Studienbuch oder Literaturgeschichte?

Benedikt Jeßings pragmatisch konzipiertes Einführungswerk „Dramenanalyse“ orientiert sich praxisbezogen an den Bedürfnissen von Germanistik-Studierenden

Von Franz FromholzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Fromholzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem einige Jahre kaum Einführungen in die Dramenanalyse auf dem Studienliteratur-Buchmarkt angeboten wurden, gibt es inzwischen eine Reihe von Werken, die sich insbesondere an Germanistik-Studierende wenden. Benedikt Jeßings Grundlagen-Werk „Dramenanalyse“ setzt dabei in seiner Konzeption zwei inhaltliche Schwerpunkte: Zum einen werden dramenanalytische Grundbegriffe und Verfahren vorgestellt, andererseits literaturgeschichtliches und dramenpoetisches Überblickswissen vermittelt. In der Zusammenschau liegt ein studentisches Arbeitsbuch vor, das vielen Ansprüchen gerecht werden will: Sowohl prüfungsrelevantes Wissen als auch methodisches Rüstzeug für Seminararbeiten und Anstoß zu poetologischer und literaturtheoretischer Reflexion soll das gut 270 Seiten umfassende Taschenbuch bieten. Modellanalysen, tabellarisch aufbereitete Informationen, eine zurückhaltende Verwendung von Schwarz-Weiß-Abbildungen sowie die für den Universitätsbetrieb generell fragwürdigen Zusammenfassungen ganzer Kapitel in kurzen, komplexitätsreduzierten Textblöcken ermöglichen den konzentrierten Zugriff auf die Thematik.

Orientieren sich Konkurrenzwerke in der Gesamtkonzeption etwa stärker an gattungsspezifischen Kategorien oder dramenanalytischen Verfahren, so greift Jessing auf eine pragmatische Vorgehensweise zurück. Nach Kurzüberblicken zu Bühnenformen und Handlungsaufbau werden zentrale Analysekategorien einer literaturwissenschaftlichen Herangehensweise an die Dramentexte aufbereitet. Figurenanalyse, Kommunikationssituation, der Bühnenraum als Bedeutungsträger sowie verschiedene Techniken der theatralen Präsentation von Zeit stellt der Autor konzise vor. Es folgen praktische Vorschläge zur Anfertigung von Exzperten als Vorbereitung auf die selbständige studentische Dramenanalyse. Quantitative und qualitative Methoden führt Jeßing beispielhaft in anspruchsvollen Unterkapiteln zu „Carolus Stuardus“ von Andreas Gryphius vor. So gelingt ein überzeugender Brückenschlag vom ersten Exzerpt bis hin zur detailgenauen, wissenschaftlich fundierten Textanalyse.

Der zweite, weit schwerer gewichtete Teil des Bandes kann als eine Kurzgeschichte des deutschsprachigen Dramas mit antikem Vorspiel gelesen werden. Vom geistlichen Spiel des Mittelalters bis hin zur Postdramatik werden für den universitären Lehrbetrieb kanonische literaturgeschichtliche Wissensbestände (Schlesisches Trauerspiel, Bürgerliches Trauerspiel, Weimarer Klassizismus, Brecht et cetera) eingehend behandelt. Jeßing hat sich hier, wie die zahlreichen Verweise auf Manfred Braunecks grundlegendes Nachschlagewerk „Die Welt als Bühne“ zeigen, zu einem klaren Plädoyer für literaturgeschichtliche Belesenheit entschieden. Nicht immer ist dieses Überblickskapitel allerdings von teleologischen Prämissen freizusprechen. Wenn etwa der Weimarer Klassizismus eine Möglichkeit der Theaterrezeption modelliere, in der sich der Mensch als „unentfremdet“ ästhetisch erfahre, so hat Jeßing zweifellos zeitlich folgende Epochen fest im Blick. Ebenso will Jeßing auf orientierende Wertungen dezidiert nicht verzichten und bezeichnet etwa Kleists „Der zerbrochene Krug“ als „eines der besten Lustspiele der deutschen Literatur“. Solche Wertungen erscheinen dann allerdings etwas unvermittelt, stehen sie doch außerhalb des Kontexts einer Gattungsgeschichte der Komödie. Die Modellanalysen zu den jeweiligen historischen Kapiteln zeigen dafür implizit und gekonnt Methodenvielfalt auf: Goethes „Faust“ als Meta-Drama, Figurenrede im „Woyzeck“, sozialgeschichtliche Lesarten von Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ oder das politisch widerständige, epische Theater Bertolt Brechts können so in Schwerpunkten vorgestellt werden.

Die Zielsetzung des Arbeitsbuches, eine verlässliche Handreichung für die verschiedensten studentischen Bedürfnisse – von der Prüfungsvorbereitung über poetologisches Grundlagenwissen bis hin zur methodischen Vorgehensweise bei Seminararbeiten – zu liefern, lässt sich vor allem im Kompromisscharakter des literaturgeschichtlichen Überblicks erkennen. Denn dieser will nicht in schematisch präsentierte Arbeitstechniken der Analyse einüben, sondern einen methodisch reflektierten Zugang zu kanonischen Werken der deutschen Literatur aufzeigen. So stellt Jeßings „Dramenanalyse“ weniger studentische Textsorten vor (wie der Klappentext ankündigt), als dass sie in der kritischen Lektüre der vorgeschlagenen Modellinterpretationen die Studierenden zur selbständigen Analyse ermutigen möchte.

Titelbild

Benedikt Jeßing: Dramenanalyse. Eine Einführung.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2015.
274 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783503155514

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