Kraft schöpfen in Griechenland

Carmen Francesca Banciu unternimmt eine Reise in kleine und große Welten

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon das vordere Einbandfoto stimmt ein auf Sonne, Wärme und Urlaub: Feldsteingemäuer, gemütliche Holztür, Amphore und üppige Vegetation im hellen Sonnenlicht. Dazu der Titel „Leichter Wind im Paradies“. Wer verspürt da keine Sommersehnsucht und Ferienvorfreude? Die Autorin durfte tatsächlich den Luxus auskosten, einen ganzen langen Sommer in einem Bauernhaus an der griechischen Küste zu wohnen, eine Auszeit vom Alltag in Deutschland zu nehmen, losgelöst von Pflichten, Terminen und Sorgen – Zeit, um inne zu halten und zu sich zu kommen. Ja, gewiss, sie lebte in den Tag hinein, wie sie anmerkt, aber doch hat sie diese Zeit mit Beobachten, Nachdenken und Schreiben sehr nutzbringend für sich und für uns, die Leserschaft, verbracht.

Ergebnis ist diese zauberhafte Sammlung literarischer Miniaturen, kurze Prosatexte, die mitunter ins Gedicht hinüberwechseln. Es handelt sich um Dichtung nicht (nur) im Sinne der traditionellen Form, sondern um „eine bestimmte Art, die Sachen zu betrachten“, „das Wunder der Welt“ wahrzunehmen, wie ihr Landsmann und Generationskollege Mircea Cărtărescu kürzlich in einem Interview äußerte.

Als Schriftstellerin macht Banciu eben doch keinen Urlaub, hat ihren Schreibtisch nur verlegt in die Mani, die betörende Landschaft auf der Halbinsel Peloponnes, und dort auf die Terrasse ihrer temporären Behausung oben am Berghang. Hier versenkt sie sich ganz in den umgebenden Mikrokosmos, erschließt ihn sich Stück für Stück und spürt seinem Zauber nach. In einer Art teilnehmenden Beobachtung registriert die Erzählerin auf sehr sinnliche Art und Weise zunächst ausschließlich die Natur, wie sie sich in Wetter, Landschaft, Flora und Fauna präsentiert. Später lässt sie sich auch auf die Menschen ein, denen sie vor Ort begegnet. Die gewonnenen Eindrücke geben Anlass für mannigfaltige Reflexionen.

Mit Worten zu fassen sucht sie die beständige Bewegung des Meeres, die Magie des allabendlichen Sonnenuntergangs in seiner variantenreichen Vielfarbigkeit. Den Regen nimmt sie polyphon, vieltönig, ja vielsprachig wahr, je nachdem, worauf die Tropfen fallen. Aber vor allem richtet sie ihr Augenmerk auf die Pflanzen und Tiere, die Haus und Terrasse bevölkern und ihr beim Alleinsein Gesellschaft leisten. Überall blüht und wuchert es, streift Getier – Katzen, Eidechsen, Geckos – umher. Sie ergötzt sich an Farben und Formen der Wesen, unterscheidet „Zikadengezitter“ von Grillengezirpe. Originell sind ihre Text- und Fotoporträts der ansässigen Insektengesellschaft, die aus Grashüpfern, Stechmücken, Nachtfaltern, Wespen, Ameisen und Käfern besteht und metaphorisch den Kampf der Menschheit um Leben und Tod repräsentiert. Zwei mitwohnende Heuschrecken, beide körperlich versehrt und damit stets identifizierbar, werden ihr zu Gefährten, die sie mit Obst füttert und an deren Dasein sie bis zum Tod Anteil nimmt. Sie nennt sie Orestes und Clytemnestra und stellt so auf ungewöhnliche Art eine Verknüpfung zur griechischen Mythologie her. Das Ende der Clytemnestra dokumentiert sie mit Fotos von teils dramatischer Schönheit.

Verlässt die Dichterin ihre Terrasse, so begegnet sie beim Trampen, am Dorfplatz oder am Strand Alteingesessenen, Zugezogenen oder Urlaubern und widmet sich ihnen mit demselben empathischen Interesse. In Gesprächen erfährt sie von persönlichen Schicksalen: Da ist der weise Mimis, der in Deutschland und Amerika arbeitete und sich in seinem Heimatland zur Ruhe gesetzt hat, der etwas streng riechende dicke Pope Papanikos, der Hardrock liebt und unentwegt zu seinen Schäfchen unterwegs ist, die arbeitslose Innenarchitektin Eirini, die jetzt eine Pizzeria betreibt, die blonde Schwedin Lisa, die sich bei ihrer Arbeit in der Heimat gerade durch eine Rumänin vertreten lässt, oder der unabhängige Daniel aus Argentinien. Dahinter stecken Geschichten über Mut und Unternehmungsgeist, Bildung und Selbstbewusstsein, aber auch von Zukunftsangst und Entwurzelung. Banciu holt auf diese Weise die aktuelle Griechenlandkrise und die Geschichte, ja Europa und die ganze Welt mit den vielfältigen Migrationsströmen in das Buch hinein und verweist auf die Notwendigkeit, sich immer wieder zu erinnern. Erinnerung mache nicht nur reich, sie helfe auch bei der Einordnung neuer Erfahrungen und Erkenntnisse.

Carmen-Francesca Banciu ist gebürtige Rumänin, lebt seit 25 Jahren in Berlin und schreibt ihre Texte inzwischen längst auf Deutsch. Dies tut sie mit der Aufmerksamkeit und Bedachtsamkeit, wie sie Nichtmuttersprachlern häufig eigen ist. Sie testet die Sprache, nutzt ihren bildlichen Reichtum, lotet Grenzen aus. In „Leichter Wind im Paradies“ stellt sie sich vor, „über das samtene, ausgeblichene Meerestuch“ zu schreiten oder wie der Regen „Die Farben auf-geleuchtet“ hat. Und es erscheinen „eingekräuselte Regenwürmer“. Die einfachen Satzkonstruktionen, die Wiederaufnahme von Satzteilen, der Einbau von Ellipsen, die gestellten Fragen lassen Gedankenarbeit sichtbar werden. Dieser besondere Stil verbreitet gerade keine Eile, sondern bremst in seiner Nachdrücklichkeit die Lektüregeschwindigkeit, ja entschleunigt das Leben selbst. Die Fülle der Wahrnehmungen angesichts des vielgestaltigen Seins bereichert und lädt zu philosophischen Überlegungen ein, zum – auch selbstkritischen – Umgang mit Gefühlen wie Glück, Ekel, Furcht, Rache, ja Mordgelüsten, zum Umgang mit Urteilen, Vorurteilen und Verurteilungen. Überzeugend vermittelt Banciu ihre Faszination angesichts des Lebens und ihre Achtung vor der Schöpfung.

Es ist ein Plädoyer, achtsam mit sich selbst, den anderen und mit der Welt umzugehen, sich neugierig und empathisch auf Neues und auf Andere einzulassen und Lehren zu ziehen aus den gewonnenen Erkenntnissen. Es ist sowohl ein aktuelles als auch ein zeitloses Buch, ein Buch für alle Zeiten. An seinem Ende sind die Heuschrecken mit den griechischen Namen dem Tode geweiht und Banciu entlässt uns mit der Erkenntnis vom Kreislauf des Lebens: „Ich spüre das Herz, wie es sich zusammenzieht. / Und verglüht, wie der tägliche Tod der Sonne. / Ich weiß es. / Es gibt keinen Anfang. Und es gibt kein Ende. / Ich weiß es. / Nichts geht verloren. / Nichts stirbt. / Es verwandelt sich nur. / Ich weiß es. / Und vergesse es immer wieder.“

Titelbild

Carmen-Francesca Banciu: Leichter Wind im Paradies.
PalmArtPress, Berlin 2015.
164 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783941524606

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