Abstieg ins Archiv der Gesellschaft

Hoffmann und Campe veröffentlicht José Saramagos letztes Romanfragment

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Artur Paz Semedo arbeitet in der Rechnungsabteilung einer traditionsreichen Waffen- und Munitionsfabrik. Durch die Verfilmung von André Malraux‘ Roman wird er auf eine Episode aufmerksam, bei der Arbeiter einer Waffenfabrik Bomben, die für den Krieg bestimmt waren, so sabotiert hatten, dass sie nicht explodieren und so keine Menschen umbrachten. Artur beginnt sich zu fragen, was seine Fabrik eigentlich in den 30er Jahren getan hat, an wen sie geliefert hat, von wem sie Geld bekam und womit sie es verdiente. Vom Direktor holt er sich eine Erlaubnis für eine Forschungsarbeit und steigt ins Archiv hinab – über seine Rückkehr wissen wir nichts, genauso wenig über seine Funde, über Erfolg oder Scheitern seiner Aufgabe. Denn genau hier, beim Gang ins Archiv, brechen José Saramagos „Hellebarden“ ab, jener jetzt als ‚Romanfragment‘ im Hoffmann und Campe-Verlag erschienene letzte Text von Saramago, an dem der portugiesische Literaturnobelpreisträger von 1998 bis zu seinem Tod 2010 gearbeitet hatte.

Rund 70 Seiten umfasst das Fragment, die Karin von Schweder-Schreiner aus dem Portugiesischen ins Deutsche übertragen hat; beigegeben sind dem Band knappe Notizen von Saramago selbst, zwei Essays, einer von dem portugiesischen Dichter Fernando Gómez-Aguilera, der Saramago gut kannte, einer von Roberto Saviano, der Saramago sehr schätzte, sowie Illustrationen von Günter Grass. Damit legt der Verlag mit dem schmalen Buch ein Liebhaberstück vor, das wohl vor allem an Leser gerichtet sein dürfte, die Saramago schätzen und sein Werk möglichst ‚komplett‘ besitzen wollen – zugleich aber kann man „Hellebarden“ auch ganz anders lesen: als Einladung nämlich, Saramago endlich zu entdecken.

Es ist richtig: José Saramago ist der in Deutschland sicher bekannteste portugiesischsprachige Autor, einer der wenigen, die immer sofort übersetzt wurden, einer der ganz wenigen, die sich auch verkauften, zumindest in den späten 80er und frühen 90er Jahren. Aber gleichzeitig blieb der zeitlebens politisch engagierte Autor immer eine Randfigur, er wurde nie zu einem richtigen ‚Boom‘-Autor, wie es beispielsweise Vargas Llosa ist, mit dem ihm eine Vorliebe für historische Stoffe verbindet, von dem ihn jedoch ein riesiger ideologischer Graben, der auch ästhetische Furchen hat, trennt. Saramago war Sozialist und das blieb er sein ganzes Leben. Allen negativen Auswüchsen des real existierenden Sozialismus zum Trotz glaubte er daran, dass eine menschliche Gesellschaft auf der Gleichheit aller, gegenseitiger Toleranz, Offenheit und gegenseitigem Respekt zu beruhen habe. Eliten waren ihm zuwider und er scheute sich nicht, das offen auszusprechen. Wegen seiner radikalen Kritik an der katholischen Kirche wurde Saramago 1992 durch den damaligen Kulturstaatssekretär Portugals von der Liste für den Europäischen Kulturpreis gestrichen, was dazu führte, dass er mit seiner Frau ins Exil nach Lanzarote ging. Noch kurz vor seinem Tod sorgte er für Aufsehen, als er in seinem Internetblog die israelische Besatzungspolitik im Gaza-Streifen scharf kritisierte, was seinen deutschen Verlag, Rowohlt, zur Verweigerung der Veröffentlichung veranlasste.

Das deutet schon darauf hin, dass Saramagos Texte nie ‚leichte Kost‘ waren. Das gilt für alle Romane, von den ganz frühen wie dem „Handbuch der Malerei und Kalligraphie“ (1977) über das sperrige „Evangelium nach Jesus Christus“ (1991) bis zur aufwühlenden „Stadt der Blinden“ (1995), die auch verfilmt wurde. Immer tauchen in seinen Geschichten die großen Themen auf: Fragen nach der Identität und dem Wesen des Menschen, der Freiheit, der Einbindung in persönliche und gesellschaftliche Beziehungen und die Fragen nach Macht und Machtmissbrauch in Gemeinschaften. Saramago ist weit davon entfernt, modernistisch-subjektive Romanmonster zu schaffen, die das Individuum psychologisch ausloten wollen oder aber die Gesellschaft in ihrem Chaos abbilden. Er schreibt Allegorien, Typenromane, die zwischen Realismus und Phantastik changieren, die Außenseiterfiguren und Randgeschichten in den Blick nehmen, ohne in die Groteske abzurutschen. Seine besondere Erzählperspektive mit einem allwissenden, kaum ordnend eingreifenden, doch zeitweise ironisch kommentierendem Erzähler versucht dem mündlichen Erzählen nahezukommen und ist auf ihre Art modern, ohne dabei ästhetizistisch zu wirken. Saramago ist ein postmoderner Autor, weil er keine Unterscheidung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ macht, weil er der Wahrheit keinen privilegierten Ort zuweist und weil es ihm nicht um die Geschichte, sondern viele Geschichten geht. Er ist aber kein postmoderner Autor, weil ihm die Beliebigkeit und Standpunktlosigkeit ein Graus sind, die bloß ästhetische Spielerei und das ironische Fabulieren. Er ist Ironiker, aber kein Zyniker. Wenn Saramago erzählt, tut er das immer aus einem Grund. Seine Geschichten möchten etwas. Anders als sein ähnlich prominenter portugiesischer Kollege Antonio Lobo Antunes geht es ihm nicht darum, immer wieder von sich selbst zu erzählen, sondern immer wieder von der Welt zu erzählen.

Der Grund dafür war ist indes bei Saramago nie ein ideologischer, sondern immer ein humanistischer. Genau wie seine Kritik an gesellschaftlichen Zuständen beginnen auch seine Romane immer mit einer Frage an die Gesellschaft, mit einer Feststellung, einem Betrübnis: „Seit es die Welt gab, gab es Waffen, aber deshalb starben nicht mehr Menschen, es starb, wer sterben musste, das war alles“, so lässt Saramago seinen Erzähler in den „Hellebarden“ die Gedanken von Artur wiedergeben. Artur vergewissert sich damit der Redlichkeit seines Berufs, des Handelns seines Arbeitgebers. Doch auf seinem Weg hinab ins Archiv kommen Zweifel, ob das eigentlich stimmt. Aus der Gewissheit wird eine Frage, aus der Selbstvergewisserung Arturs ein gesellschaftliches Problem. Damit stellen diese ersten 70 Seiten der „Hellebarden“ die Keimzelle des Schaffens von Saramago dar, sie beschreiben seinen eigenen Weg ins Archiv der europäischen Gesellschaft.

Saramagos Romane entzünden sich an gesellschaftlichen Fragen, und sie erkunden sie literarisch, nicht ideologisch. Das ist in „Hellebarden“ nicht anders als im frühen Roman „Das Handbuch der Malerei und der Kalligraphie“ von 1977, wo er die Frage nach der Möglichkeit des Schreibens in einer Diktatur stellt. Ihn interessiert nicht die dogmatische feststehende Meinung einer Elite zu einem Problem, sondern er lässt seine Figuren nach ihren Wahrheiten suchen, nach ihrer Möglichkeit, in der Welt zu leben und sich einzurichten. „Mir ist in diesen letzten Jahren bewusst geworden, dass ich eine Formel für die Moral suche: Ich will über meine Bücher ein moralisches Lebensgefühl vermitteln, und das will ich literarisch ausdrücken“, zitiert Aguilera in seinem Essay den Freund und Autor. Saramago habe immer geschrieben, um „eine Umstülpung der Moralphilosophie im Bewusstsein des Lesers“ zu erreichen, stellt Aguilera fest. Er hatte geschrieben, um Leser zu erreichen und um grundsätzliche Fragen zu thematisieren, die über das Tagesgeschehen hinausgehen. Seine Literatur war damit im besten Wortsinne engagiert – und notwendig. Roberto Saviano gelingt es in seinem Essay, die Notwendigkeit der Literatur Saramagos durch den Vergleich mit anderen Schriftstellern, durch den Vergleich mit Journalisten, die ebenfalls den Weg ins Archiv der Gesellschaft suchten, deutlich zu machen. Er zitiert Camus: „Wer klar schreibt, hat Leser, wer obskur schreibt, hat Kommentatoren.“ Und fügt Saramago zitierend hinzu: „Dies ist das Sympathische an einfachen Worten: Sie können nicht täuschen.“

„Hellebarden“ ist damit weniger der fragmentarische Abschluss eines Werks, sondern in der vorliegenden Ausgabe ein Einstieg. Was Saramago ausmacht und ihn so besonders, ihn zu einem der wichtigsten Autoren der letzten 30 Jahre macht, blitzt im Fragment auf, was ihn so bedeutend macht, arbeiten zwei brillante Essays heraus. Es bleibt zu wünschen, dass viele Leser mit Artur Paz Semedo ins Archiv hinabsteigen um die Geschichten von José Saramago zu lesen oder wiederzulesen, die dort zu finden sind. Denn das ist das Sympathische an ihnen: sie können nicht täuschen. 

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

José Saramago: Hellebarden. Ein Romanfragment.
Mit Beiträgen von Roberto Saviano und Fernando Gómez Aguilera und Zeichnungen von Günter Grass.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner und Rita Seuß.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
144 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783455404173

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