Eine Philosophie mit Wölfen

Jacques Derridas Seminar „Das Tier und der Souverän I“ bietet neue Einblicke in die Arbeit des französischen Philosophen

Von Andreas JackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Jacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Spur, die Jacques Derrida in Bezug auf seine Seminare gelegt hat, wird erst in den nächsten Jahren dem deutschsprachigen Leser zugänglich werden. Damit erhält sein Denken einen neuen Auftrieb, eine andere Weite und vor allem viele neue Zugänge. Auch wenn „Das Tier und der Souverän I“ im anglo-amerikanischen Raum bereits seit 2008 vorliegt und das darin transkribierte Seminar schon im Dezember 2001 begann, so liefert seine deutschsprachige Übersetzung einen guten Anlass dafür, Derridas Ideen hierzulande besser und auf eine andere Weise kennenzulernen.

Einen Einblick bekommt man von nun an, wie der französische Philosoph seine Seminare konzipiert hat und mit welcher Intensität und Sorgfalt sie aufgezogen wurden. Das Buch bildet dabei den Auftakt zu einer neuen Reihe von Publikationen, die es sich zur verdienstvollen Aufgabe gemacht hat, alle seine Seminare in den nächsten Jahren zu publizieren. Derrida selbst sprach in der Vorrede von „Politik der Freundschaft“ (1994) von der Möglichkeit, auch seine Lehrveranstaltungen zu veröffentlichen. Doch dies ist zu Lebzeiten bis auf einige sporadische Auszüge nie geschehen. Der Auftakt wird nun mit seinem letzten Seminar gemacht. Es gab tatsächlich gute Gründe gerade dieses letzte Seminar zuerst herauszubringen: Derrida versucht darin anfangs immer wieder den gerade vorausgegangen 11. September zu thematisieren. Sein eigentliches Thema ist aber eine vorsichtige und differenzierte Dekonstruktion des politischen Begriffs von Souveränität. Und dabei kommen ihm viele Bezüge zu Tieren, hier insbesondere den Wölfen, zu Hilfe. Fast eine ganze Sitzung spricht er beispielsweise über die vielen Konnotationen des Wortes bêtise (Dummheit), welches dem französischen Wort bête (Tier) auf eine geradezu infame Weise nahe steht.

Was bedeutet aber nun diese verspätete Einsicht in seine Seminarmitschriften für die Rezeption dieses Philosophen? Sicherlich evoziert sie keine Präsenz, sondern eher eine Wiederkehr. Derrida, der behauptet hat, er habe nach seinem Tod entweder gar keine Leser mehr oder aber gar sehr viele, betritt darin erneut die universitäre Bühne. Aber warum ist hier überhaupt die Rede von einer Wiederkehr? Waren Derridas Spuren denn zuvor schon ganz erloschen?

Die Antwort darauf kann nur gegeben werden, wenn ein kurzer und fokussierter Seitenblick geworfen wird. Denn innerhalb der linken politischen Philosophie der Gegenwart werden Derridas Ansätze schon jetzt gerne totgesprochen. Das liegt vor allem daran, dass vielen Denkern sein ethisches Hauptanliegen, die Demokratie und das Verhältnis zum Anderen, gar nicht behagt. Nach der Finanzkrise gilt dies umso mehr. Beispielsweise beerdigte Peter Sloterdijk (etwas vorschnell) Derridas Philosophie (zusammen mit der von Ernst Bloch) in seinen Tagebüchern. Ein ‚Urwort‘ wie Gerechtigkeit mit einem Modewort wie Dekonstruktion zu identifizieren, wie Derrida es tatsächlich getan hat, sei unhaltbar und daher hätte Derrida schon jetzt innerhalb des universitären Diskurses keine starke Position mehr. Und enthält Sloterdijks historisch gut ausstaffierte Abrechnung mit der revolutionären Tradition „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (2014), in der er immer wieder zeigt, dass die vorrevolutionäre Situation bereits die revolutionäre Situation ist (und es so eigentlich gar keiner blutigen Revolution bedurft hätte) nicht auch einen Eklat gegen Derrida?

Denn dieser hatte im Unterschied zu Sloterdijk darauf insistiert, dass die Französische Revolution und der darin enthaltene Königsmord trotz aller Kritik eine neue politische Dimension eröffnet habe, die den Souverän in eine andere Position gebracht habe und deshalb keineswegs einfach als ein unnötiger und brutaler Sturm im Wasserglas abgetan werden könne. Um diesen Aspekt zu erhellen, kann und muss man sein letztes Seminar lesen, das immer wieder die Position des Souveräns in vielfältiger Weise aufzeigt und hinterfragt. Sloterdijks konservative Haltung bietet dagegen nur royalistische Königstreue an und befindet sich damit tatsächlich gar nicht mehr auf der Höhe unserer Zeit.

Ein anderer Totengräber, der allerdings etwas behutsamer vorgeht, ist der unfreiwillige Universalerbe des Poststrukturalismus (und zugleich ihr populärster Exeget) Slavoj Žižek. Er hat im Unterschied zu Sloterdijks arroganter Ignoranz längst erkannt, dass Derridas Philosophie einen weitreichenden Einfluss auf den politischen Diskurs genommen hat und arbeitet diesen beispielsweise in seinem Buch „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ (2011) pointiert ab. Er überholt Derrida, anders als Sloterdijk, auch nicht von rechts, sondern von links. Sein Ansatz wiegt dabei noch schwerer. Zu Recht lehnt es Žižek ab, selbst als ein Poststrukturalist bezeichnet zu werden; eine Geste, die er sich mit vielen Poststrukturalisten teilt, die aber in seinem Fall mehr Berechtigung hat. Denn sein Argumentationsstil ist eher hegelianisch und dialektisch geprägt und er tritt das Erbe eines gewissen Jacques Lacan an, der sich selbst zu einer Art König innerhalb einer patriarchal codierten Psychoanalyse stilisiert hat. Für Žižek haben Mao und Josef Stalin dialektisch versagt, weil sie nicht fähig waren, die Negation der Negation zu denken. Und das ist ein typischer Vorwurf, der sich ganz innerhalb der Dialektik aufhält. Sucht Žižek selbst nicht stets nach den provokativen Verkehrungen oder Umkehrungen der öffentlichen Meinung?

Sein Stil ist deshalb so anstrengend und ermüdend, weil er, so würde Derrida ihm wohl vorhalten, sich immer in binären Oppositionspaaren artikuliert und dabei stets polemisch genau das Gegenteil von dem zeigen will, was die allgemeine Ansicht zu einem Thema ist. So hat beispielsweise nicht John F. Kennedy die Kubakrise beendet, sondern Nikita Chruschtschow, so ist Stalin nicht nur ein Massenmörder, sondern auch ein Moralist und so weiter. Žižek wirft natürlich auch anders als Sloterdijk den Revolutionären keine Überschreitung in einen rechtsfreien Raum vor, sondern beteuert genau umgekehrt, dass sie häufig in ihren Aktionen noch nicht weit genug gegangen sind. Unter einem ödipalen Gesichtspunkt ergibt sich so folgendes Raster: Der revolutionäre Königsmord, den Sloterdijk ablehnt und bedauert, will von Žižek erneut und gründlicher erst noch begangen werden. Deshalb beginnt seine Studie über den Marxismus auch mit dem wuchtigen Szenario einer ödipalen Kastrationsfantasie, die als Motiv seines eigenen politischen Handelns dargestellt wird. Weder Vermeidung noch Erwartung oder Wiederholung der Revolution sind jedoch angemessen.

Derrida will weder den Souverän (noch einmal) eliminieren noch seine Position anerkennen. Er will die Souveränität (wie Jahre zuvor schon den Phallus bei Lacan) teilen. Er will sie verteilen, und damit ist die Souveränität im strengen Sinne keine Souveränität mehr. Die Souveränität steht der Demokratie im Weg, und doch geht es nicht darum, zu einer Nicht-Souveränität zu gelangen. Eine Aufarbeitung in Oppositionspaaren ist keine Dekonstruktion. Derrida sucht nach der „Via Regia“ zur Kenntnisnahme der nicht gewussten Strukturen des Politischen. Der Weg dieser Analyse ist eben nochmals der traditionelle Weg zum König, zum Souverän, um seine vielfach schillernden Erbschaften zu übersehen und ihre Wirkungen zu verfolgen. Der souveräne Nationalstaat ist eine dieser Erbschaften, die eine europäische und auch weltweite Gemeinschaft belasten. 

„Das Tier und der Souverän“ ist durch zahlreiche Relationen gekennzeichnet. Das erste Verhältnis, das Derrida nennt, ist ein geschlechtliches: „la bête et le souverain“. Das Tier ist demnach feminin, der Souverän maskulin. Bei Thomas Hobbes ist es der Vater, der innerhalb der Familie der Souverän ist und die Macht ausübt. Eine der auffälligsten Relationen ist vielleicht der Widerspruch zwischen der Definition des Aristoteles, der den Menschen als ein politisches Tier (Zoon politikon) bestimmt hat, und der von Thomas Hobbes, der den absolutistischen Staat selbst als eine Animalität, als ein Seeungeheuer, als einen Leviathan bestimmt hat. Bei Aristoteles zeigt sich der Mensch, weil er politisch ist, souverän über das Tier in sich, das er beherrscht und domestiziert hat. Bei Hobbes hingegen übernimmt das Tier als Staat über den Menschen die souveräne Herrschaft. Es handelt sich um einen unvereinbaren Widerspruch. Doch in beiden Fällen hat das Tier die Funktion, das Poltische zu definieren.

In einem der spannendsten Kommentare nimmt Derrida seinen stets kritischen Dialog mit den Texten Jacques Lacans wieder auf. Und hier, wie an vielen anderen Stellen, wirkt das Seminar wie eine Fortsetzung seines Vortrags beziehungsweise seiner Textsammlung „Das Tier, das also ich bin“ (2010), von dem ein Teil in diesem Zusammenhang sogar direkt, wenngleich auch modifiziert, wieder auftaucht. Schon in dem früheren Text hatte Derrida gezeigt, wie sehr Lacans Denken in den Termini der klassischen Philosophie verwurzelt ist, wenn er beispielsweise behauptet, dass das Tier nicht antwortet (sondern reagiert). Oder wenn er erklärt, das Tier verfüge nicht über die Möglichkeit, vorzutäuschen, dass es vortäuscht. Es kann nicht lügen. In einem spannenden Wortspiel (und davon wimmelt es nur so in Derridas Seminaren) dekonstruiert Derrida Lacans Behauptung: „Dem Tier (animal) sind das Böse (mal), die Lüge, das Trügerische unbekannt“. Viele solcher Wortassoziationen versucht die Übersetzung aufzufangen und für den deutschen Leser nachvollziehbar zu machen. Das Tier kennt nach Lacan auch den Tod nicht. Es bleibt daher stets im Bereich des Imaginären. Es partizipiert nicht an der Noblesse einer symbolischen Ordnung, zu der ihm (weil es die Kastration und den Mangel nicht kennt) der Eintritt verwehrt bleibt.

Hier nun wird, weil Lacan das Verbrechen, die Kriminalität ganz auf eine zwischenmenschliche, ebenbildliche Sache reduziert, nochmals der gesamte Horizont der von Derrida dagegengesetzten Ethik wirksam. Wenn die Kriminalität sich nur gegen meinesgleichen richtet, bleibt das Tier davon ausgeschlossen. Lacan entfaltet dabei die humanistische Logik, deren enge Grenzen für Derrida problematisch sind. Das Töten eines Säuglings wird als Grausamkeit empfunden und strafrechtlich verfolgt. Das Töten von Milliarden von Tieren hingegen wird als eine Notwendigkeit betrachtet und keine Sekunde lang auch nur ein Gedanke an einen möglichen Genozid verschwendet.

Das Tier wird also abgespalten von der humanistischen Ethik. Es verfügt bei Lacan weder über die Sprache, noch unterhält es eine Beziehung zum Gesetz. Es kann nicht kriminell sein und man kann gegen es nicht kriminell sein. Man darf es zwar nicht foltern, aber niemand verbietet einem, es zu töten. Und es hat selbstverständlich nach Lacan auch kein Unterbewusstsein (es sei denn, es käme dazu durch den Menschen). Es kann also nicht in die Analyse gehen (wobei therapeutischen Interventionen bei Haustieren unterdessen durchaus vorgenommen werden). Derrida analysiert sehr scharf, dass die Trennung Lacans zwischen einem Imaginären, aus dem das Tier niemals heraustritt, und einem Symbolischen, das damit die alleinige Domäne des Menschlichen bliebe, eine der unzähligen Versuche darstelle, das Trauma, welches Darwins Evolutionstheorie ausgelöst hat, auszulöschen. Das Tier bliebe für immer allein mit dem animalischen Trieb, mit der Sexualität, mit dem imaginären Köderspiel verbunden.

Es kann nicht grausam oder dumm sein. Und hier zeigt sich Derridas Interpretation als eine, die ganz gegen die üblichen Interpretationsmuster gerichtet ist. Eine Interpretation, bei der sich Gilles Deleuze und Lacan treffen. Denn das Tier-Werden bei Deleuze betrifft, genauso wie das Dumm-Werden, nur den Menschen. In dieser Perspektive nähert sich Deleuze Lacan wieder an. Und das ironische Lachen, welches mit seiner Kritik an der Psychoanalyse einhergeht, währt für Derrida nur einen kurzen Moment, wenn dabei das Freudsche Unbewusste oder die nietzscheanische Vielfalt der Kräfte im Ich bei der Konfrontation zwischen Mensch und Tier kurzerhand von Deleuze vergessen werden.

Alles dies basiert immer (noch) auf traditionellen Zuschreibungen, die in ihren Abgrenzungen den Menschen aufgrund der Sprache letztendlich als Souverän gegenüber der in ihm steckenden Animalität verstanden wissen wollen. Das Tier reagiert, aber nur der Mensch antwortet. Darin besteht nach Lacan (neben Deleuze und vielen anderen) seine Überlegenheit. Und Derrida versucht diese Grenze zwischen Mensch und Tier in seinem Seminar nicht aufzuheben, sondern immer wieder ihre Starrheit infrage zu stellen. Er hört die Texte auf diesen Aspekt hin ab und fördert so eine interessante, neue Perspektive zutage. 

Das gesamte Seminar ist grundlegend für die gerade auch an den deutschen Universitäten aus dem Boden sprießenden Human-Animal-Studies. Derridas Pionierarbeit für diesen Forschungszweig ist vermutlich sogar wesentlicher als es einst Judith Butlers Buch „Gender Trouble“ (1990) für die Gender Studies gewesen sein mag. Denn seine Thesen sind stabiler, und weil sie uns noch nicht erreicht haben, auch weitreichender. Der zweite Teil des Seminars erscheint leider erst im Frühjahr 2016. Bis dahin wird man sich noch mit der englischen Version begnügen müssen.

Titelbild

Jacques Derrida: Das Tier und der Souverän I. Seminar 2001–2002.
Herausgegeben von Peter Engelmann, Michel Lisse, Marie-Luise Mallet und Ginette Michaud.
Übersetzt von Markus Sedlaczek.
Passagen Verlag, Wien 2015.
536 Seiten, 60,00 EUR.
ISBN-13: 9783709201343

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