Gefährliche Beziehungen

Wittgenstein, Hitler und der Holocaust

Von Jan WesterhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Westerhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Schuljahr 1904/05 besuchten sowohl Ludwig Wittgenstein als auch Adolf Hitler die Realschule in Linz. Es gibt keine Beweise dafür, daß die beiden dort je etwas miteinander zu tun gehabt haben. Gerade deswegen, möchte man meinen, sei dies ein trefflicher Stoff für einen Roman. Wie wäre eine Begegnung zwischen dem schüchternen Millionärssohn aus Wien und dem musik- und kunstinteressierten, aus kleinen Verhältnissen stammenden Hitler abgelaufen? Hätten sie sich miteinander unterhalten können? Wären sie gar voneinander fasziniert gewesen? Wäre da irgendein Hinweis gewesen, daß einer von beiden der größte Philosoph, der andere der größte Verbrecher dieses Jahrhunderts werden würde?

Daß die Realität oft seltsamer sein kann als jede Fiktion, versucht nun Kimberley Cornish in seinem Buch "Der Jude aus Linz. Hitler und Wittgenstein" zu belegen. Hier seine Thesen in Kurzform: Hitlers Begegnung mit Wittgenstein in ihrer gemeinsamen Schulzeit war die erste und entscheidende Ursache für Hitlers Antisemitismus. Wittgenstein, sich über den Charakter Hitlers im klaren, trat Anfang der dreißiger Jahre der Komintern bei und arbeitete als russischer Spion, um die nationalsozialistische Diktatur zu Fall zu bringen. Darüber hinaus sind die gedanklichen Grundlagen von Hitlers "Einsicht" in das "Wesen der Geschichte" und seine Fähigkeit zur Fanatisierung der Massen sowie Wittgensteins Spätphilosophie Weiterentwicklungen derselben, ursprünglich brahmanischen Theorie des Geistes.

Wie ernst muß man das alles nehmen? Es sollte nicht verwundern, daß die englische Original-Ausgabe für gewaltiges Echo in den Medien sorgte, wenn die Reaktionen auch in überwältigender Mehrheit ablehnend waren. Dabei handelt es sich bei Cornishs Buch um ein interessantes Kabinettstück eines nahezu paranoiden Geschichtsverständnisses, das die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts von einem Gesichtspunkt (nämlich dem des vermuteten Austauschs zwischen den Schülern Wittgenstein und Hitler) her sieht. Auf diese Weise versucht Cornish, Belege für seine These aus der Geschichte selbst zu erhalten. Wer jedoch "Ludwig" und "Adolf" in den Wald hineinruft, sollte sich nicht wundern, wenn es "Wittgenstein" und "Hitler" herausschallt. Deutlich zeigt sich hier, wie inadäquat die Methode ist, zur Unterstützung einer These, für die keine Belege existieren, eine große Menge an Beinahe-Belegen anzuhäufen.

Seine Annahme von der wie auch immer gearteten "Begegnung" Hitlers und Wittgensteins in Linz versucht der Autor im wesentlichen durch zwei Fakten zu stützen. Das eine ist eine Gruppenaufnahme der Realschule, auf der Hitler und (wahrscheinlich) Wittgenstein abgebildet sind - "wahrscheinlich", da zwar Hitler einwandfrei zu identifizieren ist, wer jedoch, wenn überhaupt einer, der junge Wittgenstein ist, läßt sich durch bloßen Augenschein nicht feststellen. Der Autor hat daraufhin den Erkennungsdienst der australischen Polizei bemüht und das Bild eines in der Nähe Hitlers sitzenden Jungen künstlich "altern" lassen. Das Ergebnis: zweifelsfrei Wittgenstein. Im Grunde sollte es auch nicht allzu verwunderlich erscheinen, wenn zwei Schüler derselben Schule auf demselben Schulphoto erscheinen - Cornish benutzt jedoch dieses kriminalistische Manöver, um von der Nähe auf dem Photo auf gute Bekanntschaft zu schließen. Abgesehen von der Tatsache, daß der vermutete Wittgenstein nun keineswegs direkt neben Hitler abgebildet ist, ist das Photo auch insofern als Beleg nicht ernst zu nehmen, als man davon ausgehen kann, daß die Verteilung auf solchen Gruppenphotos Anfang des Jahrhunderts in der Regel nicht nach persönlicher Neigung, sondern eher nach alphabetischen oder Symmetrieprinzipien geschah.

Faktum Nummer zwei soll die Erwähnung eines Mitschülers von Hitler aus Linzer Zeiten in "Mein Kampf" sein, eines "jüdischen Knaben", der "von uns allen mit Vorsicht behandelt wurde [...] weil wir ihm in bezug auf seine Schweigsamkeit durch verschiedene Erfahrungen gewitzigt, nicht sonderlich vertrauten". Aber wieso sollte damit Wittgenstein gemeint sein? Cornish zieht hier die Angewohnheit Wittgensteins heran, in ausführlichen Gesprächen seinen Freunden seine "Sünden" zu "beichten" und ihnen ausführlich zu erklären, was er für ein schlechter Mensch sei. Wittgenstein war also nicht "schweigsam" genug in bezug auf sein Seelenleben, und teilte damit eine Eigenschaft des erwähnten Mitschülers Hitlers. Dies ist insofern nicht überzeugend, als das Hitler-Zitat eindeutig darauf hinzuweisen scheint, daß der erwähnte "Knabe" Vertrauliches gegenüber Dritten ausplauderte - und nicht auf die öffentliche Bekanntgabe irgendwelcher adoleszenten Verfehlungen. Daß jedoch Wittgenstein Vertrauensbruch gegenüber seinen Schulkameraden beging, ist durch nichts belegt und scheint allen sonstigen Informationen über seinen Charakter direkt zu widersprechen. Ein weiterer Schönheitsfehler in Cornishs Identifizierung: obschon jüdischer Abstammung war Wittgenstein getaufter Katholik. Hätte Hitler Wittgenstein gemeint, er hätte sicher nicht ohne weiteres von einem "jüdischen" Schüler gesprochen.

Cornish führt noch eine Reihe weiterer "Belege" an, die nicht zusammenhängen: die Börsenspekulationen von Wittgensteins Vater Karl und die Fähigkeit von Hitler und Wittgenstein, ganze Symphonien zu pfeifen. Die beiden gemeinsame Begeisterung für Musik ist zwar für sich genommen interessant, macht es aber nicht wahrscheinlich, das die beiden in Linz mehr als flüchtig bekannt waren, insbesondere wenn man miteinbezieht, daß Hitler, obwohl gleichaltrig, zwei Klassen unter Wittgenstein war und ihr gleichzeitiger Schulbesuch nicht länger als ein Jahr dauerte. Was ist mit These Nummer zwei: Wittgenstein als russischer Spion? Cornish geht davon aus, daß Wittgenstein der Anwerber des Cambridger Spionagerings um Philby, Blunt, Burgess & Co. war. Was ist davon zu halten? Wittgenstein war offenkundig politisch links orientiert. Ihm wurde ein Lehrstuhl an einer russischen Universität angeboten. Er hatte eine erstaunliche Fähigkeit, Menschen zu faszinieren. Er wohnte in der Nähe der Spione.

Das letztgenannte Beispiel ist wieder ein Fehlschluß nach obigem Muster: Der Schluß von "räumlicher Nähe" auf "Bekanntschaft" wäre vielleicht gerechtfertigt, wenn alle Beteiligten ihre Zimmer hätten frei wählen können, aber schon eine leichte Bekanntschaft mit den Zimmerverteilungsprozeduren an Cambridger Colleges läßt dies bestenfalls als frommen Wunsch erscheinen. Überhaupt erscheint es erstaunlich, daß Wittgenstein die Philosophie revolutionierte, massenhaft schlechte Western-Filme konsumierte und ganz nebenbei noch Zeit fand, einen Spionagering aufzubauen. Aber selbst wenn wir das für möglich halten, schießt Cornishs Argumentation hier ein Eigentor: als dieselbe Person noch einige Seiten vorher als Wittgenstein identifiziert wurde, geschah dies aufgrund ihrer mangelnden Verschwiegenheit. Jetzt auf einmal scheint für die Identifizierung ein ganz anderer Charakter auszureichen: der verschwiegene, bis heute nicht identifizierte fünfte Mann der Spione von Cambridge, der unbemerkt im Hintergrund Agenten anwarb und, alle Bekannten, Freunde und Kollegen täuschend, das beschauliche Leben eines Akademikers führte - nicht gerade das Muster einer stringenten Argumentation.

Den größten Raum in seinem Buch räumt Cornish der Verteidigung seiner dritten These ein, nämlich daß es eine "einzelne, wesentliche Idee" gebe, die sowohl die Grundlage für Wittgensteins Philosophie des Geistes als auch der Wurzeln der "nationalsozialistischen Metaphysik" bilde. Die Rede ist von der Vorstellung, daß es keine Seele, kein Selbst und kein erlebendes Subjekt gebe und mithin auch keine privaten geistigen Erfahrungen. Cornish versucht, sie als Manifestation einer urzeitlichen "arischen" Theorie darzustellen, die von Schopenhauer in seiner Theorie des Willens wieder aufgegriffen worden sind. Wittgenstein soll angeblich diese Idee als Kind in einer nachgerade mystischen Intuition zuteil geworden sein, so daß er sie nachher gebrauchte, um seine angeworbenen Spione vom Marxismus zu überzeugen, denn, so Cornish, wenn es kein individuelles Subjekt gibt, verschwindet eo ipso auch die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen öffentlichem und privatem Eigentum usw. Das praktische an dieser Theorie ist, daß sie den Holocaust auch gleich miterklärt, der, wie der Autor in seiner Zusammenfassung anmerkt, "nur sehr wenig mit traditionellem Antisemitismus zu tun hatte". Cornish argumentiert, daß Hitler Wittgensteins Idee aufgenommen habe, denn seine Ideologie ersetze das Individuum durch die Rasse, um zwangsläufig (!) diejenigen auszulöschen, die die Lehre von der Nichtexistenz der individuellen Seele nicht teilen könnten. Während der Hindu z. B. noch akzeptieren konnte, daß das individuelle Selbst letztendlich nicht verschieden vom Geist Brahmas sei, wäre diese Identität von göttlichen und menschlichen Selbst für den Juden auf keinen Fall annehmbar. Und mit diesen absurden Ungereimtheiten will nun Cornish den Holocaust auf eine philosophische Theorie zurückführen, die Wittgenstein Hitler als Schuljunge einmal mitgeteilt haben soll.

Was die Lektüre des dritten Teils von Cornishs Buch so unbefriedigend erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß hier an sich sehr interessante theoretische Fragen, wie die nach dem Status privater Erfahrungen oder die nach dem durch Schopenhauer vermittelten Einfluß indischer Philosophie auf Wittgenstein, bis zur Unkenntlichkeit mit haarsträubenden philosophiegeschichtlichen und psychologischen Thesen verrührt werden und dieses Gemisch dann für die Erklärung nationalsozialistischer Verbrechen herhalten muß. Zum Beleg der "arischen" Herkunft der philosophischen Theorie unternimmt Cornish schließlich einen geschichtlichen Rundumschlag, in dem er hinduistische Philosophie, buddhistische anatta-Lehre und Avicennas Philosophia Orientalis als "Manifestationen" derselben Idee anführt. Differenziert wird hier nicht, irgendwie ist das ja alles arisch bzw. indisch bzw. östlich.

Titelbild

Kimberley Cornish: Der Jude aus Linz. Hitler und Wittgenstein. Aus dem Englischen von Angelus Johansen.
Ullstein Taschenbuchverlag, Berlin 1998.
432 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3550069707

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