Dante und Heidegger

Zur Juni-Ausgabe von literaturkritik.de. Mit Anmerkungen zur Situation wissenschaftlicher Mitarbeiter an deutschen Universitäten und unserer Zeitschrift – aus gegebenem Anlass

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Wann genau Dante Alighieri, der bedeutendste Dichter Italiens und des europäischen Mittelalters, geboren wurde, wissen wir nicht. Es war vor 750 Jahren in Florenz, vielleicht im Mai. Oder doch erst im Juni? Es ist jedenfalls nicht zu spät, im Schwerpunkt dieser Ausgabe von literaturkritik.de an ihn eingehend zu erinnern und dem nachzugehen, was noch heute seine Bedeutung ausmacht. Dante wird auch in den kommenden Monaten und Jahren ganz gewiss nicht der Hölle der Vergessenheit anheimfallen. Aber passt es, wenn wir gleichzeitig noch einmal auf die Debatten über Martin Heidegger eingehen, die nach der Veröffentlichung seiner „Schwarzen Hefte“ neu aufgeflammt sind und die Zweifel an der Berechtigung seines philosophischen Ansehens erheblich verstärkt haben?

Immerhin bewegten sich beide in Grenzbereichen von Dichtung und Philosophie. Der italienische Dichter war auch ein Philosoph, und der deutsche Philosoph demonstrierte mit seinen Interessen etwa an Hölderlin und vor allem auch mit seinen sprachlichen Eigenwilligkeiten immer wieder seine Affinitäten zur Dichtung. Nicht zufällig zitiert die erste Veröffentlichung des zwanzigjährigen Studenten der katholischen Theologie – im November 1909 unter dem Titel Allerseelenstimmung im Heuberger Volksblatt – aus der Inschrift des Höllentors im dritten Gesang der Göttlichen Komödie den neunten Vers: „Lasciate ogni speranza, voi ch‘entrate!“ („Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“) Die Hölle, das ist in Heideggers lyrischem Prosatext die moderne Großstadt.

Dante verdankt allerdings sein Ansehen heute nicht zuletzt seiner renitenten Haltung gegenüber den politischen Machthabern im damaligen Florenz, die ihn zum Tod verurteilten und deren späteres Angebot zur Rückkehr aus dem Exil er vor 700 Jahren ablehnte. Heideggers Haltung nach 1933 sah anders aus. Und bei allem Respekt, den seine von apokalyptischen Visionen grundierte Kritik an Prozessen der Rationalisierung und Technisierung in modernen Gesellschaften gefunden hat und zum Teil noch heute findet, scheint diese Art von Moderne-Kritik aufgrund ihrer bei Heidegger ausgeprägt antisemitischen Tendenzen inzwischen völlig diskreditiert.

Mit der ihm eigenen polemisch-engagierten Entschiedenheit hebt dies Jan Süselbeck in dieser Ausgabe hervor. Seinem Beitrag steht ein anderer gegenüber, der der Philosophie Heideggers freundlicher gesinnt ist. Ob schon der junge Heidegger mit seiner dantesken Höllenvision der Großstadt jener völkisch-nationalen und antimodernen Heimatkunstbewegung nahe stand, die den späteren nationalsozialistischen Aversionen gegenüber „jüdischen Asphaltliteraten“ in den europäischen Großstädten den Boden bereitete, bliebe wie so vieles andere noch zu klären.

Namentlich wird der Beitrag von Jan Süselbeck zu dieser Debatte hier aber aus anderen Gründen hervorgehoben. Es ist der bislang letzte von 350 Artikeln, die er in literaturkritk.de veröffentlicht hat. Der erste (zu Arno Schmidt, über den er in Berlin promovierte) erschien im Februar 2002. Mit ihm wurde Jan Süselbeck regelmäßiger Mitarbeiter unserer Zeitschrift. Vor zehn Jahren übernahm er als Nachfolger von Lutz Hagestedt, der dem Ruf  auf eine Professur an der Universität Rostock gefolgt war, die Redaktionsleitung von literaturkritik.de am Institut für Neuere deutsche Literatur der Universität Marburg und war dabei auch für die Organisation des Studienschwerpunktes „Literaturvermittlung in den Medien“ zuständig. Die freie Zeit, die neben dieser „halben Stelle“ mit vielen unbezahlten Überstunden in der Lehre, in der Hochschulselbstverwaltung, bei der Organisation und Moderation wissenschaftlicher Tagungen und literarischer Veranstaltungen übrig blieb, nutzte er zur fachlichen Weiterqualifikation, schrieb zahlreiche Aufsätze und schloss 2011 seine Habilitationsschrift ab, die mittlerweile im Umfang von über 500 Seiten im Wallstein Verlag erschienen ist. Im Wintersemester 2009/2010 vertrat er eine Professur in Marburg, vier Jahre später in Siegen, wo er zuvor schon an einem Forschungsprojekt beteiligt war. Bei der Bewerbung um eine Professur in Kassel stand er 2014 auf dem 2. Listenplatz.

Seit dem 17. Mai 2015 ist der 42 Jahre alte Privatdozent „arbeitslos“. Die Stelle in Marburg war befristet. Sein Werdegang ist ein typisches Beispiel für die unverantwortliche Personalpolitik an deutschen Hochschulen, für die „schwärzeste Seite“ gegenwärtiger Hochschulpolitik, wie es eben ein Kollege im neuesten Heft der Zeitschrift Merkur formulierte: die dramatische „Produktion von traurigen Wissenschaftlerbiographien“.

Der Wissenschaftler und Journalist Jan Süselbeck hat seit mehr als einem Jahrzehnt mit seinem intellektuellen Engagement das Profil von literaturkritik.de maßgeblich mit geprägt. Das klingt wie ein Nachruf, ist aber keiner. Es besteht durchaus Anlass zur Sorge um seine Zukunft und um die der Zeitschrift, aber kein Grund, alle Hoffnung fahren zu lassen. Zum Glück hat die Zeitschrift in Stefan Jäger seit gut einem Jahr einen Mitarbeiter, der mit der Redaktion inzwischen bestens vertraut ist und einen Teil der Aufgaben von Jan Süselbeck übernehmen kann. Und dieser selbst bleibt, vorerst „ehrenamtlich“, weiter an der Redaktionsleitung von literaturkritik.de beteiligt. Unsere Dankbarkeit auch dafür geht mit der Zuversicht einher, dass er bald, hierzulande oder anderswo, eine seinen Qualifkationen entsprechende Stelle an einer Universität erhält, die mit ihm zusammen auch die Zeitschrift in ihre Lehre und Wissenschaftskommunikation einbinden könnte. Daneben suchen wir nach Wegen, die Attraktivität unserer Online-Abonnements so zu erhöhen, dass wir noch viel mehr Unterstützung durch die uns zugeneigte Leserschaft erhalten als bisher. Über erste Schritte dazu informieren wir in der Juli-Ausgabe.

Bis dahin wünschen wir Ihnen viele Anregungen beim und zum Lesen – im Bewusstsein, dass es in manchen Stunden so schöne oder so ernsthafte andere Dinge gibt, dass man nicht mehr weiterlesen möchte.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

Thomas Anz