Literatur als Erlebnis – Zugänge und Abwege

Wernfried Hofmeister und Ylva Schwinghammer sammeln didaktische Konzepte und Versuche zur Vermittlung mittelalterlicher Literatur

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer mittelalterliche Literatur in der Schule oder in anderen literaturdidaktischen Kontexten thematisieren will, hat sich im Zuge seiner Planungen mit verschiedenen Hindernissen auseinanderzusetzen, die sich durch die Alterität der mittelalterlichen Texte ergeben. Die Andersartigkeit der mittelalterlichen Literatur ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch die alt- oder mittelhochdeutsche Sprache, den Stoff, die Erzählweise, die Form sowie die die Texte beeinflussende mittelalterliche ständische Gesellschaft, besondere politische Ordnung sowie Mentalität und Kultur mit ihren differenten Werten und ihrem religiösen Weltverständnis.

Die Alterität der mittelalterlichen Texte führte zu einem weitgehenden Verschwinden der Mediävistik aus dem Deutschunterricht. Allerdings werden in diesem Jahrtausend verstärkt Versuche unternommen und Projekte initiiert, die einen zeitgemäßen Unterricht zu mittelalterlichen Themen ermöglichen wollen. Verschiedene Vorschläge dazu werden in dem von Wernfried Hofmeister und Ylva Schwinghammer herausgegebenen Band unter dem Stichwort Literatur-Erlebnisse vorgestellt. Die Ansätze erweisen sich dabei sowohl in ihrer didaktischen Anlage als auch in ihrer didaktischen Durchdringung als äußerst divergent und pendeln zwischen praktikablen und unterrichtsnahen Zugängen für einen modernen hermeneutischen und dem mediävistischen Gegenstand adäquaten Literaturunterricht und kreativen, aber methodisch anachronistischen, die mittelalterlichen Besonderheiten fliehenden fast schon esoterisch anmutenden Abwegen.

Die Beiträge konzentrieren sich keineswegs nur auf den Deutschunterricht. Hervorzuheben sind das bildungstouristische Programm der „Steirischen Literaturpfade des Mittelalters“, das als sehr ambitioniertes regionales Netzwerkprojekt die mittelalterlichen Texte multimedial dort vorstellt, wo sie entstanden sind, sowie das Konzept einer regionalen Ausstellung zu Rudolf von Ems und Hugo von Montfort für das museum vorarlberg. Die Fokussierung auf die Regionalität scheint ein vielversprechender und zudem nachhaltiger Ansatz zu sein, mittelalterliche Literatur als Teil der Geschichtskultur vor Ort sichtbar und bekannt zu machen.

Im Unterschied zu den vorgeblich inputorientierten, auf die Weitergabe von Informationen angelegten Entwürfen für die Erwachsenenbildung ist es das Ziel des Literaturunterrichts, Schülern Kompetenzen zu vermitteln und sie in die Kunst der Interpretation einzuführen. Im hermeneutischen Literaturunterricht geschieht dies durch die Lektüre, Befragung und Diskussion der Texte und ihrer Rezeption. Am Beispiel von Hartmanns von Aue Der arme Heinrich und Wernhers des Gartenære Helmbrecht zeigt Johann Stangel, „dass ‚alte‘ Texte zur Reflexion über gesellschaftliche Realitäten und Fragen unserer Zeit führen und zu konkret veränderter und verändernder ‚Lebensorientierung‘ beitragen können.“ Dazu stellt er seine Unterrichtsreihen jeweils unter ein Thema von aktueller Relevanz für die Schüler, lässt sie die Biographie des mittelalterlichen Autors rekonstruieren, die Texte im Ganzen lesen, thematisiert philologische Probleme der Überlieferung, führt in die mittelalterliche Vorstellungswelt und Mentalität ein und vergleicht mit den Lernenden den mittelalterlichen Text mit seinen Adaptionen in zeitgenössischer Literatur. Er konzipiert so einerseits methodisch traditionelle, andererseits unterrichtspraktikable Unterrichtsreihen und Zugänge, die die Andersartigkeit der mittelalterlichen Literatur ernst nehmen und es den Schülern ermöglichen, sich nach den Prinzipien der Problemorientierung und des entdeckenden Lernens der mittelalterlichen Literatur verstehend zu nähern. Die Ausführungen Günther Bärnthalers über die Komik im Parzival und Andrea Hofmeister-Winters über Sterben und Tod in Andreas Kurzmanns Gedicht De quodam moriente könnten zu ähnlichen Unterrichtsvorhaben führen. Allerdings konzentrieren sich ihre Beiträge fast ausschließlich auf die Sache; eine tiefere didaktisch-methodische Durchdringung ihres jeweiligen Gegenstandes fehlt.

Ein grundsätzlich überzeugendes didaktisches Konzept, wie man mittelalterliche Literatur fruchtbar in einem medienintegrativen Unterricht thematisieren kann, entwickelt Andrea Sieber am Beispiel des Nibelungen-Mythos für zwei Bereiche. Zum einen lässt sie die Lernenden die Symmedialität und damit die mediale Andersartigkeit mittelalterlicher Literatur durch das Zusammenspiel von Codex, Schrift und Bild erfahren, zum anderen will sie mit den Schülern durch einen Text-Film-Vergleich am Beispiel des Filmklassikers Die Nibelungen von Fritz Lang erschließen, wie der Nibelungen-Mythos Anfang des 20. Jahrhunderts verarbeitet wurde.

Für den gesamten Band ist der hohe Anteil von produktiven und kreativen Vorschlägen des Umgangs mit mittelalterlicher Literatur auffällig. Viele finden wir in dem „Arbeitskoffer“ zu den „Steirischen Literaturpfade des Mittelalters“, der es Lehrern ermöglichen soll, die Texte des Pfades im Unterricht zu thematisieren. In den dazugehörigen Unterrichtsreihen wird vorgeschlagen, zu den Texten beispielsweise eine Talkshow oder Rollenspiele zu veranstalten, als Journalist einen Artikel für ein „Revolverblatt“ oder eine „Qualitätszeitung“ zu verfassen, ein „Lifestylemagazin“ zu erstellen, ein Geocaching durchzuführen oder den mittelalterlichen Stoff in die Gegenwart zu transferieren, indem man ihn in ein Drehbuch umschreibt und verfilmt. Die Erläuterungen zu den Unterrichtsreihen beschränken sich größtenteils auf fachwissenschaftliche Hinweise zu den Texten sowie die Nennung der Kompetenzbereiche und Lernziele aus dem Lehrplan. Was fehlt sind fundierte deutschdidaktische Begründungen, die über die regionale und fachliche Bedeutsamkeit der Literatur hinausgehen. Warum man aber die Texte im Unterricht lesen und warum man die vorgeschlagenen Methoden wählen sollte, wird nicht deutlich. Stattdessen geht man direkt zu den Anregungen für die methodische Gestaltung über, ohne sich bewusst zu sein, dass eine vermeintlich kreative oder innovative Methode noch keinen guten Unterricht macht. Tatsächlich erweisen sich die Planungen insgesamt wegen der kaum vorhandenen didaktischen Argumentation zu den Texten, Lernzielen und Kompetenzen sowie den methodischen Entscheidungen als oberflächlich und arbiträr.

Sehr ausgeprägt ist das Bestreben in einigen Vorschlägen, mittelalterliche Stoffe in die Gegenwart zu exportieren; Brigitte Spreitzer fordert sogar eine – in ihrer Darstellung allerdings didaktisch äußerst fragwürdige – „schamlose Aktualisierung“. Denn es gelingt ihr nicht, dieses Prinzip am Beispiel des mittelalterlichen Tristanstoffs triftig zu begründen und in eine didaktisch kohärente Form zu bringen, da ihre Ausführungen assoziativ zwischen verschiedenen Ideen und Werken hin und her springen, ohne aber zu einem Ganzen zusammengefügt, geschweige denn didaktisch fokussiert zu werden.

Andere Formen der Aktualisierung des Mittelalters und seiner Literatur schildern der Leiter des Bamberger Projekts „MimaSch“ („Mittelalter macht Schule“) Detlef Goller und der Koordinator des Salzburger Modellversuchs „ALIENA“ („Alte Literatur im Erlebnisraum neu ästhetisiert“) Manuel Schwembacher. Goller stellt für die Primarstufe eine Projektwoche vor, während der die Schüler ähnlich wie auf den Mittelaltermärkten Lebensformen aus dem Mittelalter spielerisch erproben, ohne aber diese Erfahrungen zu reflektieren oder zu problematisieren. „Mittelalter“ wird hier zum Event mit vielen Aktivitäten, das sich bruchlos in ein Schulfest integrieren lässt. Die Grundschüler erfahren Mittelalter als etwas Faszinierendes und Anderes, ohne dass ihnen aber die Andersartigkeit bewusst gemacht wird, stattdessen wird sie im wahrsten Sinne des Wortes überspielt. Um diesen durchaus sinnvollen Projekten eine größere didaktische Tiefe zu geben, sollte die Deutschdidaktik Erfahrungen und Reflexionen der Geschichtsdidaktik mit der Living History und dem Reenactment in derartige Vorhaben einbeziehen und fächerübergreifend arbeiten.

In einem weiteren Unterrichtsvorhaben gestalten Schüler einer sechsten Klasse zum Nibelungenlied ein Gerichtsverfahren, obwohl sie aus dem Text wissen, den die sie unterrichtende Studentin für sie schrieb, dass Kriemhild keine Gerichtsverhandlung erwarten kann. Hier wird vor dem Hintergrund eines mittelalterlichen Stoffs den Schülern eine moderne Methode oktroyiert, die keinen Bezug zum Mittelalter aufweist, der mittelalterlichen Welt völlig fremd ist und im offensichtlichen Widerspruch zu ihr steht. Statt zu thematisieren, wie man im Mittelalter zu seinem Recht kommen konnte oder wie Recht gesprochen wurde und welche Rechtsvorstellungen damals existierten, um die Alterität des Mittelalters deutlich zu machen und zu verstehen, wird hier die Andersartigkeit durch die methodische Entscheidung bewusst überformt. Ähnliches geschieht mit den Mutter-Tochter-Dialogliedern Neidharts, zu denen die Schüler der Sekundarstufe II „eine vom Jugendamt initiierte und moderierte Streitschlichtung zwischen Mutter und Tochter“ durchführen. Auch hier tritt das Mittelalterliche angesichts der gegenwärtigen Methode in den Hintergrund und kann allenfalls auf einer oberflächlichen Ebene und als ferner Kontrast, aber nicht als zentraler Unterrichtsgegenstand beschrieben und erfahren werden. Auch der Vorschlag, die Produkte der Lernenden im Hinblick „auf ihre Plausibilität im Vergleich zur behandelten Textvorlage“ zu evaluieren, kann zu keinen tragfähigen Ergebnissen kommen, weil aufgrund des zeitwidrigen, nicht glaubhaften, nicht plausiblen, sondern extrem künstlichen und aufgesetzten Szenarios die ohnehin bekannte Andersartigkeit etwa im Kommunikationsverhalten der mittelalterlichen Figuren nur nochmals bestätigt, aber nicht erklärt werden kann.

Die vorgeschlagenen produktiven und kreativen Methoden mögen vordergründig innovativ erscheinen, bezogen auf die mittelalterliche Literatur erweisen sie sich als nicht angemessen und als anachronistisch. Sie ermöglichen kein Verstehen der mittelalterlichen Texte, sondern gestatten vielmehr die Flucht vor der mittelalterlichen Alterität in die bekannte Gegenwart; das Mittelalter mit seinen Eigenheiten bleibt als etwas Fremdes außen vor.

Unbestritten werden mit diesen Methoden Lernziele des Deutschunterrichtes erreicht, nur rechtfertigen sie nicht den Einsatz mittelalterlicher Literatur. Es stellt sich sogar die Frage, ob diese Ziele nicht sogar mit modernen Texten besser zu erlangen wären. Um die Alterität des Mittelalters für die Schüler begreiflich zu machen, bedarf es einer eigenen Methodik und einer umfassenden Methodenreflexion auch seitens der Schüler.

Ein Beispiel für eine Theatralisierung eines mittelalterlichen Stoffs stellt der oben erwähnte Modellversuch ALIENA dar, während dem in Auszügen der Parzival von Schülern einer Sekundarstufe II auf die Bühne gebracht wurde. Dazu erhielten die Lernenden zunächst im Rahmen eines Workshops Basiswissen zum Mittelalter, lasen ausgewählte Abschnitte aus dem Parzival und inszenierten hierzu Szenen. Die Aufführung wurde aufgezeichnet und kann im Internet auf den Seiten des youtube-Kanals von ALIENA angesehen werden. Betrachtet man das Ergebnis, so fällt auf, dass durch die Inszenierung entgegen des Titels des Projekts keine Neuästhetisierung der alten Literatur erfolgte. Den Schülern gelang es (noch) nicht, ihr Verständnis oder ihre Deutung des mittelalterlichen Parzivalstoffs zu gestalten. Stattdessen brachten sie durch die vielfache Verfremdung in ihrem experimentellen Stück und die zahlreichen geäußerten Fragen ihr Nichtverstehen und ihren Wunsch nach Deutung und Diskussion zum Ausdruck. Die Alterität des Mittelalters überforderte die Schüler, so dass sie auf die Mittel der Ironie und Verzerrung in ihrer Aufführung zurückgriffen. In der Tat erweist sich die Inszenierung als ein gigantischer Fragenkatalog bzw. eine Heuristik zum Parzival und damit als möglicher Einstieg in den Prozess der Interpretation. Doch dieser wurde nicht beschritten, da die Schülerreflexion zum Text „in spielerisch-distanzierender Form“ erfolgen sollte.

Insgesamt bieten einige Beiträge praktikable Zugänge zur mittelalterlichen Literatur in didaktischen Kontexten, denen man aufgrund ihrer didaktischen Qualität und Innovation eine Fortsetzung etwa in der Erwachsenenbildung und Vertiefung im Literaturunterricht wünscht. Sie bilden Bausteine für eine zu erstellende Literaturdidaktik des Mittelalters. Deutlich wird aber auch an den im Vorwort so genannten Best practice-Beispielen, dass in dem didaktischen Neuland mittelalterliche Literatur einige Irrwege beschritten werden. Ohne einen didaktischen Kompass, also ohne konkrete, didaktische Begründung und Zielorientierung werden mutmaßlich innovative Wege (Methoden) gewählt und gegangen, die zusammengesehen kein Ganzes ergeben und letztlich nicht zielführend sind. Durch die Entscheidung, im Unterricht Methoden zu verwenden, die hinsichtlich des Themas und zeitlich fernen Gegenstandes anachronistisch sind, wird der Graben zwischen Mittelalter und Neuzeit noch vertieft oder es erfolgt eine Einebnung der Unterschiede zwischen den Epochen. Ohne eine Reflexion der Methoden findet zwar viel Aktion statt und der Unterricht macht sicher auch „Spaß“, ein Verstehen aber bleibt aus. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass sich die Best practice-Beispiele bei näherer Betrachtung als First practice-Versuche der Studenten und der die Projekte betreuenden Dozenten erweisen. Diese ersten Schritten verdeutlichen, dass die im Entstehen begriffene Didaktik der Literatur des Mittelalters sich über die Grundlegung der genuin mittelalterdidaktischen Themen und Fragestellungen hinaus auch der Methodik annehmen muss, um eine der Sache angemessene Best practice zu ermöglichen, die produktive, problem- und verstehensorientierte sowie angemessene handlungsorientierte Zugänge zur mittelalterlichen Literatur schafft und Abwege eines unreflektierten methodischen Aktionismus verhindert.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Wernfried Hofmeister / Ylva Schwinghammer (Hg.): Literatur-Erlebnisse zwischen Mittelalter und Gegenwart. Aktuelle didaktische Konzepte und Reflexionen zur Vermittlung deutschsprachiger Texte.
Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit 9.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
374 Seiten, 66,00 EUR.
ISBN-13: 9783631656501

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