Auf sich selbst gestellt

Kirsten Fuchs erzählt in „Mädchenmeute“ vom Erwachsenwerden

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es war der Sommer, in dem ich aufhörte, einen knallroten Kopf zu bekommen, wenn ich mehr als drei Wörter sagen sollte. Ich hatte am Ende eine Narbe an der Hand und meinen ersten Kuss bekommen. Ich war sogar fast ein bisschen berühmt geworden. Aber der Reihe nach.“ Der Reihe nach: Ein paar Mädchen treffen in den Ferien in einem Camp aufeinander: Es handelt sich dabei um ein „Ferien-Fun-Survival-Camp“. Charlotte ist fünfzehn, die anderen zwischen dreizehn und sechzehn Jahren alt: Bea, Anuschka, Rike, Antonia, Yvette und Freigunda sind noch dabei, alle in der Pubertät, alle ohne Smartphone, in der Natur.

Aber die Gruppenleiterin Inken hat manchmal hysterische Anfälle, das Gepäck verschwindet, plötzlich finden die Mädchen Blutspuren an der Wand. Und als Inken auch noch verschwindet, beschließen die Mädchen einfach zusammen abzuhauen, klauen einen Hundetransporter mit alten Hunden , fahren ins Erzgebirge, wo sie sich gemeinsam im Wald, in einem aufgegebenen Bergwerksschacht, verstecken und sich häuslich einrichten: Keine Lust mehr auf Erwachsene! Sie machen das, was pubertierende Mädchen zusammen machen, erzählen sich ihre Probleme, leiden, streiten, raufen sich wieder zusammen, entdecken sich selbst. Das jedoch nicht ohne Probleme, denn „nirgends war ein Elternteil oder eine Lehrerin in Sicht, die man scheiße finden konnte.“ Bei einem Ausflug in den nächsten Ort stellen sie plötzlich verblüfft fest, dass sie berühmt geworden sind. Es gibt sogar eine Internetseite, die sie zu Heldinnen erklärt: „Einfach in den Wald gehen und da wohnen. Das nenn ich modern. Weißte, das wird der neue Trend. In den Wald gehen. Und ganz ohne Drogen und so.“

Kirsten Fuchs hat mit „Mädchenmeute“ ein Mädchenabenteuerbuch geschrieben – ein wenig J.D. Salinger, ein wenig Wolfgang Herrndorf, ein wenig Christiane Rocheforts „Zum Glück gehtʼs dem Sommer entgegen“. Es lebt wie viele andere Coming-of-Age-Bücher seit „Huckleberry Finn“ vor allem davon, dass eine Gruppe Jugendlicher plötzlich auf sich allein gestellt ist. Vorher fremdbestimmt durch Eltern oder Schule, müssen die Mädchen jetzt alleine miteinander klarkommen, sich eigene Regeln geben. Und dass es sich um eigenständige Persönlichkeiten handelt: Freigunda, die Hunde hypnotisieren und einen Flaschenzug bauaen kann, und deren Eltern von einem Mittelalterfestival zum anderen tingeln; Anuschka, die sich mit Kräutern auskennt; Bea, die sich zur Anführerin aufschwingt und Auto fahren kann, und Charlotte, die etwas abgehoben ist, alles genau beobachtet und notiert. Jedes Mädchen hat seine eigene Geschichte, die sich langsam entwickelt: „Ich kannte mich so auch nicht. Ich war mir fremd. Jetzt war ich richtig gespannt, mich kennenzulernen“, sagt Charlotte einmal. Und nicht zuletzt ist das Buch so lesenswert, weil diese uralte Geschichte vom Erwachsenwerden witzig, spannend und in einem flotten Tempo erzählt ist.

Und auch der Wald bekommt seine eigene Stimme, knackt und knistert, raschelt und rauscht. Nachts ist er gruselig, wenn die Mädchen Wache halten, tags liegen sie auf der Lichtung und hören den Vögeln beim Singen zu: „Schon nach drei Tagen ohne Haus war etwas mit mir geschehen. Etwas Großes. Vielleicht etwas Größeres als ein Haus, das sich darum nur draußen entwickelte. Ich konnte mit der Haut hören und mit dem Hinterkopf sehen.“

Titelbild

Kirsten Fuchs: Mädchenmeute. Roman.
Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
463 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347641

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