt wird.

Herman jedenfalls hofft, dass, was Mircea geschrieben hat, überhaupt keine Literatur ist, denn wenn es Literatur wäre, bedeutete das, dass der Text auf etwas anderes verwiese, wie Johannes auf Christus verweist. Ein Stellvertreter der einen anderen bezeichnet. Wie das Wort Baum den entsprechenden Gegenstand zwar bezeichnet, es aber nicht ist. Und was für einzelne Worte gilt, gilt erst recht für Bücher: „Ein wahres Buch erwählt immer einen einzigen Leser, so wie eine wahre Welt eine einzige Seele erlöst und eine wahre Eizelle ein einziges Spermium aussucht, denn der Schriftsteller und der Leser sind gewissermaßen eins, Welt und Seele sind eins, Eizelle und Spermium sind eins. Und Erlösung bedeutet, dass du, indem du dich selbst zerstörst, dies verstehst.“ Herman ist es, der auf die Erlösung verweist, der den Erlöser sogar gebiert, denn er hat ein Kind im Kopf. Wobei es streng genommen nicht Herman, sondern Mircea ist, der ein Manuskript zur Welt bringt: „denn im Grunde hatte sich etwas von Herman auf ihn übertragen, so wie man, wenn man ein Buch liest, ein Gewebe ins Gehirn verpflanzt erhält, ein Implantat vom Geist dessen, der es geschrieben hat“. Herman ist ein alter ego Mirceas, ein Stellvertreter eben, „der verstimmte Akkord der Schizophrenie und des Irreseins“. Herman ist das Produkt der Schizophrenie, aber nicht die Erlösung von ihr, denn für ihn bedeutet Erlösung Selbstzerstörung und der Vorgang des Gebärens seinen Tod.

Darstellungen der Welt

In linearen Systemen geht die Ursache stets der Wirkung vorher. In chaotischen oder schizophrenen Systemen und Textgeflechten kann hingegen nicht immer mit Bestimmtheit gesagt werden, was Flügelschlag, was Wirbelsturm ist. Ein Mal erzählt die Mutter Mircea das Märchen der beiden Zwillingsbrüder, von denen einer spurlos verschwindet. Ist das nun die der Wirkung vorhergehende Ursache, der Auslöser dafür, dass Mircea sich an seinen verschwundenen Zwillingsbruder erinnert? Oder ist der Zwillingsbruder die Ursache für die erinnerte, nämlich konstruierte Geschichte, da die Mutter ihrem Sohn ein Märchen erzählt? Mircea ist jedenfalls von dessen Existenz überzeugt und macht sich auf die Suche, in der Sprache des Märchens und ohne Wohnung und Manuskript zu verlassen.

Das Verhältnis von Ursache und Wirkung ist nicht anders als das von tatsächlichem Ereignis und rekonstruierender Erinnerung, nämlich eine Gemengelage aus Biologie und Betrug: „In Ammonshorn und Fasciculus mamillothalamicus, im Mark der Habenula und im Fornix, unter der Quarzkuppel des Gehirns fließen durch Tausende transparenter Röhrchen Farben und Oxide, und in Tausenden Ateliers sind fünfzighändige Maler am Werk, die da kopieren, restaurieren, ausschneiden, durcheinanderbringen und auseinandersortieren, Pasticcios malen, Repliken und Duplikate herstellen, Daten und Unterschriften fälschen, Dias und Retroprojektionen an die öden gelben Knochen der Schädelwände projizieren, entsprechend verformt durch die phrenologischen Eigenheiten von Stirn und Schläfen, durch die Buckel der Imagination und der Schläue, des Mitleids und des Argwohns“. Nicht weniger nebulös ist das Verhältnis von Mirceas Roman, den Gemälden Desiderio Monsùs, den Teppichen der Mutter und der Vielzahl von Tätowierungen, die ausnahmslos an der Außenseite kahl rasierter Schädel appliziert werden, in Opposition zu den von innen projizierten Bildern. Eines der Gemälde Monsùs hängt in Hermans Wohnung. Was darauf zu sehen ist, lässt sich nach den beiden Urhebern differenzieren, die zwar unter einer gemeinsamen Identität existierten, aber gänzlich verschiedene Malstile haben, „der eine in der naturgetreuen Wiedergabe der echten Bauten, der römischen Basiliken und Villen, der andere in wahnsinnigen, irrealen, metaphysischen Bauwerken, die durch sein Streben nach Schweigen und Einöde errichtet wurden“. In dieser Erscheinungsweise ist es Orbitor verblüffend ähnlich, das mit Corpus und Flügeln genau diese Differenz von physis und metaphysis darstellt.

So wie Herman Jahre später dieses Bild entwendet wird, verschwindet Mirceas Manuskript, die beiden so unterschiedlichen Freunde werden von der Securitate verhaftet, der eine kommt in die Neurophysiologie, der andere in die Psychiatrie, der eine gebiert das Kind aus der Höhle seines Schädels, und der andere sein unlesbares Buch „das nichts sagt, nichts will und nichts bedeutet“. Während seine beiden vorhergehenden Krankenhausaufenthalte jedoch ausführlich erzählt wurden, erfahren wir über den dritten Aufenthalt, bei dem die Schizophrenie diagnostiziert wird, nahezu nichts. Möglicherweise ist das Buch Mirceas lediglich das schizophrene Produkt, er stellt sich vor, er sei Autor und schriebe ein Buch. Dementsprechend kann er es niemand anderem als Herman zeigen, weil auch er ein Produkt schizophrener Fantasie ist. Etwas, das sich vom eigenen Ich losgelöst hat, und Bild und Abbild nicht länger in einem kausalen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Die Aufenthalte im Krankenhaus jedenfalls haben einen Bezug zur künstlerischen Tätigkeit, sie werden zu einem „Urmuster für die spätere Erfahrung geschlossener, abgekapselter, sphärischer Welten – den Perlen ähnlich und ebenso kostbar –, die in meinem asymmetrischen, kapriziösen und unmöglich in seiner Gesamtheit zu erfassenden gewöhnlichen Leben eingelegt waren“.

Mit diesen Bildern und dem Buch verhält es sich nicht anders als mit den handgeknüpften Teppichen der Mutter. Anfangs arbeitet sie streng nach Vorlage, weicht aber mit der Zeit immer weiter davon ab. Auch sie lässt ihre Fantasie spielen und die ihres fünfjährigen Kindes, das die ganze Zeit dabei ist und die Angelegenheit wohlwollend begleitet. Die Teppiche erregen Aufmerksamkeit. Nach anfänglichem Verbot durch die Securitate, die darin allzu deutlich Staatsgeheimnisse, Luftaufnahmen, die russische Sputnik-Mission etc. zu erkennen meint, wird sie schließlich sogar ermuntert, einen Teppich nach ihren Vorstellungen zu knüpfen, in freier Assoziation sozusagen. In der Hoffnung, ein Wissen, über das sie bewusst nicht verfügen kann, lesbar zu machen und sich dessen zu bedienen. Eine Auffassung, die in ihrer Lachhaftigkeit doch auch an die von Lesern oder Literaturwissenschaftlern erinnert, die in bloßen Worten Muster und Metaphern, Absichten und Alliterationen zu erkennen meinen. Mirceas Mutter produziert, zur ihrer beider Freude, ein gewaltiges, dreidimensionales Werk: „den unendlichen Teppich der Illusion“. Die Herren von der Securitate sind mit Illusionen überfordert, sie bekommen, was sie gesucht haben, nicht aus der Mutter und nicht aus dem Teppich heraus, der sich in seiner Dichte und Unzugänglichkeit dem Verständnis entzieht. Schließlich kommt ein Spezialist, zerteilt ihn in hauchdünne Schichten, wodurch er wie ein Manuskript aussieht, in dem der über die letzte Seite gebeugte Securist liest, wie sich ein Securist über die letzte Seite eines Buches beugt, wo er, und wir mit ihm, liest wie er sich über ein Buch beugt […] und wir dabei auf die wiederholt formulierte Überlegung Mirceas verwiesen werden, ob sich nicht auch einer über uns beugt und einen Text liest, der uns selbst, da wir es sind, unerkennbar ist. In dieser mise en abyme werden alle Möglichkeiten der Auslegung des Textes vom Textteppich ad absurdum geführt.

Keines dieser oder all der anderen künstlerischen Produkte ist absolut konsistent. Mircea schaut, da es unlesbar ist, nie in sein Buch hinein. Wer den Teppich anschaut, sieht sich selbst, in einem Spiegel in den Teppich schauend. Herman schaut sein Gemälde nicht an, er schaut vielmehr, wie durch ein Fenster: hindurch. Einer der Tätowierer, ein Verschlüsselungskünstler, vollbringt seine kryptischen Werke, indem er hyperrealistisch arbeitet. Eine junge Frau steht vor einem Haus das wie ein Gemälde aussieht, betritt es und tritt dann aus einem seiner Räume in die Wirklichkeit der Stadt Amsterdam ein, die ihrerseits wie ein Gemälde beschrieben wird. Wo sind die Grenzen dieser Wirklichkeiten? „Leidet denn ein in Stein gehauener Kopf, der brüllt?“.

Die Verhältnisse von Tat und Wort, Ursache und Wirkung, Schrift und Bild sind nicht geklärt. Aber Zeichen und Bezeichnetes stehen häufig in einem chaotisch anmutenden, diffusen, aleatorischen Verhältnis. Zwischen den einzelnen Ebenen existiert die von Herman angesprochene Verweisungsstruktur: solange eines etwas anderes bezeichnet, herrscht zwischen ihnen eine Differenz, keine Identität. Das alles dient allerdings der Vorbereitung eines Ereignisses, dem Ende des Romans, wo Bild und Abbild, Zeichen und Bezeichnetes nicht länger getrennt sind und der Auserwählte Wählender und Gewählter zugleich. Dies ist es, was Mircea mit den Namen Victor bezeichnet.

Zusammenführung von Bild und Abbild

Das Personal, das aus Fleisch und Blut wie auch das aus Bronze und Gips, die Lebenden und die Toten, Erinnerten und Fantasierten – alle gleichermaßen charakter in einem fiktionalen Text – trifft am Ende aufeinander als stammte es nicht aus verschiedenen Räumen und Zeiten. Im Zentralsaal des ‚Haus des Volkes‘, in dem, wie es heißt, kein einziges Gemälde von Desiderio Monsù hängt, weil der Saal das Gemälde ist, das dann zu jenem Buch wird, das die Welt ersetzen soll. Die verschiedenen Möglichkeiten allesamt inkonsistenter Darstellungen der Welt treffen nicht nur aufeinander, sie gehen sogar ineinander über. Ihre Grenzen waren seit jeher durchlässig.

Genau dies geschieht auch auf personaler Ebene, wenn Mircea und Victor aufeinandertreffen, auch wenn der eine noch versucht, den anderen umzubringen, weil das seine Art ist, auf der Welt zu sein und der andere versucht, ihn darin zu verstehen, weil das die seine ist. Der symmetrischen Ordnung entsprechend, ist einer der beiden Zwillinge weiß und einer schwarz. Ein Hypersensibler, den eine einzige Äußerung der Mutter, die in ihrem Teppich das Wort ‚Orbitor‘ zu lesen vermeint, auf Jahre beschäftigt und einer, der aufgrund einer genetischen Disposition keinerlei Schmerzen empfindet und mordet und vergewaltigt. Sie tragen beide eine Hälfte eines einst zerrissenen Fotos bei sich, sie tragen den Kern des jeweils anderen in sich, fügen die Hälften zusammen und sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden, weder auf, noch vor dem Bild. Sie tragen dasselbe Gesicht, das auf der ersten Seite des Romans als das Mirceas beschrieben wurde und auf den letzten mit denselben Worten als das Victors – „Das Gespenst, das von der ersten seiner Zeilen an dieses unlesbare Buch heimgesucht hat […] und mich von an Wahnsinn grenzendem Grauen brüllen machte“.

Auch wenn die ästhetische Lösung, die Cărtărescu im Interview als Satire bezeichnet, eines realen Problems, das der rumänischen Diktatur, nicht überzeugend ist – Menschen und Statuen vertauschen ihre Plätze und wo die einen erstarren oder längst erstarrt sind, werden die anderen lebendig und handeln, wie die Erstarrten hätten handeln sollen –; der Einbruch der Realität in ein ästhetisches Produkt ist es ebenfalls nicht. Die artistische Lösung – „die übertrieben und verteidigt werden muß“  – überzeugt umso mehr. In einer Welt der Entgegensetzungen, allen voran die von Wirklichkeit und Fiktion, werden die Grenzen permanent überschritten und unterlaufen, weil ihre jeweiligen Prädikate ebenso gut auf diese wie auf die entgegengesetzte Seite zutreffen. Identität entsteht nicht durch Abgrenzung oder Ausstoßung, sondern durch die Erkenntnis, dass wir uns auf beiden Seiten zugleich befinden, auf der bildenden wie auf der abgebildeten, der realistischen wie der illusionären. Das Ich ist „ein Spiegel, auf dessen Oberfläche zwei Welten aufeinandertreffen, die ebenso berechtigt sind, sich ‚wirklich‘ zu nennen“. Diese Situation vor dem Spiegel wird in Travestie noch verschärft: „Eingesperrt in dieses winzige Zimmer, schneide ich mir diesen Text aus dem Fleisch meines Verstandes, wie ich mir im Spiegel eigenhändig einen monströsen Tumor herausschneiden würde […], als wäre mein Text mein wahres Wesen und ich selbst nur eine Illusion“. Sind das alles Chimären, da wir nicht Mirceas Bewegungen, sondern denen seiner Spieglung in der Scheibe folgen, in Orbitor bereits auf der ersten Seite von dem Gespiegelten abgelöst, in Travestie auf der letzten, wo Victor vermutet, dass sein Leben „sich plötzlich auf der andere Seite des Spiegels wiedergefunden“ hat?

Hans Blumenberg hat den modernen Roman dergestalt charakterisiert, „daß nicht der Fortgang angeschnittener Ereignisse und Begebenheiten das ist, wovon er letztlich zu handeln und woran er sich als Kunstwerk auszuweisen hat, sondern die Konkurrenz der imaginären Kontextrealität mit dem Wirklichkeitscharakter der gegebenen Welt“. Die Spannung zwischen Profilierung und Verschleierung eines ‚Ich‘ ist es, die Orbitor von der ersten bis zur letzten Seite beherrscht. Im Modus der Selbstdarstellung, ist es nicht das Subjekt, nicht einmal in der blasphemischen Überhebung eines Erlösers, das im Text erscheint, sondern eine metonymische Maskierung. Mircea steht am dreiflügeligen Fenster seines Zimmers, in der Differenz von wirklicher und gespiegelter, wahrer und erfundener Identität, von Mircea als Person und Mircea als Funktion jenes Romans, in dem, so darf vermutet werden, Mircea über Mircea schreibt, wo der eine dem anderen vorhergeht und einen Schatten auf ihn wirft, die Wirklichkeit auf die Fiktion, oder umgekehrt.

Der Begriff eines mit sich identischen Originals existiert nicht mehr, Bild und Abbild sind Überblendungen, die man nicht auseinanderreißen kann, denn als Person ist Mircea bereits das Objekt der Erzählung, das sich ein anderes Objekt gleichen Namens sucht und ihn an seiner statt handeln lässt, so dass man auf die Idee kommen könnte, Mircea Cărtărescu habe es ebenso gemacht und sich einen gleichnamigen Stellvertreter im Text gesucht, der dort agiert, wo er selbst versteinert hinter seinem Manuskript sitzt; eine Annahme, die reine Spekulation ist, Literatur interessiert sich nicht für Menschen, sondern für Charaktere.

Die Prädikate des Illusionären und des Realen erweisen sich durch ihre Vertauschbarkeit Blumenberg zufolge als „asemantisch“: nicht etwas anderes darstellend, sondern sich selbst. „Die Doppelpoligkeit von Sein und Bedeuten, von Sache und Symbol, von Gegenstand und Zeichen zerbrechend, also gerade jene Korrespondenzen preisgebend, an die unsere ganze Tradition des Wahrheitsproblems gebunden gewesen ist. Hier waltet eine auch im Bruch der Tradition immer noch an die Tradition gebundene Oppositionslogik der indirekten Erzwingung des nicht Herstellbaren durch Aufhebung der überlieferten Funktion: indem das Zeichen erkennen lässt, dass es keiner ‚Sache‘ entsprechen will, gewinnt es selbst die ‚Substantialität‘ der Sache“.

Die einzige Welt

Es mag zur Erzähltradition der Postmoderne gehören – die Cărtărescu, der darüber promoviert hat, sehr genau kennt –, in Erkenntnis der Übermacht der Sprache über das sprechende Subjekt, die Bedingungen des eigenen Erzählens zu reflektieren und dabei zu der Erkenntnis zu gelangen, dass nicht die Welt zuerst da war, die einige Milliarden Jahre nach ihrem Anfang, mit der Erfindung der Sprache, beschrieben werden konnte, sondern nur mittels der Sprache die zu Anfang entstandene Welt beschrieben werden kann, dass also mithin die Sprache der Anfang der Welt ist. Doch ist es gar nicht die Frage, was zuerst da war, der wirkliche Anfang von dem alles ausging oder die Konstruktion dieses Anfangs aus der Simulation im Teilchenbeschleuniger, Sprache oder Welt, Fiktion oder Wirklichkeit, Mircea, der das Manuskript schreibt oder Mircea, der in dem Geschriebenen erscheint, fingierter Autor oder fingierter Text, denn es gilt gleichermaßen: „ohne Erzählung kann es eine Welt nicht geben“. Das mag vielleicht nicht für jene Welt gelten, die auf reiner Fiktion beruht, hat doch noch keiner einen Planeten in seinem Orbit um die Sonne oder ein Elektron um einen Atomkern kreisen sehen, sondern lediglich für die Welt, in der wir behaupten, dass Planeten und Elektronen um ihre Bezugskörper kreisen. Die Welt in der wir uns um uns selbst drehen und uns nur zu fassen bekommen, wenn wir uns in der Sprache spiegeln. Das ist die einzige Welt zu der wir Zutritt haben.

Orbitor ist eine Welt für sich, der Zugang ist nicht einfach zu finden. An Mircea liegt es nicht. Der streckt am Ende dem weiblichen Teil seiner Leserschaft, Grenzen überschreitend, seine Hand aus dem Text entgegen. Aber Vorsicht! Die einzige Frau, deren Hand er je gehalten hat, ist, als wäre das eine die Ursache für das andere, einen Moment später tot. Wer sich, Ursache und Wirkung ignorierend oder an verworrenere als lineare Verhältnisse glaubend, auf diesen Annäherungsversuch einlassen möchte, wird reich belohnt. Mircea bietet am Ende des Textes an, wovon Leser und Leserin mitunter von Beginn an ausgegangen sind: dass der Verfasser sie aus der Menge der Gesamtheit aller Leser auswähle und seine Worte einzig für sie formuliere: „Er zerstört den Text nicht, grenzt ihn ab, krümmt ihn in sich selbst, macht ihn rund und ganz wie ein Lebewesen, ein begrenzter aber grenzenloser Gegenstand, den dein Geist, der aus der vierten Dimension kommt, zur Gänze erfassen, mit dem er verschmelzen kann, und gemeinsam können sie ein wunderbares Kind zeugen, das meine Lippen und deine Augen hat, mein Lächeln und deine Stimme, meinen Wahnsinn und deine Schwermut, ja, deine, die du jetzt auf den Abschluss dieser Welt zusteuerst, die heißen könnte

ORBITOR“

Literaturangaben

Lesung / Gespräch zwischen Mircea Cărtărescu, Ernest Wichner und Jörg W. Gronius, in: SR2, Kulturradio, Sendetermin: 25.11.2014, 20.04 – 021.00 Uhr.

Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Suhrkamp, 2001.

Titelbild

Mircea Cartarescu: Die Wissenden. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2007.
527 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054066

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Mircea Cartarescu: Travestie. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
171 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421796

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Mircea Cartarescu: Der Körper.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2011.
606 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552055049

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Mircea Cartarescu: Die Flügel. Roman.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Ferdinand Leopold.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014.
672 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552056893

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