Ein logischer Idealist

Helmut Papes Einführung zeichnet ein ganzheitliches Bild des Semiotikers Charles Sanders Peirce

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer auf eine Einführung zurück- oder zugreift, der tut dies in der Hoffnung, eine Anleitung, eine Interpretation, ja einen Baedeker in Händen zu halten, der das jeweilige Sujet auslegt, erklärt oder gar dessen Essenz entschlüsselt. Im Falle des amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce (1839-1914) könnte eine derartige Orientierungshilfe keine größere Existenzberechtigung besitzen, gilt sein fragmentarisches Werk gemeinhin als dunkel, unverständlich und unüberblickbar. Helmut Pape hat sich dieser Herausforderung gestellt, die umso größer erscheint, berücksichtigt man die kurze Notiz zur Publikationssituation am Ende des Bandes: „Peirce’ publizierte Schriften und die über 100.000 Seiten nachgelassener Manuskripte haben eine äußerst wechselvolle Geschichte hinter sich. Obwohl Peirce zu Lebzeiten viel publiziert hatte – ungefähr 800 Publikationen in 24 Disziplinen und etwa 12.000 Lexikonartikel – waren seine Schriften weit verstreut. Es ist ihm nicht gelungen, seine größeren philosophischen und logischen Arbeiten in Buchform zu veröffentlichen.“

Einführungen sind – man denke etwa an Einführungsvorlesungen – immer als Überblick zu verstehen und als solche auch konzipiert. Explizit als Einführung in das Leben und/oder Werk Charles Sanders Peirce’ gekennzeichnete Veröffentlichungen gibt es in deutscher Sprache nur eine Handvoll, darunter die vom biographischen Materialreichtum noch immer maßgebliche Arbeit Elisabeth Walthers (1989), die übersichtlich gegliederte und verständlich geschriebene Einführung Ludwig Nagls (1992) sowie die nicht minder luzide und gewinnbringende Darstellung Klaus Oehlers (1993). Neben dem gemeinsamen Anspruch, die Peircesche Philosophie möglichst zur Gänze, zumindest jedoch in ihren wichtigsten Grundsätzen abzubilden, ist die Semiotik Ausgangspunkt dieser mittlerweile über ein Vierteljahrhundert alten Einführungsliteratur. Bei Pape hingegen taucht die Zeichentheorie erst im sechsten Kapitel auf, obschon er zugibt, dass sie „zu einer Grundlagendisziplin [wird], auf der mit Ausnahme der Phänomenologie alle philosophischen Disziplinen aufbauen. Sie wird insbesondere von der Logik (im Sinne einer Argumentationstheorie) und der Methodologie (zu der z.B. der Pragmatismus zu rechnen ist) vorausgesetzt.“

Papes Einführung (es handelt sich hierbei um die zweite, vollständig überarbeitete Auflage der ersten Auflage aus dem Jahr 2004) beginnt – und in diesem Schritt geht er mit den Überblicksdarstellungen Nagls und Oehlers konform – mit der Vorstellung der Peirceschen Kategorienlehre. Von hier geht er jedoch weiter über Logik, Erkenntnistheorie und Relationslogik, Pragmatismus (warum Pape nicht den von Peirce ab 1905 verwendeten Begriff ,Pragmatizismus‘ benutzt, bleibt unklar), Semiotik und Rhetorik hin zur Metaphysik. Ganz klar im didaktischen Fokus der Papeschen Einführung steht Peirce’ logischer Idealismus, der „Geist als einen Prozess [versteht], dessen Tiefen- wie Oberflächenstruktur vollständig durch Begriffe, die aus der Mathematik und Logik – insbesondere aus der Relationenlogik – adaptiert sind, beschrieben werden kann.“

Als Resultat seiner frühen und intensiven Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Schriften – speziell mit der Kritik der reinen Vernunft – einerseits sowie mit der Kategorienschrift des Aristoteles andererseits entwickelt Peirce im Jahr 1867 in dem als Gründungstext seines Denkens zu bezeichnenden Aufsatz „On a New List of Categories“ die sogenannten ‚zenopythagoreischen Kategorien‘. Diese universalen Elemente des ‚Phanerons‘ nennt Peirce neologistisch Erstheit (Firstness), Zweitheit (Secondness), Drittheit (Thirdness) und charakterisiert sie wie folgt: Die Erstheit ist die Kategorie des unreflektierten basalen Gefühls, der bloßen logischen Möglichkeit (potentiality), der Unmittelbarkeit, der Spontaneität, der Freiheit, der noch undifferenzierten Qualität, der Sympathie und der Unabhängigkeit. Sie ist die Seinsweise dessen, das so ist, wie es ist, in positiver Weise und ohne Bezug auf irgendetwas anderes. Zweitheit hingegen ist die Kategorie der Bezugnahme, der Reaktion, der Handlung, des Faktischen, der rohen Gewalt, des Widerstands, der Existenz, des realen Zwangs und der Erfahrung in Raum und Zeit. Sie manifestiert sich in der Relation eines Ersten mit einem Zweiten, unabhängig von irgendeiner Gesetzmäßigkeit. Die Kategorie der Drittheit schließlich bezieht ein Zweites auf ein Drittes. Sie umfasst das Denken (thought), die Vermittlung, die Erinnerung, die Gewohnheit (habit), die Notwendigkeit, die Bedeutung, die Gesetzmäßigkeit (law), die Kontinuität, die Synthese, die Kommunikation, die Vernunft, die Repräsentation sowie die ‚Semiose‘ und die Zeichen selbst. Seine Kategorien verteidigt Peirce im Jahr 1903 als „die drei irreduziblen und einzigen Bestandteile des Denkens.“

Diese „Triadomanie“ – um einen Ausdruck C. W. Spinks’ zu verwenden –, die für das Peircesche Denken wahrlich grundlegend und also charakteristisch ist, wird ergänzt von einem zweiten Grundpfeiler, den Pape der ersten Harvard-Lecture des 25-jährigen Peirce entnimmt: „Die Idee, dass die logische Form primär ist gegenüber dem Gedanken, den sie formt, ist maßgeblich für das gesamte weitere Philosophieren, für seine [Peirce’] Konzeption von Semiotik, formaler Logik und Metaphysik.“ Pape, der nicht nur Weinhändler und außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, sondern auch ein ausgewiesener Kenner des Peirceschen Œuvres ist und aktuell an einem Band der auf 30 Bände angelegten Writings, der kritischen Peirce-Ausgabe, arbeitet, zeigt in seiner Einführung, dass Peirce weit mehr ist als der gemeinhin bekannte Semiotiker, der gerade in der Sprachwissenschaft oftmals zum bloßen triadischen Gegenstück des dyadischen Ferdinand de Saussure zurechtgeschnitten wird. Und selbst hier, im Bereich der Linguistik oder Sprechaktforschung, präsentiert Pape den amerikanischen Philosophen in eher unbekanntem Licht als Initiator einer universalen Rhetorik (Pape spricht von einer „rhetorischen Wende im Verständnis der Semiotik“): „Intentionen, Gedanken, Überzeugungen, Wahrnehmungen gewinnen erst im dialogischen Gebrauch volle Bedeutung.“

Zwar verweist Pape häufig darauf, dass „[j]eder geistige Prozess, jede Erfahrung […], für sich genommen, unbestimmt [ist]“, dass Bedeutung, gerade vor dem Hintergrund der Prozessthese, „nur in Beziehung zu anderen Gedanken, die diesen Gedanken interpretieren“, besteht, doch erwähnt er an keiner Stelle den sogenannten ‚Quasi-Geist‘. Der Begriff des Geistes (mind) ist bei Peirce ein breit gefächertes Konzept, welches nichtpsychologisch, nichtmenschlich und außerkörperlich gedacht wird. Peirce schreibt im Jahr 1906: „Denken ist nicht notwendig mit einem Gehirn verbunden. Es zeigt sich in der Arbeit der Bienen, der Kristalle und überall in der rein physikalischen Welt.“ Um diese irritierende Definition auszubauen und auch die nichtmenschlichen Semiosen charakterisieren zu können, führt Peirce den Begriff des Quasi-Geistes (quasi-mind) ein, was letztlich seine Gleichsetzung von Gedanken und Zeichen in außerordentlichem Maß unterstreicht: „A thought is a special variety of sign. All thinking is necessarily a sort of dialogue, an appeal from the momentary self to the better considered self of the immediate and of the general future. Now as every thinking requires a mind, so every sign even if external to all minds must be a determination of a quasi-mind. This quasi-mind is itself a sign, a determinable sign“, heißt es in einem Brief von Peirce an Victoria Lady Welby.

Bei aller unvermeidlichen Abstraktheit des Peirceschen Gedankenkosmos, die auch eine Einführung nicht aufzulösen vermag, schafft es Pape doch an wichtigen Stellen anschauliche und konkrete Beispiele aus dem Alltag einzubringen, etwa wenn es um die Subklassifikationen des Zeichens geht (Quali-, Sin- und Legizeichen, Ikon, Index und Symbol, Rheme, Dikent und Argument), aber auch im Bereich der Peirceschen evolutionären Metaphysik: Zwischen Kosmologie und Kosmogonie erzählt Pape von seiner eigenen ,kosmologischen Erfahrung‘ auf einer Bergwiese im Süden Frankreichs und vom Gefühl der Erhabenheit, das ihn angesichts des „klare[n], überreiche[n], von leicht flirrenden Sternen übersäte[n] Nachthimmel[s]“ ergreift. Hierbei zeigt sich die Wichtigkeit der Erstheit, durch die die Peircesche Erkenntnistheorie als revolutionär bezeichnet werden kann: „Der zur Tradition alternative Vorschlag der Rationalitätsauffassung der Kategorienlehre […] besteht eben darin, alle logischen Relationen des Denkens und Erkennens an logisch neutrale, vorlogische Relationen zu binden, die immer unmittelbar aufweisbar sind.“

Wie im hochkomplexen Gedankengebäude Peirce’ so kann man hin und wieder auch in der Papeschen Einführung den Überblick verlieren, auch wenn der Autor zu Beginn eines jeden Kapitels sowohl eine kurze Summa aus dem Vorangegangen liefert als auch eine ebenso knappe Vorausschau auf das Kommende bietet. Dennoch ist es unbedingt geboten, langsam und gründlich zu lesen, um wichtige Thesen und Maximen nicht zu übersehen, erst recht, wenn der Leser noch nie Kontakt mit dem „greatest American thinker ever“ (Bertrand Russel) hatte. Es empfiehlt sich daher, vorab einen Blick in die den Band abschließenden, sehr hilfreich und kritisch kommentierten „Literaturhinweise“ zu werfen, die die weitere Beschäftigung mit Peirce und die Beschaffung von Literatur erleichtern und steuern.

Peirce selbst äußert sich angesichts der Größe seines Vorhabens, eine Welt, in der alles Zeichen ist, zu beschreiben, im Jahr 1906 humorvoll: „Meine Zeichenklassifikation ist noch nicht völlig ausgereift. […] Wenn mir also das Glück zuteil wird, noch 82 oder 83 Millionen Jahre zu leben, so könnte ich hoffen, den Gegenstand zu erschöpfen.“ Helmut Papes Einführung hat ihren Gegenstand bestmöglich erschöpft. Sie ist ein Muss für jeden, der sich näher mit Charles Sanders Peirce, seiner Philosophie, seinem pansemiotischen Universum und der Wichtigkeit der Beziehung zwischen Wahrnehmen, Denken und Handeln beschäftigen möchte. Durch ihr umfassendes Bild macht diese Einführung Lust, den ,anderen Peirce‘ zu entdecken, den Semiotiker im Pragmatisten, den Metaphysiker im Logiker, den Rhetoriker im Semiotiker und letztlich auch den Agapisten im logischen Idealisten.

Titelbild

Helmut Pape: Charles Sanders Peirce. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2015.
223 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885060932

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