Die Mütterrechtlerin

Reinhold Lütgemeier-Davin und Kerstin Wolff haben die bislang unveröffentlichten Lebenserinnerungen der „frauenbewegten Pazifistin“ Helene Stöcker hervorragend ediert

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie wohl kaum jemand sonst zu Beginn des 20. Jahrhunderts widmete die Frauenrechtlerin Helene Stöcker ihr Leben und Wirken den Rechten der Mütter, wobei ihr Engagement insbesondere den Ledigen unter ihnen galt. Denn gerade sie wurden um und nach 1900 von Gesetz und Gesellschaft auf besonders infame Weise diskriminiert. So rief Stöcker 1905 den Bund für Mutterschutz ins Leben, dessen Zeitschrift sie von 1908 bis 1932 herausgab. Spätestens seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzte sie sich in nicht geringerem Maße zudem für Frieden und Völkerverständigung ein. Von 1914 an engagierte sie sich in der Deutschen Friedensgesellschaft, nahm während und nach dem Krieg an diversen internationalen Frauenfriedens-Kongressen teil und gründete 1918 den Bund der Kriegsdienstgegner.

Vor einigen Jahren haben sich der Mitbegründer des Arbeitskreises historische Friedensforschung Reinhold Lütgemeier-Davin und die Forschungsreferentin des Archivs der deutschen Frauenbewegung Kerstin Wolff zusammengetan, um die unvollendeten und bislang unveröffentlichten Memoiren Stöckers zu edieren. Nun liegt das Ergebnis der Arbeit vor und es lässt sich sagen, dass sie Hervorragendes geleistet haben. Die HerausgeberInnen haben die Fragmente der Lebenserinnerungen in eine gut lesbare, meist chronologisch angeordnete Fassung gebracht. Der von ihnen gewählte „Mittelweg zwischen wissenschaftlich exakter Edition und einer gut zu lesenden Fassung für nicht primär wissenschaftlich interessierte Leserinnen und Leser“ erweist sich sowohl für die Forschung als auch das interessierte Publikum als gangbar. Beide werden sich dem Buch mit Gewinn widmen.

Den orthographisch überarbeiteten Fragmenten der Memoiren haben Lütgemeier-Davin und Wolff nicht nur etliche „ergänzende Quellen“ wie etwa Briefe und Publikationen Stöckers beigefügt, sondern all dies mit zahlreichen Fußnotenkommentierungen versehen, in denen sich etwa die Lebensdaten und andere wichtige Angaben zu erwähnten Personen nachlesen lassen. Anders als bei den Texten der Lebenserinnerungen, die Stöcker verschiedenen Sekretärinnen in die Schreibmaschine diktierte, haben die HerausgeberInnen die Originalorthographie der handschriftlichen Quellen unverändert beibehalten. Beschlossen wird der Band durch ein allerdings gelegentilch lückenhaftes Personen- und Ortsregister. So werden im Text zwar Platon (dort Plato) und Arthur Schopenhauer erwähnt, aber nicht im Register verzeichnet.

Die eigentlichen Lebenserinnerungen der 1943 im Alter von 83 Jahren verstorbene Autorin haben Lütgemeier-Davin und Wolff mit einer Einleitung und einem Nachwort umrahmt. Letzteres charakterisieren die HerausgeberInnen zutreffend als „Einordnung“. Sie erweist sich alleine schon aufgrund des fragmentarischen Charakters der Lebenserinnerungen als äußerst hilfreich. Vor allem aber kontextualisieren Lütgemeier-Davin und Wolff die Aussagen und Darstellungen Stöckers etwa zu Auseinandersetzungen innerhalb der Frauenbewegung überaus kenntnisreich. So machen sie deutlich, dass der „Zusammenhang zwischen einer zu reformierenden Ehe und der Frage nach der Abschaffung der Prostitution die damaligen Debatten bestimmte“. Nicht weniger wichtig ist auch ihre ausgewogene Darstellung des so gravierenden Streits, der im Bund für Mutterschutz zwischen Stöcker und Adele Schreiber tobte und 1910 seinen Höhepunkt fand. Zudem erörtern sie, ob der Bund tatsächlich eine „Organisation der Frauenbewegung“ war.

Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zeichnen die HerausgeberInnen den „erstaunlich schnellen“ Aufstieg der „überzeugten Vertreterin absoluter Gewaltfreiheit“ in der nationalen und internationalen Friedensbewegung nach. Dies ist besonders wichtig, da dieser Lebensabschnitt in Stöckers fragmentarischen Memoiren „fast vollständig fehlt“. Gleiches gilt für die von Stöcker wenig ausführlich geschilderte „Lebensgemeinschaft“ mit Bruno Springer, in und mit der ihr Versuch scheiterte, ihre „Liebes-Philosophie“ der Neuen Ethik zu leben. Diese war für ihre Gründerin „nicht nur ein Gedankenexperiment“ gewesen, „sondern eine Richtschnur, nach der sie versuchte, ihr Leben einzurichten“, gewesen. Doch kam es, wie die HerausgeberInnen begründet vermuten, zwischen Stöcker und Springer „wohl bereits im Ersten Weltkrieg zu ersten Spannungen“, die von Stöcker in den Memoiren allerdings stillschweigend übergangen werden. Damit, so analysieren die Herausgeberinnen, „folgt sie anderen schreibenden Frauen, die ebenfalls Konflikte mit dem Elternhaus beschrieben, zu den eigenen Ehemännern aber schwiegen“. Spätestens nach dem Ende des Krieges haben sich die ehemals Liebenden den HerausgeberInnen zufolge „immer mehr entfremdet“. Für Stöcker sei es fortan „undenkbar“ gewesen, „mit Enthusiasmus eine Mann-Frau-Beziehung zu propagieren“, da „sie nicht in der Lage war, diese selbst zu leben“.

Helene Stöcker lässt ihre Lebensbeschreibung mit einem „Abriss“ ihrer Kindheit und Jugend beginnen, in dem sie von ihrer Zeit im Elternhaus erzählt. Ihr feministisches ‚Erweckungserlebnis‘ erfährt sie den „Lebenserinnerungen“ zufolge als Heranwachsende bei der Lektüre von Johann Wolfgang von Goethes „Faust“. Die „Gretchentragödie“ habe ihr mit „ungeheurer Wucht“ einen „erste Einblick in die Gewalt und Tragik der Geschlechterbeziehungen“ geboten. Die Lektüre trägt entscheidend zu ihrem späteren „Kampf um bessere Lebensbedingungen und für eine soziale Anerkennung außerehelicher Mütter und ihrer Kinder“ bei. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gilt ihr erstes frauenrechtliches Engagement jedoch zunächst der „Freigabe des Frauenstudiums“. Bald darauf wird Stöcker selbst die neu errungene Möglichkeit nutzen. Ihre Studien „richteten sich im Wesentlichen auf Literaturgeschichte, Philosophie und Nationalökonomie“ und führten sie nach Glasgow, Bern, München und Berlin. Die bekanntlich um 1900 leuchtende Isarmetropole beschreibt auch Stöcker als einen „Ort voller Lebensfreude und Anregung“. Doch habe sie „von den vielgerühmten Künstlerfesten“ zwar „das Interessanteste berichten“ gehört, nur selbst habe sie davon „wenig miterlebt“. Zu sehr war sie offenbar mit ihrem Studium beschäftigt, das sie 1901 mit einer Promotion abschloss.

Schon wenige Seiten nach Beginn ihrer Lebenserinnerungen kommt Stöcker auf einen „merkwürdigen Schriftsteller“ zu sprechen. Es ist der Geistesheroe ihres Lebens: Friedrich Nietzsche. Schon in jungen Jahren beschäftigte sie der Zarathustra, von dem sie, wie so viele ihrer ZeitgenossInnen, regelrecht berauscht war, wenn ihr auch „der vierte Teil stets manche Misstöne zu enthalten schien“. Noch in den um 1940 entstandenen Lebenserinnerungen überhöht sie den „erlauchten Ahnherrn“ der Psychoanalyse mit dem „prophetischen Instinkt“ als „unter den Menschen unserer Zeit einzige Erscheinung“ und preist ihn als den „leidenschaftlichsten Moralist unseres Zeitalters“, was angesichts Nietzsches wenig menschenfreundlicher Unterteilung der Ethik in Herren- und Sklavenmoral oder Sentenzen, die besagen, „Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntnis beinahe zum Lachen“ oder „was fällt, das soll man auch noch stoßen“, mehr als nur gelinde Verwunderung hervorruft. Auch ist ganz und gar nicht nachvollziehbar, dass Stöcker Nietzsches Schriften ein „völliges Freisein von Fanatismus“ entnimmt und sein vermeintliches „Absehen von Drohungen für den Fall, das man ihm nicht glaubt“, lobt. Tatsächlich lassen sich Nietzsches Schriften auch ganz anders lesen. Vor allem aber können Menschen, die ihn persönlich kannten, ein anderes Lied davon singen, wie Nietzsche mit seinen ‚abgefallenen Proselyten‘ umging, nachdem er feststellen musste, dass sie ihm „nicht glaubten“. Die Radikalfeministin Helene von Druskowitz etwa oder auch Lou Andreas-Salomé, die nicht nur als junge Frau mit Friedrich Nietzsche sondern auch in späteren Jahren mit Helene Stöcker bekannt gewesen war. Da hätte sich die Autorin so manches erzählen lassen können. Vielleicht hat sie das sogar, aber über den Inhalt der zahlreichen, „anregenden und ergiebigen Diskussionen“, die beide Frauen im Laufe ihrer bis zum Tode Salomés andauernden „freundschaftliche[n] Verbindung“ führten, schweigt sich die Verfasserin der „Lebenserinnerungen“ aus. Ihre zwar nicht gerade verständnisvolle, aber doch exkulpierend vorgetragene Kritik an dem auf dem Gebiet der Philosophie irrlichternden Altphilologen, beschränkt sich auf „einzelne Punkte, wo ich […] Nietzsche auf Grund meines eigenen Wesens ablehnen oder widersprechen musste“. Das sind namentlich seine Haltung zum „Sozialismus“ und sein „Verhältnis zu den Frauen und zur Frauenfrage“. Denn natürlich konnte Stöcker die vehemente Frauenfeindlichkeit des Philosophen mit dem Hammer nicht entgehen.

1894 lernte Stöcker Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche kennen. Als ihr die „zierliche Gestalt“ bei der ersten Begegnung entgegentrat, habe sie sofort begriffen, „wieso Nietzsche von den Frauen keine besonders hohe Meinung hatte“. Das klingt, als wolle sie zu einer gehörigen Kritik ausholen. Doch dem ist mit Nichten so. Zwar preist sie ‚das Lama‘, wie Nietzsche seine Schwester spöttisch zu nennen pflegte, nicht eben in den höchsten Tönen, doch versucht sie „ihren Fehlern und Tugenden gerecht zu werden“. Dass sie die Waage dabei zugunsten der Tugenden neigt, ist zwar erwart-, nicht aber nachvollziehbar. Vor allem lobt Stöcker Förster-Nietzsches „Hingabe und Leistung“ für das Nietzsche-Archiv und deren vermeintlich gute Arbeit als Nachlassverwalterin und Herausgeberin der Werke ihres Bruders. „In Fragen der Weltanschauung“ habe sie allerdings „ein Meer von Elisabeth Förster-Nietzsches Auffassung getrennt“. „Verhängnisvoll“ sei gewesen, wie sich Elisabeth Förster-Nietzsche „in eifersüchtiger Liebe zu ihrem Bruder in Nietzsches Beziehungen zu Dr. Paul Rée und Lou Andreas-Salomé eingemischt hat“. Nun ließe sich vermuten, Salomé habe im Laufe der 20-jährigen Freundschaft mit Stöcker angelegentlich darüber gesprochen oder gar ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert. Doch erklärt die Autorin der Lebenserinnerungen, Salomé habe sich ihr gegenüber nie dazu geäußert.

Selbstverständlich lernte Stöcker im Laufe ihres jahrzehntelangen feministischen und pazifistischen Engagements so manche herausragende Persönlichkeit beider Bewegungen kennen. Allerdings äußert sie sich nicht allzu häufig zu ihnen und charakterisiert sie meistens nur kurz. Die österreichische Frauenrechtlerin Rosa Mayreder etwa lobt sie eher knapp als „eine der klarsten Denkerinnen“, die zu den „bedeutendsten Frauen“ gehört habe, „die – während meines Lebens jedenfalls – zum Problem der Frau Beiträge geleistet haben“, wie sie missverständlich formuliert. Maria Lischnewska wird als „eine der wertvollsten Kräfte der Bewegung“ hervorgehoben. Die feministische Schriftstellerin Ruth Bré wiederum sei „ein gutmeinender, aber völlig undisziplinierter Mensch“ gewesen und habe „sehr anregende, wenn auch mit Vorsicht zu genießende Bücher zum Problem der außerehelichen Mutter geschrieben“. Minna Cauer wird von Stöcker als „sehr kluge, gewandte Frau“ (an-)erkannt, die „in sehr geschickter und erfolgreicher Weise versucht hatte, die Interessen der Frauen zu vertreten“. Allerdings habe sie „alles, was mit dem erotischen Leben zusammenhing […] verdrängt“. Ein aus dem Munde der Begründerin der Neuen Ethik vernichtender Vorwurf.

Ika Freudenberg gilt ihr immerhin noch als „eine der sympathischeren Typen jener Jahre“, habe sie doch „ein verständnisvolleres Wesen“ gehabt „als manche der strengen und einseitigen Typen der Frauenbewegung jener Zeit“. Damit zielt Stöcker auf das lesbische Paar Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg, beide herausragende Persönlichkeiten des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung. Stöcker zufolge „gehörten“ sie „zu jenem Typus von Frauen, die in der Verbindung mit einem Mann gewissermaßen einen Abfall von den Idealen der Frauenbewegung sahen“. Fast könnte der Eindruck entstehen, Stöcker habe an einer Phobie gegenüber gleichgeschlechtlicher Sexualität gelitten. Zumindest aber scheint Stöcker lesbische Liebe und Sexualität nicht gelten zu lassen. Stets ist bei ihr nur von der heterosexuellen zwischen Mann und Frau die Rede. So zählt sie Helene Lange ohne Erwähnung ihrer Liebes- und Lebenspartnerschaft mit Gertrud Bäumer denn auch zu „jenen Typen“ damaliger Feministinnen, „die sich mit dem Schicksal der Einsamkeit – wie geborene Nonnen – herb abgefunden hatten“.  Sophie Goudstikker wiederum wird unverfänglich als „Freundin“ ihrer Geliebten Ika Freudenberg vorgestellt.

Fällt Stöckers Urteil über die bekanntermaßen lesbischen Frauen innerhalb der Frauenbewegung schon negativ aus, so apostrophiert sie ihre Mitstreiterin in der Führung der Bewegung für Mutterschutz und Sexualreform Adele Schreiber gar als „moderne Lady Macbeth“ und erteilt ihr die Höchststrafe, indem sie ihre Kontrahentin nicht einmal namentlich nennt. Schreiber muss sich damit abfinden, als „Frau N. N.“ zu firmieren, mit der Stöcker einen „wilden tödlichen Kampf“ ausgefochten habe. Dabei lässt die Autorin der „Lebenserinnerungen“ kein gutes Haar an Schreiber. Sie sei von „einem Fanatismus des Ehrgeizes“ getrieben gewesen, „der keinen Humor, keine Güte, keine Anerkennung auch der Gaben des Gegners kannte“, und habe ihr „die tiefste Demütigung meines Lebens“ zugefügt. Aufklärung um die Gründe und Hintergründe der Auseinandersetzung, die mit dem Begriff Zerwürfnis nur unzureichend charakterisiert ist, bieten die HerausgeberInnen in der „Einordnung“.

Eine ähnlich harsche oder auch nur abgemilderte Selbstkritik aufgrund etwaigen eigenen Fehlverhaltens gegenüber MitstreiterInnen oder eine grundlegende Kritik an früheren eigenen, inzwischen aber als falsch erkannten Auffassungen darf man von Stöcker nicht erwarten. Lütgemeier-Davin und Wolff merken denn auch völlig zu Recht an, „dass Stöcker in ihren Erinnerungen keine Zweifel beschreibt. Im Gegenteil“.

Stöcker ändert oder relativiert in den Memoiren nicht eine ihrer Positionen und Auffassungen früherer Jahre, sondern macht sich noch einmal mit den Argumenten von ehedem für ihre Thesen der Verbindung von „Liebe, Ehe und Mutterschaft“ stark, zu der immerhin „geistige Entwicklung und Bestätigung“ hinzutreten müssen, um auch Frauen ein „volles menschliches Dasein“ zu ermöglichen. Angesichts ihres dezidierten Eintretens gegen jegliche Diskriminierung lediger Mutterschaft, mag die scheinbar unauflösliche, von Stöcker jedenfalls aber wiederholt betonte Triade „Liebe, Ehe und Mutterschaft“ etwas irritieren. Doch stellt sie klar, dass „das Problem der außerehelichen Mutterschaft“ – das in dieser Formulierung notabene auch die Mutterschaft von Witwen beinhaltet – „stets nur ein Teilproblem aus dem größeren Fragenkomplex“ sei: „Nämlich, wie sich für die geistige und unabhängige Frau ihr Verhältnis zu Mann und Kind gestalten solle, wie sich die geistige Unabhängigkeit mit der Liebe, die ja immer einen großen Teil seelischer Abhängigkeit mit sich bringt, vereinigen ließe.“ So propagiert Stöcker eine zweite Triade, denn zu Mutter und Kind tritt der Vater. Denn nach Stöckers Überzeugung „hat jedes Kind Anspruch auf beide Elternteile“, da es „aus psychologischen Gründen sowohl des Einflusses des männlichen wie des weiblichen Prinzips“ brauche. Mit Hilfe „verständnisvollen Zusammenwirkens von Mann und Frau“ können Stöcker zufolge auch „die sozial- und individual-ethischen Probleme am besten gelöst werden. Aus dieser Überzeugung heraus erwuchs meine Forderung nach immer festerer Verbindung zwischen Mann und Frau – zur Schaffung höherer Lebensformen auf allen Gebieten.“ Eben darum, so erklärt sie explizit, gründete sie die Bewegung für Mutterschutz und Sexualreform. Also nicht etwa ‚nur‘ um der ledigen Mütter und ihrer Kinder Willen. Mit dem Hohen Lied, das sie auf das mit Kindern gesegnete heterosexuelle Paar anstimmt, korrespondiert denn auch, dass sie lesbische Liebe einfach nicht zur Kenntnis nehmen kann.

Weit knapper als ihr feministisches Engagement stellt Stöcker ihr pazifistisches dar. Dies hat seine Ursache darin, dass ihre Arbeit in der Friedensbewegung zwar auch in die Zeit des Ersten Weltkrieges, vor allem aber in die der Weimarer Republik fiel, die in Stöckers Fragmenten ihrer „Lebenserinnerungen“ kaum vorkommt, wofür die HerausgeberInnen wiederum eine ebenso unerwartete wie plausible Begründung bieten. Ganz absent ist Stöckers friedenspolitisches Engagement jedoch auch in eigenen „Lebenserinnerungen“ nicht. Denn immerhin enthalten sie ein recht umfängliches Kriegstagebuch der Jahre 1914/15 und die 1917 mit Bruno Springer geführte „Kriegs-Korrespondenz“, den sie – obwohl unverheiratet – gerne als „mein Mann“ apostrophiert.

Stöcker selbst hegte starke Zweifel daran, ob die Arbeit an ihren Memoiren überhaupt sinnvoll sei. Niemand, so fürchtete sie, werde sich in einer Zeit, in der die Nationalsozialisten in Deutschland eine Tyrannei errichtet hatten, sich anschickten die Welt zu erobern und begannen, ein nie gekanntes Völkerschlachten vom Zaun zu brechen, für die Erinnerungen einer exilierten Frauenrechtlerin und Pazifistin interessieren, deren Visionen einer Neuen Ethik längst zerstoben waren. Angesichts der wahrhaft verzweifelten Situation, in der Stöcker sich in den Jahren um 1940 auch persönlich befand, sind diese Zweifel durchaus nachvollziehbar.

Nun, ein halbes Jahrhundert später, aber werden ihre Lebenserinnerungen zumindest in der Forschung auf reges Interesse stoßen. Denn es versteht sich, dass der vorliegende Band für weitere Erkundungen der Frauenbewegung um 1900 und der Friedensbewegung im und nach dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Quelle bildet.

Kein Bild

Helene Stöcker: Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin.
Herausgegeben von Reinhold Lütgemeier-Davin und Kerstin Wolff.
L‘HOMME Archiv 5.
Böhlau Verlag, Köln 2015.
390 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783412224660

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch