Licht und Schatten

Marion Poschmann liest aus ihrem Roman "Die Sonnenposition"

Von Ina WestermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ina Westermann

Am frühen Abend des 23. April sind in den vorbereiteten Stuhlreihen des Casinos, einem Veranstaltungssaal auf dem Campus der Universität Essen, kaum noch Plätze frei. Bevor die Abschlusslesung der Poet(in) in residence im Sommersemester 2015, Marion Poschmann beginnen kann, muss umgebaut, die Bestuhlung aufgestockt werden, sodass alle Literaturinteressierten einen Platz finden.

Nachdem Poschmann in den vergangenen Tagen über die Konzeption und den Wert von „Raum“, „Zeit“ und „Ich“ in ihrem Werk referiert hat, ist die Neugierde auf ihr literarisches Schaffen unter den Anwesenden groß. Die gebürtige Essenerin hat bereits in ihren theoretischen Vorträgen gezeigt, dass ihr Schreiben von Bildern und Eindrücken geprägt und inspiriert ist, entsprechend anschaulich und detailreich sind ihre Ausführungen. Die Präzision der Sprache, gepaart mit ihrer angenehmen, humorvollen und einladenden Art sichert ihr am Donnerstag die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Publikums, während sie Auszüge aus ihrem aktuellen Roman Die Sonnenposition liest. 

Der Roman steht, wie der Titel verrät, ganz im Zeichen der Lichtmetapher. Der Erzähler, Altfried Janich, hat als Psychiater in einem ehemaligen Schloss im Osten Deutschlands die ‚Sonnenposition’ inne. Um ihn kreisen die Patienten, er versucht Licht in das Dunkel ihrer Geschichten zu bringen. Doch die Schattenseiten der Patientenseele können naturgemäß von der Warte der Lichtquelle aus nicht erkannt werden. Also begibt sich auch Janich gleichsam zwischen die Schatten. Tagsüber beschreibt er seinen Psychiatriealltag, nachts wandelt er durch das zerfallende Schloss und gibt sich seinen assoziativen Erinnerungen hin. Die Romanhandlung setzt ein mit der Beerdigung von Janichs Jugendfreund Odilo, einem arroganten Eigenbrötler, der zeitlebens bei seiner Mutter wohnte und sich am liebsten mit der Arbeit in seinem Biolabor beschäftigte, wo er Mäuse zum Leuchten brachte. Nach seinem Tod muss Janich feststellen, dass er seinen Freund zu Lebzeiten nie richtig gekannt hat. So findet der Erzähler erst nachträglich heraus, dass Odilo ein Verhältnis mit Janichs Schwester, Mila, hatte. Janich versucht, durch das Imaginieren gemeinsamer Reisen von Mila und Odilo, diese Lücke nachträglich mit Leben zu füllen. Auch durch seine Erinnerungen an die einzige Leidenschaft, die er mit Odilo teilte, das Jagen von sogenannten Erlkönigen, will Janich seinem Jugendfreund auf die Spur kommen. Doch ebenso wie der Erlkönig oder die nach der literarischen Figur benannten camouflierten Autoprototypen, welche die beiden einst verfolgten, ist er schwer zu fassen, entzieht er sich regelrecht dem Blick.

Nicht nur die Lebensläufe der Patienten oder des Jugendfreundes Odilo werden thematisiert. Auch die Bedeutung der Zeitgeschichte für den einzelnen Menschen ist ein wiederkehrendes Motiv des Romans. Die Patienten der Psychiatrie sind fast ausnahmslos Opfer ihrer Zeit. Sie leiden unter der Traumatisierung durch Kriegsereignisse, die Armut der Nachkriegsjahre oder den Zusammenbruch der Sowjetunion. Es sind vor allem Orte, an denen diese Geschichtlichkeit aufgehoben ist, allen voran das Ostschloss. In seiner Entwicklung vom prunkvollen Barockschloss zum Kriegslazarett, zum Gefangenenlager, schließlich zur zerfallenden Psychiatrie, spiegelt das Schloss mit seinen bröckelnden Wandgemälden die Turbulenzen der deutschen Vergangenheit wider. Janichs Familiengeschichte wird über die Erinnerung an die Tapeten verschiedener Orte seiner Kindheit heraufbeschworen. Sie ist eng verknüpft mit der kollektiven Erinnerung an die NS-Zeit. Altfrieds Vater und dessen Schwester Sidonia wurden nach Kriegsende aus dem ehemaligen Ostpreußen vertrieben. Jahre später reist die Tante mit ihrem Neffen in die alte Heimat, um dort ein Kreuz für ihre verstorbenen Eltern zu errichten.

Das Licht und die Sonne stehen als Schlüsselmetaphern des Romans für den Versuch der Aufklärung, des Durchleuchtens, des Sehens. Doch mindestens ebenso wichtig sind der Autorin die Schattenseiten, die Flächen, an welche die Vernunft nicht heranreicht. In ihrer Lesung betont Marion Poschmann, dass es ihr wesentlich darum ging, die schmale Grenze von Normalität und Wahnsinn zu erkunden und den Moment zu beschreiben, in dem das eine in das andere umschlägt. Durch das Schattenmotiv sind die einzelnen Handlungsstränge auf vielschichtige Weise miteinander verknüpft. Der Roman ist ein komplexes, virtuos komponiertes Werk, dessen sprachliche Qualität allein das Lesen zu einer Freude macht. Marion Poschmanns Sprache zeichnet sich durch eine präzise Bildlichkeit aus, die einzigartig und frei von Klischees ist. Jedes Wort ist wohl durchdacht, nichts ist überflüssig, nichts darf überlesen werden. An dieser dichten Sprache lässt sich auch die Lyrikerin Marion Poschmann erkennen. Doch gerade dort, wo das Herausfallen aus Vernunft und Normalität sichtbar wird, in den Fallgeschichten, wählt Poschmann mit Bedacht eine weniger bildreiche, sondern klare und analytische Sprache. Aus diesen Passagen liest sie vor dem Essener Publikum.

Die Lesung beginnt mit einer Einführung von Andreas Erb. Anders als in den bisherigen Vorträgen, spricht Poschmann nicht von einem Podium, sondern unvermittelt – und ohne Mikrofon – zu ihren Zuhörern. Die räumliche Nähe schafft eine gewisse Intimität, die durch die offene Art Poschmanns  und den häufigen Blickkontakt zum Publikum verstärkt wird. Für die Lesung hat die Autorin vier Passagen aus ihrem Roman ausgewählt: „Spiegelsaal“, „Demiurgenwahn“, „Ruhekissen“ und „Doppelgängergeschenke“. In „Spiegelsaal“ lernen wir zunächst den Protagonisten, Altfried Janich, und seine Wirkungsstätte, die psychiatrische Anstalt, kennen, um uns dann über verschiedene Fallgeschichten seinem Berufsalltag und seinen Patienten zu nähern. Da ist zum Beispiel Herr P., ein „Wendeopfer“, der, nachdem er seinen Job verloren hat, panisch vor seinen Nachbarn zu verheimlichen versucht, dass er nun tagsüber Zuhause ist. Oder der Modellbauer Friedhelm Gehrken, der nach dem Tod seiner Frau beginnt eine Tropfsteinhöhle möglichst originalgetreu aus Streichhölzern nachzubauen, bis er dieses Modell am Ende selbst bewohnen kann. Die Menschen in den Fallbeispielen wirken oft hilflos und gefangen in ihrem verzweifelten Bemühen, in beängstigenden Situationen Normalität zu wahren, um ihr gewohntes Leben nicht zu verlieren. Das von Poschmann als „bedrückend“ beschriebene Fallbeispiel „Ruhekissen“ zeigt dies eindrucksvoll. Oliver Weichhals leidet in seinem eingeengten Leben mit Frau und zwei Söhnen stark unter dem Verlust der Kontrolle über den eigenen Alltag und versucht vergeblich jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Er ignoriert (bewusst) die Probleme in seiner Ehe und seinem Leben. Seine Verdrängungsimpuls ist so stark, dass ihm scheinbar entgeht, wie seine Frau immer wieder schwanger wird und die Neugeborenen tötet, sobald sie diese zur Welt gebracht hat.

Ein viel weniger bedrückendes Beispiel für den Versuch, mit den eigenen Dämonen und Eigenheiten ein ‚normales‘ Leben zu führen, zeichnet Marion Poschmann in dem letzten Fallbeispiel der Lesung: „Doppelgängergeschenke“. Ein Mann, der die Halbwertszeit verschiedenster Gegenstände fürchtet und deshalb alles mehrfach besitzen muss, sorgt sich, dass seine Freundin ihm nicht die richtige Kaffeemaschine schenken könnte. Er wagt es nicht, sich zwei identische Maschinen zu wünschen und so ist er darauf angewiesen, dass sie genau das gleiche Modell kauft, das er schon vorsorglich im Keller verstaut hat. In der humoristischen Auflösung der Geschichte zeigt sich, dass Marion Poschmann verschiedene Bühnen bespielen kann, über unterschiedliche emotionale Register gleichermaßen kunstvoll verfügt.

Alle vorgestellten Geschichten und Menschen sind eindrucksvoll und hinterlassen das Gefühl von Nähe zu den Charakteren und ihren Problemen. Die Stimmung der vorgestellten Passagen, manchmal rührend, oft bedrückend, überträgt sich durch Poschmanns klare Sprache sowie ihre offene und direkte Art des Lesens auf das Publikum. Die Entscheidung, lediglich Fallbeispiele vorzustellen, wird von der Autorin mit Bezug auf die eher theoretischen Vorlesungen begründet. So komplettiert die Lesung nicht nur die Woche, sondern zeichnet auch ein vollständigeres Bild von Marion Poschmanns Arbeit. Es wird deutlich, dass sowohl Freunde von modernen Erzählstilen, als auch Leser, die es lieber etwas traditioneller mögen, bei der Lektüre ihres Romans auf ihre Kosten kommen können.

Als die Zuschauer nach der Lesung das Casino verlassen, scheint noch die Sonne. Marion Poschmanns Lesung aus ihrem Roman Die Sonnenposition beeindruckt, so wie auch die theoretischen Annäherungen der Vorlesungen – was gewiss dazu führen mag, dass die Essener Poetikdozentin künftig den einen oder die andere Leser*in dazugewinnt.

Von Frederike Aubke, Julia Müller und Ina Westermann.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen