Der Dichterjurist als Produkt einer fruchtbaren „déformation professionelle“

Überlegungen zum literarischen Schaffen Ferdinand von Schirachs und Bernhard Schlinks

Von Franziska PlettenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Plettenberg

Als Ferdinand von Schirach 2009 seinen ersten Erzählband „Verbrechen“ veröffentlicht, steht für Literaturkritik und Publikum gleichermaßen die juristische Tätigkeit des frisch gebackenen Autors im Zentrum des Interesses. Kein Autorenporträt, kein Interview kommt umhin, auf die langjährige Berufspraxis Schirachs hinzuweisen, der seit 1994 als Anwalt in Berlin beschäftigt ist.[1] Ausschlaggebend dafür sind wohl die Geschichten selbst, die auf wahren Fällen aus dem Erfahrungsschatz des Strafverteidigers beruhen sollen und deren Wahrheitsgehalt immer wieder Anlass zu Spekulationen bietet. Auch die Nachfolgewerke, namentlich der zweite Erzählband „Schuld“ sowie die beiden Romane „Der Fall Collini“ und „Tabu“, folgen dem Weg des überaus erfolgreichen Erstlings und halten am Erfolgsrezept des schreibenden Anwalts fest: Das Verbrechen, das ebenso plötzlich wie unerwartet in die alltägliche Normalität einbricht und die Abgründe des menschlichen Daseins offenkundig werden lässt, wird gepaart mit im Justizapparat tätigen Protagonisten; im Hintergrund steht dabei stets ein erkennbar juristisch gebildeter Erzähler, der das unerhörte Geschehen der Tat und die verschlungenen Wege des formalen Rechts für den laienhaften Leser fassbar und verständlich werden lässt.

Nicht derart offenkundig, aber dennoch in erstaunlicher Kontinuität tritt das Recht als Bestandteil des erzählerischen Werks bei Bernhard Schlink in Erscheinung. Die Trilogie um den Privatdetektiv Selb macht eine gleichsam im Windschatten des Rechtssystems agierende Figur zum Zentrum ihrer Handlung. Der Welterfolg „Der Vorleser“ nähert sich der schwierigen Frage deutscher Vergangenheitsschuld durch die Augen des auf seine erste Liebeserfahrung zurückblickenden Michael Berg, der nach einem Studium der Rechtswissenschaften den Beruf des Rechtshistorikers wählt. Die Hauptfigur des jüngst erschienenen Romans „Die Frau auf der Treppe“, die sich auf die Suche nach einer längst verloren geglaubten Jugendliebe macht, entspricht dem Idealbild des philisterhaften Wirtschaftsanwalts. Doch nicht nur die Figuren zeugen von einer Affinität zum juristischen Diskurs, auch in Gattung und Erzählstruktur lässt sich diese nachweisen. Schlinks literarisches Debüt erfolgt im Genre des Kriminalromans und obgleich die späteren Werke sich im Sinne einer erzählerischen Neuorientierung von dieser Gattung entfernen, verblassen „die Muster kriminalistischer Erzähltechnik“[2] doch nie ganz. Ebenso wie Schirach ist Schlink ausgebildeter, gar habilitierter Jurist, der auf eine beachtliche wissenschaftliche Karriere als Rechtsgelehrter, unter anderem als Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität Berlin[3], zurückblicken kann.

Eine juristische Prägung tritt im Werk beider Autoren mithin derart unverkennbar hervor, dass sich die Frage nach dem Zusammenhang dieses beinahe omnipräsenten Themenfeldes und ihrer beruflichen Tätigkeit förmlich aufzwingt: Sind die beiden Autoren, die zugleich aktiv in Rechtsdingen wirken, nur sehr bedingt fähig, ihren juristischen Habitus auf dem Feld der Literatur abzulegen? Geraten sie so auch im Angesicht der anders gearteten, schriftstellerischen Herausforderung unweigerlich in gewohnte Bahnen des Denkens und an den von Berufs wegen vertrauten Gegenstand? Hat sich im Falle dieser beiden Dichterjuristen also – und diese Überlegung darf keineswegs als auf den Dichterjuristen per se übertragbare Denkfigur verstanden werden – „die Eigenart des Berufs auf die gesamte Lebenswirklichkeit“[4] übertragen, sodass nun „die Ausprägung von Einseitigkeiten im Erleben und Verhalten eines Individuums“ zu beobachten ist? Zeichnen sich Schlink und Schirach durch ein „über die Exekution der Berufsrolle hinausgehendes Element des ‚inneren‘ Berufshandelns“ aus? Oder kurz gesagt: Ist ihr Drang, sich literarisch mit dem Recht auseinanderzusetzen, als Zeichen einer déformation professionelle zu werten?

Obgleich bereits der eingangs angeführte Werkabriss illustriert, dass das nach Wohlhaupter für den Dichterjuristen prägende „Bekenntnis zur Rechtsidee[5] im Falle beider Autoren außer Frage steht, soll an dieser Stelle hinsichtlich der literarischen Auseinandersetzung mit dem Recht eine grundlegend verschiedenartige Herangehensweise bei Schirach und Schlink herausgestellt werden. Während vor allem die Erzählbände des Ersteren „in fast jeder Zeile den realitätsfixierten und praxiserprobten Rechtsanwalt erkennen lassen“[6] und das Verbrechen respektive die Bewältigung seiner Folgen auch thematisch dessen Texte dominieren, hinterlässt die beruflich eher theoretisch geartete Betrachtung des Rechts im Werk Schlinks entsprechend feinere Spuren, indem etwa im Rahmen der Selb-Reihe das Schema Kriminalroman im Sinne kritischer Erkenntnis instrumentalisiert wird und dabei weniger die Denkaufgabe des Detektivs und Lesers im Vordergrund steht als vielmehr eine Tiefendimension, die der Verwirrung klarer Rollenmuster und gängiger Rechtsauffassungen gewidmet ist.[7] Hinzu kommen in nahezu jedem Text dem Rechtsapparat zumeist angehörende, zumindest aber nahestehende Nebenfiguren, deren Erscheinen auf den ersten Blick zufällig, auf den zweiten Blick auffällig anmutet. Zwar wird das Recht also nicht derart prominent verhandelt wie bei Schirach, doch ist seine das Werk konsequent durchziehende Präsenz nicht von der Hand zu weisen. Demgemäß gilt für Schlink ebenso wie für Schirach, dass der Jurist dem Schriftsteller eine unverkennbare Prägung verleiht, die auf Züge eines über die Professionsgrenzen hinaus wirksamen, gleichsam verinnerlichten Berufsdenkens hindeutet.

In diesem Sinne mag wohl auch die Einschätzung Sandro Moraldos kaum verwundern: „Nicht von ungefähr lässt sich in den literarischen Werken des Juristen Bernhard Schlink eine Vorliebe für Verbrechen, Verstrickung, Flucht, Verrat, Recht und Unrecht ausmachen.“[8] Gleiches betont Manuel Bauer für den schreibenden Strafverteidiger Schirach: „Das Juristische ist für ihn kein untergeordnetes oder gar kontingentes Thema“.[9] Dabei geht Bauer sogar noch einen Schritt weiter, wenn er keinen Zweifel daran lässt, dass in Schirachs Karriere der Dichter dem Juristen nachgeordnet und dieser als Schriftsteller in einem eminenten Sinne Jurist sei.[10]

Diese in erster Linie auf das erzählerische Werk Bezug nehmende Feststellung kann auch für die essayistischen Schriften der beiden Autoren bestätigt werden. So hat Schirach seit 2010 für den „Spiegel“ zahlreiche Essays, darunter auch die Kolumne „Einspruch“, verfasst, in denen er Stellung zu tagesaktuellen juristischen oder moralischen Problemen nimmt und die in dem 2014 erschienenen Band „Die Würde ist antastbar“ versammelt sind. Zudem zeugen zahlreiche Interviews und Autorenporträts von Schirachs gleichsam über Nacht gewachsenem Status als gefragter Kommentator des deutschen Justizsystems, der zwischen der kühlen Abwägung des Strafrechts und dem emotionalen „gesunden Menschenverstand“ vermittelt. Im Falle Schlinks stehen rechtshistorisch gefärbte Abhandlungen, zu nennen unter anderem der Band „Vergangenheitsschuld. Beiträge zu einem deutschen Thema“ aus dem Jahre 2007, neben Überlegungen zum eigenen Literaturschaffen, so etwa „Gedanken über das Schreiben“ von 2011. Im Sinne der hier zu prüfenden These einer déformation professionelle des Dichterjuristen ist hinsichtlich des zweiten Werks von besonderem Interesse, dass diese dezidiert der Schriftstellerei gewidmete Darstellung unwillkürlich an mehreren Stellen Ansätze rechtstheoretischer Reflexionen aufscheinen lässt, indem wiederholt erzähltechnische Problemlagen anhand juristischer Phänomene anschaulich gemacht werden. Selbstredend bleibt dabei auch das Verhältnis von Literatur und Recht nicht unerwähnt. 

Nahezu idealtypisch wird die komplexe, wie selbstverständlich anmutende Verschränkung des literarischen und des juristischen Wissensbereichs in Schlinks Aufsatz „Heimat als Utopie“ illustriert. Das kurze Stück reflektiert über Fragen nach Heimat, Heimatlosigkeit und Exil. Die Überlegungen nehmen dabei ihren Anfang in einer zeitaktuellen Beobachtung des Autors, nämlich der gefühlten Heimatlosigkeit vieler Bürger der neuen Bundesländer. Sodann wandert der Blick über persönliche ebenso wie historische Erfahrungen hin zu allgemein-definitorischen und kontemporären Diskursen und lässt auch die literarische Perspektive nicht außer Acht, wenn an ausgewählten Beispielen gezeigt wird, was Exil für den Schriftsteller bedeutet und welchen Stellenwert der Begriff der Heimat in der deutschen Dichtung innehat. Am Ende der Gedankenfolge steht das völkerrechtliche Problem des Rechts auf Heimat, dessen Paradoxie durch einen pragmatischen Lösungsansatz aufzuheben versucht wird. Der Autor selbst versäumt es nicht, auf ebendiese Entwicklung der Argumentation explizit hinzuweisen:

„Meine Überlegungen sind, obwohl sie nicht darauf gezielt haben, in ein rechtliches Ergebnis gemündet. Weil das Recht mein Beruf ist? Weil ich in meinem Leben so oft nach dem juristischen Dreh- und Angelpunkt eines Sachverhalts gesucht habe, daß ich es auch hier nicht lassen kann, obwohl mein Interesse am Sachverhalt Heimat eigentlich ein literarisches ist?“[11]

Schlinks selbstkritische Beobachtung, sein ursprünglich literarisches Interesse an den Begriffen Heimat und Exil münde unwillkürlich, aber zwangsläufig in ein rechtliches Ergebnis und fügt sich nahtlos in das bislang gezeichnete Bild der hier zu diagnostizierenden déformation professionelle ein. Dabei klingt im ersten Satz ein althergebrachter Topos der Schriftstellerei an, den bereits Ovid in seinen „Tristia“ als Legitimation seines dichterischen Schaffens herangezogen hat. Dort heißt es: „Rede, vom Versmaß frei, sucht’ ich zu schreiben hinfort. Aber es fügte von selbst das Gedicht sich zu passenden Maßen: was ich zu schreiben begann, wurde von selber zum Vers.“[12] Ovid berichtet an dieser Stelle von der Unausweichlichkeit seines Dichterdaseins, da alles, was er zu sagen versuche zu Versen gerate – vermeintlich ohne sein Zutun. Auf diese Weise begegnet er den strengen Bedenken des Vaters ob dieser ‚brotlosen Kunst‘ durch den Verweis auf eine göttliche Berufung, der er sich nicht zu widersetzen weiß. Ähnlich verfährt Schlink, wenn er darauf hinweist, dass ein beliebiges Thema, dem er sich mit einem literarischen Interesse nähert, früher oder später von selbst unter juristische Betrachtungsmaßstäbe gerate. Wie die Folge rhetorischer Fragen zeigt, begründet Schlink dieses Phänomen jedoch nicht in Anlehnung an den antiken Dichter durch ein ominöses „Juristentalent“ oder gar eine göttliche Berufung, sondern wandelt den Topos um und verleiht ihm ein zeitgemäßeres Gewand: Das Recht ist durch eine langjährige berufliche Beschäftigung auf dem juristischen Feld schlichtweg zu einem Lebensinhalt, einer Gewohnheit, einem stets inhärenten Blickwinkel für ihn geworden, dem er sich nicht entziehen kann – die Anzeichen des bereits mehrfach beschworenen verinnerlichten Berufshandelns sind offensichtlich.

Nur am Rande sei hier bemerkt, dass auch der Kontext dieser Selbstaussage bei Schlink dem antiken Vorbild gleicht: Ovid bekennt sich im Versmaß des elegischen Distichons zu seiner Berufung als Dichter, Schlink rechtfertigt im Stile einer vor dem urteilenden Leser gehaltenen Apologie (und im Rahmen einer in Teilen rechtstheoretischen Abhandlung) die Wendung seiner Gedanken ins Juristische. Der selbstreferenzielle Gestus ist in beiden Fällen wohl nicht zufällig gewählt.

Nun darf auch der jener Textstelle folgende Passus nicht unterschlagen werden, der die Eigenleistung hinsichtlich der Zusammenführung von Gegenstand und Blickwinkel ein Stück weit zurücknimmt („Der Zusammenhang zwischen Heimat und Recht ist tiefer, als daß meine Person ihn stiften könnte“), doch tut diese Relativierung der eigentlichen These einer déformation professionelle insofern keinen Abbruch, als hier in erster Linie der typische Verlauf der Gedankenführung bei Schlink interessiert. Es ist nämlich keineswegs von Bedeutung, ob Schlink einen völlig neuen, innovativen Zusammenhang stiftet, der im Vorfeld nicht bestanden hätte. Allein die Tatsache, dass er im Rahmen eines primär literarisch interessierten Essays auf rechtliche Fragen zu sprechen kommt und dadurch gleichsam eine Brücke zwischen Literatur und Recht schlägt[13], ist ausschlaggebend und kann als evidenter Beleg seiner überaus starken, in andere Gedankenfelder ausstrahlenden juristischen Berufsprägung gewertet werden. Abermals ist somit in dieser kleinen Schrift der Jurist Schlink im Literaten Schlink deutlich auszumachen. 

Eine wertvolle Ergänzung der bisherigen Überlegungen kann ein Blick auf die Figuren Schirachs und Schlinks liefern, denn überraschenderweise zeigen sich nicht nur die Autoren selbst, sondern auch ihre Protagonisten von einer Art déformation professionelle betroffen. So findet das Phänomen in dem Roman „Selbs Betrug“ eine explizite Erwähnung, wenn der Ich-Erzähler Selb in Bezug auf einen befreundeten Journalisten sagt:

„Ich ließ Peschkalek seine mediengenügsame Vorstellung von Wirklichkeit. Ich trug ihm auch nicht nach, daß er in meiner Geschichte nur seine Story gesehen hatte. Er bat mich für seine déformation professionelle um Verständnis, fragte besorgt nach meinem Befinden und sah mich wieder wie ein freundlicher Seelöwe an. Nein, ich nahm ihm nichts übel.“[14]

Obgleich das verinnerlichte Berufshandeln hier lediglich als Problem einer Nebenfigur zur Sprache kommt, weist auch der Protagonist Selb als Personifikation des klassischen Privatdetektivs, der im Rahmen seiner Ermittlertätigkeit nicht immer vollkommen systemkonform vorgeht, bisweilen eigene Rechtsmaßstäbe vertritt und im äußersten Fall zu unorthodoxen Mitteln greift, um die aus den Fugen geratene Ordnung wiederherzustellen, entsprechende Züge auf: Von Zeit zu Zeit trägt er berufliche Angewohnheiten ins Private, so etwa seine deduktive Denkweise, der viel Detektivisches anhaftet, oder die Vorliebe für das Spiel mit verschiedenen Identitäten. Zugleich ist er in einigen Belangen nicht mehr fähig, die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem aufrechtzuerhalten, sodass er in jedem seiner Fälle ein wenig zu persönlich involviert erscheint – bisweilen vernachlässigt Selb sein Privatleben zugunsten einer Ermittlung gänzlich, überredet Freunde zur Unterstützung seiner Ermittlungen oder verstrickt sich in amourösen Interessen gegenüber seinen Klientinnen. Zu Beginn des letzten Bandes der Trilogie erleidet er einen Herzinfarkt, dessen Ernsthaftigkeit er jedoch aufgrund der Strapazen eines neuen Falles nicht einsehen will. Wie nicht anders zu erwarten, folgt daher ein zweiter Infarkt.

Gleichermaßen nachhaltig ist Hauptkommissar Nägelsbach, ein langjähriger Freund Selbs, der mit diesem durch ein stummes Übereinkommen des gegenseitigen Informationsaustausches verbunden ist, durch seinen Beruf geprägt. Auch er trägt Fälle, die er in seiner Funktion als leitender Polizist bearbeiten muss, in sein privates Umfeld, indem er mit seiner Ehefrau en detail und stets nach der Devise „Für kinderlose Ehepaare gibt’s keine Dienstgeheimnisse“[15] verschiedenste Ermittlungsansätze berät. Zugleich blickt er mit Schrecken auf die immer näher rückende Pensionierung. Das Bild wird komplettiert durch seine ebenso skurril wie folgerichtig erscheinende private Leidenschaft, aus Streichhölzern Baudenkmale nachzubilden – Akribie und Präzision der Polizeiarbeit finden hier ihre freizeitgemäße Entsprechung.  

Und auch in Schlinks jüngst veröffentlichtem Roman „Die Frau auf der Treppe“ begegnet dem Leser in der Gestalt des Ich-Erzählers eine durch ihre juristische Berufstätigkeit nachhaltig geprägte Figur. Dabei erscheint es fast, als ob der Autor die Figur des namenlos bleibenden Wirtschaftsanwalts bewusst nutze, um ein Kompendium all jener dem Juristen klischeehaft nachgesagten Eigenschaften zu erstellen: Stets um Ordnung und Sachlichkeit bemüht und nie um eine juristische Belehrung verlegen, zeichnet er sich durch eine kühle und pragmatisch orientierte Rationalität im Beruf genauso wie im Privatleben aus, verhält sich seinen Mitmenschen gegenüber korrekt, aber wenig mitfühlend, und verfügt über den obligatorisch hohen Arbeitsethos. Der Beruf verleiht ihm seine primäre und über allem stehende Identität, wie diese Selbstcharakterisierung zeigt:

„Ich nehme alles ernst, manchmal wohl zu ernst, bin in allem genau, manchmal wohl zu genau, verstehe immer wieder nicht, warum Menschen in schwierigen Situationen emotional werden, statt die Probleme rational zu lösen, und finde, dass es oft Kleinigkeiten sind, über die Menschen stolpern und an denen sie scheitern. Aber ich bin weder spitzfindig noch nachtragend noch geizig. Kleinlich? Lächerlich.“[16]

Sogar seinen Kindern gegenüber vermag er seine Berufsrolle nicht abzulegen: „Manchmal habe ich meinen Kindern Geschichten erzählt. […] Aber was sollten wir miteinander reden, ein Rechtsanwalt um die vierzig und ein Mädchen und zwei Jungen zwischen neun und zwölf?“[17] In seiner Umwelt stößt seine derart geformte Persönlichkeit auf wenig Gegenliebe – zunächst wird er als die „Drecksarbeit“ großer Unternehmen verrichtender Lakai verlacht, später dann für seine individuellen Rechtsmaßstäbe, die jeglicher Empathie entbehren, verurteilt: „Du willst gar nicht verstehen, du willst verurteilen. […] Ist es das, was für dich zählt? […] Die Summe deines Lebens kann doch nicht dein Freispruch sein!“[18] Der Vorwurf mündet in die für diese Untersuchung programmatische Frage: „Wird man so, wenn man ein Leben lang mit dem Recht zu tun hat?“ – der Gedanke an eine déformation professionelle liegt auch hier nicht fern.

Der Roman belässt es jedoch nicht bei dieser Zeichnung einer zuvorderst negativ wahrgenommenen Berufsprägung, sondern entwirft zudem das Szenario einer Abwendung von ebendieser. Der Erzähler trifft nach beinahe vier Jahrzehnten erneut auf jene Frau, deren Abweisung er als junger Mann nur mühsam verkraften konnte, die nun aber schwer erkrankt dem Tode entgegenblickt. Er beginnt, sein bisheriges Leben zu überdenken und seine grundlegenden Wesenszüge infrage zu stellen. In ungeahnter Fürsorge pflegt er seine Jugendliebe bis zu ihrem Ende, das den vordem so abgeklärten Juristen seine angestammte Rolle erstmals komplett vergessen lässt. Nach ihrem Tod ist er gewillt, einen Neuanfang fernab seiner Lebensroutinen zu wagen, dessen Verwirklichung jedoch nur vage angedeutet und somit der Imagination des Lesers überlassen wird.

Ein in weitaus geringerem Maße negativ konnotiertes verinnerlichtes Berufshandeln verkörpert der Erzähler der beiden Storybände Ferdinand von Schirachs, dem gleichwohl eine gewisse déformation professionelle nachgesagt werden kann. Als Figur der Erzählung ebenso wie in seiner Funktion als Vermittler des Geschehens an den Leser tritt er vornehmlich als Anwalt respektive Verteidiger auf. Sofort fällt ins Auge, dass der Erzähler überaus selten persönliche Gedanken oder private Information über seine Person preisgibt und nahezu gänzlich hinter seiner beruflichen Funktion zurücktritt. Weicht er aber von dieser Norm ab und lässt unverhofft doch eine persönliche Regung erkennbar werden, so ist diese stets von großer Bedeutung für die Story und das Bild des Erzählers im Ganzen: In „Notwehr“[19] beispielsweise wirft er ein zuvor an einen Mandanten verliehenes Hemd in den Abfall, als dieser sich im Nachhinein als professioneller Auftragsmörder herausstellt. Aufgrund ihrer Singularität wird diese Geste des Erzählers nicht nur zum Zeichen einer Distanzierung vom Täter, sondern zum Symbol des Zwiespalts zwischen Moral und Beruf schlechthin.

Mehr noch als die Aussparung privater Details interessiert aber im vorliegenden Kontext das spezifische Erzählverhalten der Anwaltsfigur. Schirachs Erzähltechnik ist geprägt durch den präzise geplanten und effektiv eingesetzten Wechsel der Erzählsituation und entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als geschickt verschleierte Parteinahme, gar „perfide Suggestivtechnik“[20], die der Leserlenkung dient. Während die meisten Stories zunächst als „geradezu in homerisch helles Licht getaucht“[21] anmuteten, so Eilert anlässlich der Verleihung des Kleist-Preises an Schirach, werde doch nach einiger Zeit bewusst, dass die aus geradlinigen Handlungsverläufen in scharfer Kontur hervorgebrachten Charakterstudien auf einer überaus einseitig beleuchteten und lediglich von einem Standpunkt aus betrachteten Figurenzeichnung beruhten, die bewusst Schattenseiten ausblende und positive Züge hervorhebe. Die daraus erwachsene Illusion, „Opfer wären selbst schuld, Täter vollzögen den Willen des Lesers“, wertet Eilert als einen Beleg für Schirachs parteiisches Erzählverfahren, das an seiner langjährigen Tätigkeit als Strafverteidiger geschult erscheine. Wie bereits angedeutet, ist der Erzähler also nie der unparteiische Vermittler des Geschehens, der er zu sein vorgibt, sondern immer zugleich ein seiner Berufsrolle über die Grenzen der Profession hinaus verhafteter Verteidiger seiner Figuren.

Nachdem nun in beiden Fällen zahlreiche Indizien zusammengetragen wurden, die als Beleg einer déformation professionelle der Dichterjuristen Schlink und Schirach angeführt werden können, sollen schließlich die Autoren selbst zu Wort kommen, um zu ihrer Position auf den Feldern des Rechts und der Literatur Stellung nehmen und etwaige Intentionen und Beweggründe für die von ihnen unternommene Zusammenführung beider Felder anführen zu können. Schlink berichtet in seinen „Gedanken über das Schreiben“, entstanden aus den Heidelberger Poetikvorlesungen von 2010, wie er schon in jungen Jahren geahnt habe, „dass das Studium des Rechts mehr bietet als das Studium von Artikeln, Paragraphen und Gerichtsentscheidungen, dass die Welt des Rechts ein reiches, intellektuelles Universum ist und Philosophie, Geschichte und Soziologie einschließt.“[22] Dass nun die Literatur ein überaus geeigneter Ort ist, um sich diesem reichen Universum an Wissen fernab von Wissenschaft und Justizapparat zu nähern, bezeugt Schlink, wenn er den Unterschied zwischen Rechtswissenschaft und Literatur herausstellt:

„Als sei ich, einmal Professor für die Dogmatik des öffentlichen Rechts, immer auf Systematik, auf Vollständigkeit und Stimmigkeit verpflichtet. Liebe ich das Schreiben nicht auch, weil die Welt der Literatur anders als die Welt der Wissenschaft ist? Weil in ihr Konstellationen unvollständig und unstimmig und Probleme ungelöst bleiben dürfen und Widerspruch, Ambivalenz und Vagheit einen legitimen Platz haben?“[23]

Die literarische Auseinandersetzung mit dem Recht entbindet nach Schlink also vom strengen Korsett der Systematik und Vollständigkeit. Der Mehrwert des Literarischen liegt für ihn darin, sich dem Recht in einer freieren, nicht notwendigerweise geordneten Form zu nähern und dabei Wahrheiten des Rechts aus einer unbekannten Perspektive zu erkunden. Ebendieser Einschätzung entspricht auch Schlinks Antwort auf die Frage, wieso ein anerkannter Staatsrechtslehrer Krimis schreibe: „Es kommt mehreres zusammen: die Lust am Fabulieren, die Lust am Schreiben […] und außerdem das Interesse an Wahrheiten, auch Wahrheiten über das Recht, denen als Ausdruck die Erzählung gemäßer ist als die wissenschaftliche Abhandlung.“[24]

Dieses Interesse an Wahrheiten steht auch im Zentrum der poetologischen Überlegungen Ferdinand von Schirachs, der die Wahrheit in Literatur und Strafprozess zu einem primären Erkenntnisziel seines Gesamtwerks erhoben hat. Bezüglich des immer wieder erfragten Wahrheitsgehalts seiner Geschichten liefert Schirach in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Kleist-Preises die zunächst paradox anmutende Antwort: „ja, die Geschichten sind ganz und gar wahr. Aber sie sind nicht wahr, weil sie der Realität entsprechen, sie sind wahr, weil sie Literatur sind.“[25] Schirach legt also als Wahrheitskriterium nicht die Faktualität, sondern die Literarizität des Erzählten an[26] und führt mit Blick auf die Verdichtungsleistung der Literatur weiter aus:

„Stellen Sie sich eine vier Meter lange Akte vor, tausende Seiten Polizeiberichte, Vernehmungsprotokolle, Gutachten, Tatortfotos. Stellen Sie sich siebzig Stunden Gerichtsverfahren vor. Und dann nehmen Sie eine Kurzgeschichte. Was ist nun die Wahrheit? Was die Wirklichkeit? Eine kaum 15-seitige Geschichte oder eine vier Meter lange Akte?“[27]

In der Literatur ebenso wie im Strafprozess, so Schirach weiter, entstehe Wahrheit nur durch Formalisierung. Dabei entspreche das Gehirn des Schriftstellers in seiner Auswahlleistung dem Filter der Strafprozessordnung, da es eine formalisierte literarische (respektive strafprozessuale) Wahrheit hervorbringe, die jedoch nicht die Wirklichkeit sei.

Wo Schlink also eher auf die Offenheit und Vagheit der Literatur vertraut, um bisher unbekannten Wahrheiten des Rechts nachzugehen, sieht Schirach, dessen Poetik sich in herausragendem Maße durch eine Analogie zu juristischen Verfahren auszeichnet, vielmehr die Verdichtungsleistung der Literatur als vorrangigen Grund, um sich erzählend mit dem Recht auseinanderzusetzen. Sein Interesse gilt jener durch die strukturierende Hand des Schriftstellers erschaffenen formalisierten Wahrheit, die qua Vereinfachung die Wahrheit des Verbrechens und letztlich des Menschen aus der Unüberschaubarkeit einer meterlangen Akte hervortreten lässt und so das enorme Erkundungspotential der Literatur unter Beweis stellt. 

Hinzu kommt für ihn jedoch auch das rechtskritische Potential der Literatur. Die Formalisierung nämlich, so fruchtbar sie im Falle der literarischen Wahrheit für Zwecke der Erkundung des Allgemeinmenschlichen im Verbrechen auch sein möge, bringt in den Augen Schirachs hinsichtlich der strafprozessualen Wahrheit ebenso Schattenseiten mit sich. Anhand einzelner Geschichten führt er daher vor, dass die mithilfe des Rechtsapparats ermittelte prozessuale Wahrheit als Basis der juristischen Verurteilung von Straftätern mitunter von der Realität des Verbrechens abweichen kann, und nutzt ebendiese Grenzfälle, in denen eine tiefe Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit aufbricht, zur Bewusstmachung allgemeiner Unzulänglichkeiten des Rechtssystems sowie zur Freisetzung eines gewissen affektiven Potenzials beim Leser.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die eingangs aufgestellte These einer déformation professionelle der Dichterjuristen Ferdinand von Schirach und Bernhard Schlink in einer differenzierten Weise bewertet werden muss. Zweifelsohne gilt, dass beide Autoren sich durch eine unverkennbare juristische Prägung auszeichnen und diese auch bei ihrem Wirken im Bereich der Literatur nicht verleugnen können oder mehr noch wollen. Fasst man den Begriff der déformation professionelle dabei aber im Sinne einer gänzlich negativ konnotierten Betriebsblindheit auf, bei der unreflektiert Züge des beruflichen Handelns auf andere Bereiche übertragen werden und diese in nachteiliger Weise beeinflussen, so ist dies in jedem Fall zu kurz gegriffen. Vielmehr ist es sinnvoll, den Begriff seines pejorativen Beiklangs zu entledigen und ihn in einem positiven Sinne umzudeuten, wenn er im Zusammenhang mit Schlink und Schirach verwendet werden soll.

Das Recht stellt für beide Autoren demnach in gewisser Weise ein Lebensthema dar, auf das sie stets zurückkommen, denn nur schwerlich können sie das Feld der Literatur betreten, ohne zugleich das Recht – und sei es in einer Randnotiz – zu erwähnen. Wie aufgezeigt, nutzen sie dabei die Verbindung von Literatur und Recht auf vielfach produktive Weise – so etwa zum Zwecke der Perspektiverweiterung bei der essayistischen Diskussion gesellschaftlich relevanter Themen oder als fruchtbares Motiv zur Gestaltung eindrücklicher Figuren innerhalb des Erzählwerks. Überdies nehmen Schlink und Schirach die Verquickung beider Bereich als eine Chance wahr, sich ihrem Lebensthema mithilfe der Literatur auf eine neue, den individuellen Intentionen gemäß freiere respektive dichtere Weise zu nähern. Sie entsprechen mithin so gar nicht mehr dem von Wohlhaupter charakterisierten Dichterjuristen, „der sich mit seinem Juristenberuf mehr oder minder gut abfindet“[28], sondern leisten ganz im Gegenteil einen wichtigen Beitrag zur Interferenz und gegenseitigen Erhellung zweier Wissensbereiche, von denen schon Jacob Grimm behauptete, dass sie „miteinander aus einem bette aufgestanden waren“[29].

Und letztlich sind die Unterschiede zwischen Recht und Literatur doch um ein Vielfaches geringer, als man vielleicht meinen mag, denn „[d]er Anwalt und der Schriftsteller erzählen Geschichten, vor Gericht und in Büchern werden Menschen beschrieben.“[30]

[1] Vgl. Jürgen Nelles: Ferdinand von Schirach. In: Munzinger Online/KLG, 2012, verfügbar unter: http://www.munzinger.de/document/16000000764 (Stand 20.06.2015).

[2] Sandro Moraldo: Bernhard Schlink. In: Munzinger Online/KLG, 2009, verfügbar unter http://www.munzinger.de/document/16000000643 (Stand 20.06.2015).

[3] Vgl. ebd.  

[4] Andreas Wernet: Professioneller Habitus im Recht. Untersuchungen zur Professionalisierungsbedürftigkeit der Strafrechtspflege und zum Professionshabitus von Strafverteidigern. Berlin: Edition Sigma, 1997, S. 176.

[5] Eugen Wohlhaupter: Dichterjuristen. 3 Bände. Tübingen: Mohr, 1953-1957, Band 3, S. 455 [kursiv im Original].

[6] Nelles (2012). 

[7] Vgl. Moraldo (2009). 

[8] Ebd.

[9] Manuel Bauer: Der geschundene Mensch. Ferdinand von Schirach oder Der Anwalt als Erzähler. In: Nilges, Yvonne (Hrsg.): Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis. 21. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014, S. 281-296, S. 281.

[10] Vgl. ebd. S. 281-282.

[11] Bernhard Schlink: Heimat als Utopie. (8. Auflage) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2014, S. 46.

[12] Tristium IV, 10, 24-26. Im Original lautet die Passage: „scribere temptabam verba soluta modis. sponte sua carmen numeros veniebat ad aptos, et quod temptabam scribere versus erat“. Zitiert nach der Ausgabe: Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex Ponto. Lateinisch und deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler, 2001.

[13] Oder wie das Fazit des Aufsatzes prägnant zusammenfasst: „The place of Heimat – ich habe ihn in unserer Zeit und Welt gesucht, in unserer heutigen Lebenswelt und am Ende auch in unserer Welt des Rechts“ (S. 49).

[14] Bernhard Schlink: Selbs Betrug. Roman. Zürich: Diogenes, 1992, S. 274.

[15] Ebd. S. 228.

[16] Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe. Roman. Zürich: Diogenes, 2014, S. 201.

[17] Ebd. S. 176.

[18] Ebd. S. 96.

[19] Vgl. Ferdinand von Schirach: Verbrechen. Stories. (18. Auflage) München: Piper, 2010, S. 121-139.

[20] Bernd Eilert: Rede auf Ferdinand von Schirach zur Verleihung des Kleist-Preises 2010. In: Kleist-Jahrbuch 2011, S. 22-29, S. 26.

[21] Ebd. S. 24.

[22] Bernhard Schlink: Gedanken über das Schreiben. Heidelberger Poetikvorlesungen. Zürich: Diogenes, 2011, S. 22.

[23] Ebd. S. 54.

[24] JOH: Interview mit Bernhard Schlink. In: Kriminal Journal (1990), H. 3, S. 23-25. Zitiert nach Moraldo (2009). 

[25] Ferdinand von Schirach: Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2010. In: Kleist-Jahrbuch 2011, S. 30-33, S. 31.

[26] Vgl. Bauer (2014) S. 282.

[27] Schirach (2011) S. 31-32.

[28] Wohlhaupter (1953-1957) S. 406.

[29] Jacob Grimm: Von der Poesie im Recht. In: Ders.: Kleinere Schriften. 8 Bände. Berlin: Dümmler, 1864-1890, Band 6, S. 152-191, S. 153.

[30] Ferdinand von Schirach im Interview mit Annette Bosetti: „Schreiben kann süchtig machen“. In: Rheinische Post, 30.09.2014.